Wirtschaft
anders denken.

Eine Perestroika für den Kapitalismus

29.08.2019
GemeinfreiUS-Vizepräsident Bush, Präsident Reagan und Gorbatschow im Dezember 1988

Den geschichtspolitischen Kalender bestimmt derzeit die Friedliche Revolution in der DDR. Aber was lief damals eigentlich im Westen? Das wird der Schwerpunkt der kommenden OXI erzählen – und manches von damals klingt hoch aktuell: Vor über 30 Jahren forderte Dieter Kampe eine neue Ethik für die Ökonomie – es gehe darum, die »Lebensbedingungen von Mensch und Natur« zu erhalten. 

Anfang 1989 war der Ausgang der politischen Umbrüche in der Sowjetunion und ihrem osteuropäischen Einflussgebiet zwar noch nicht absehbar – die Debatte darüber, was ein Scheitern der realsozialistischen, zentralistischen Planungsökonomie für das Selbstbild des Kapitalismus bedeuten könnte, hatte da aber schon längt begonnen. Es waren dabei aber nicht nur Vorboten jenes Triumphgeheuls zu vernehmen, das wenig später in populären Parolen vom vermeintlichen »Ende der Geschichte«, also einem endgültigen Sieg des Kapitalismus seinen Ausdruck fand. Es gab auch Stimmen, die die Krise des Ostens zum Anlass für selbstkritische Betrachtungen nahmen und auf eine Erneuerung des Westens abzielten, jedenfalls was grundlegende wirtschaftspolitische Fragen anging.

Ein gerade auch heute wieder lesenswertes Beispiel dafür findet sich in einