Wirtschaft
anders denken.

Eine Frage der Bedürfnisse 

13.10.2017

Im Kapitalismus verfolgt Planung einen bestimmten Zweck – die Erzielung von Profit. Die Befriedigung von Bedürfnissen ist dazu nur ein Mittel, nicht der Zweck selbst. Vernünftig ist das nicht. / Ein Text aus dem Schwerpunkt »Planwirtschaft« der aktuellen OXI-Printausgabe.

Als Lenin sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit aller Gewalt daran machte, die Planwirtschaft einzuführen, verfolgten er und die Bolschewiki ein Ziel: die Marktwirtschaft, also der Kapitalismus, sollte verschwinden – langsam aber sicher.

Gemeint war mit diesem Systemwechsel im strengen Sinne: kein Privateigentum mehr und Schluss mit der Produktion durch Privatindividuen, die ihre Ware unabhängig voneinander auf den Markt bringen, sie dort in der Hoffnung verkaufen, Profit zu machen. Geld als abstraktester Ausdruck von privatem Eigentum, so hat Lenin seinen Marx gelesen, gehöre zur Marktwirtschaft unweigerlich dazu – und würde mit deren Absterben also verschwinden.

Die Geschichte verlief dann bekanntermaßen anders. Bis heute aber sind »Plan« und »Markt« die Zentralwörter zweier unvereinbarer Ökonomien geblieben. Illustriert mit Verweisen auf das realsozialistische Scheitern einerseits und den angeblichen Triumph des Kapitalismus über die Geschichte andererseits werden beide Wörter mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften aufgeladen: der Plan zentral gesteuert, politisch oktroyiert, bürokratisch kommandiert – der Markt anarchisch frei, unkoordiniert effizient und anonym regelnd. Zwei Pole der Ökonomie. Entweder, oder.

Was aber, wenn dieser Gegensatz bloß Ideologie ist, von interessierter Seite immer wieder neu erzählter falscher Schein? Was, wenn die Entgegensetzung von Plan und Markt eine epistemologische Hürde ist, eine Wand, durch die der Blick auf reale ökonomische und gesellschaftliche Prozesse verstellt wird?

Planung gibt es auch im Kapitalismus

Es ist eine Binsenweisheit: Auch in einer Ökonomie, in welcher der Tausch »Ware gegen Geld« die Wirtschaftsweise dominiert, wird geplant. Jeden Tag. Planung ist nichts anderes als die Fähigkeit, Handlungen gedanklich vorwegzunehmen, die dann folgenden Schritte entsprechend zu ordnen, damit ein Ziel erreicht werden kann.

Das Management eines Unternehmens könnte auf Grund von Marktanalysen und Verkaufsstatistiken beschließen, sagen wir: 100.000 Autos innerhalb einer bestimmten Zeitspanne zu produzieren. Die Produktion richtet sich nach der Planung: Wieviel Vorprodukte sind nötig, wieviel Maschinen müssen eingesetzt werden, wieviel Beschäftigte werden gebraucht und so weiter. Praktisch alles an diesem Prozess ist der Planung unterworfen. Das einzige, was nicht im Voraus festgelegt werden kann, ist der Verkaufserfolg: Die 100.000 Autos können auf der Halde verrosten, weil plötzlich alle lieber Fahrrad fahren oder eine Wirtschaftskrise den Fahrzeugmarkt lahmlegt.

Es gibt tausend mögliche Gründe, wieso die 100.000 Autos »am Markt vorbei« produziert werden können. Dabei spielt – wie überhaupt bei der Planung – der Faktor Zeit eine zentrale Rolle. Je besser alle denkbaren Zukünfte antizipiert und also in der Planung berücksichtigt werden können, desto »besser« ist der Plan.

Was ist mit der Befriedigung der Bedürfnisse?

Wodurch aber unterscheiden sich die möglichen Zukünfte? Nicht zuletzt drücken sich in ihnen Summen der Bedürfnisse von Menschen aus. Billigt man nun einmal sowohl dem »Plan« als auch dem »Markt« zu, dass sie die weitgehende Befriedigung dieser Bedürfnisse anstreben, müssten beide Ordnungen alles daran setzen, möglichst viele Unsicherheiten zu vermeiden, im Vorfeld durch Planung auszuschalten, gangbare Alternativen vorzubereiten.

Im Kapitalismus ist Unsicherheit die Kehrseite des Marktes: Angenommen, unser Beispielkonzern findet heraus, dass ein Konkurrenzunternehmen dasselbe Auto für 1.000 Euro weniger produzieren wird – unser Unternehmen hätte damit Sicherheit gewonnen über einen wesentlichen Aspekt der Zukunft, die dadurch besser planbar wird. Was aber würde das Management tun? Es könnte entweder an der Kostenschraube drehen, also Löhne senken und die Lieferanten von Vorprodukten unter Preisdruck setzen, um das Auto genauso oder noch billiger verkaufen zu können. Oder es würde die Produktion des Autos aufgeben.

Wahrscheinlich würde der erstere Fall eintreten – was zur Folge haben könnte, dass zwar nicht unser Unternehmen auf einigen Autos sitzen bleibt, aber die Konkurrenz. Die Unsicherheit würde also bloß verlagert – auf einen anderen Produzenten. Nach wie vor würden die Autos für einen Markt hergestellt, auf dem erst hinterher klar wird, ob dafür auch Kaufkraft und Bedürfnisse existieren.

Das Geld als Abstimmungszettel

Und damit sind wir beim eigentlichen Knackpunkt: Die Befriedigung von Bedürfnissen setzt voraus, dass über diese schon im Voraus genügend bekannt ist. Wissen darüber haben aber nur die Menschen selbst, das wirft die Frage danach auf, wie sie ihre Bedürfnisse artikulieren können – noch bevor überhaupt von Planung die Rede sein kann: Können die Menschen das?

Ja, ruft der »Markt«, das können sie am besten bei mir – nämlich mit ihrem Geld. Nachfrage bestimmt das Angebot! Das Geld wird als eine Art Abstimmungszettel verstanden, mit dem ausgemendelt wird, ob und von wem das Auto verkauft wird.

Nein, sagt der »Plan« der überkommenen Zentralverwaltungsökonomien: Wir müssen die Bedürfnisse vorher bürokratisch ermitteln – und auf dieser Basis dann entscheiden, ob und wie viele Autos tatsächlich produziert werden.

Was ist demokratischer? Weder die alten Planungsökonomien noch der Markt. Echte Mitbestimmung über die Produktion wird in beiden Fällen nicht ermöglicht. Auch wenn der Markt gern so tut: Mit seinem »Abstimmungszettel« Geld können dort nur zahlungsfähige Bedürfnisse befriedigt werden. An der »Wahl« nehmen also nur jene teil, die es sich leisten können. Fragen der Ressourcen, der gesellschaftlichen Reproduktion, der Kultur und so weiter stehen nur selten mit zur Debatte. Und was, wenn Mitte des Monats meine »Abstimmungszettel« bereits alle sind – die Bedürfnisse aber nicht?

In der falschen Entgegensetzung von Plan und Markt wird der Blick darauf verstellt, dass im Kapitalismus auch eine ganze Menge geplant, gesteuert, koordiniert wird. Marktwirtschaftliche Akteure verfolgen aber einen bestimmten Zweck – sie wollen, nein, sie müssen Profit erzielen. Die Befriedigung von Bedürfnissen ist ihnen dazu nur ein Mittel, nicht der Zweck selbst. Das tatsächliche Bedürfnis zählt gar nicht, sondern nur das zahlungsfähige. Die Planung für den Markt wird damit zur Spekulation auf die Zukunft – darauf, dass sich womöglich etwas verkaufen wird, weil vielleicht auch genügend Leute Geld dafür haben.

Der Staat für Aufräumarbeiten und Notdienste

Vielleicht aber auch nicht. Dabei wäre es noch das kleinere Übel, wenn 100.000 Autos auf Halde stehen bleiben. Wenn das anarchische Moment des Marktes aber riesige Finanzkrisen erzeugt oder massive Umweltzerstörung oder krasse Ungleichheit – dann bitte sehr, möge doch der Staat dies korrigieren – ex post. Jener Staat, der sich zuvor nach dem Willen der Marktfreunde nicht einmischen sollte. Demokratie wird damit im Grunde zu einer Entscheidung darüber, welche Repräsentanten die besseren Aufräumarbeiten und Notdienste parat haben, wenn »der Markt« doch einmal wieder nicht so funktioniert hat.

Kann man es besser machen? Selbstverständlich. Die demokratische Mitbestimmung über die Produktion müsste vor dieser wirksam werden. Das ist nicht einfach, aber die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Produktion, die die Befriedigung der real existierenden Bedürfnisse zum Ziel hat.

Wie der Weg dorthin aussieht, ist eine andere Frage. Ihn zu gehen, würde aber vielleicht auch jene uns heute verrückt anmutende Idee zur Wirklichkeit werden lassen, dass man nämlich nicht immer weiter produzieren muss, wenn die Bedürfnisse bereits gestillt sind. Anders formuliert: Wenn bereits alle nach ihrer Facon leben können, müssen dann noch weitere Feuerzeuge mit Musik, Waffen oder Butterberge produziert werden? Der Markt sagt ja. Und das hieße: Vernunft darf niemals siegen.

Sabine Nuss hat über Eigentum und digitale Commons promoviert. Sie arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und gibt das Portal marx200.org mit heraus. 

Geschrieben von:

Sabine Nuss

Mitherausgeberin des Portals marx200.org und Co-Geschäftsführerin des Dietz-Verlages

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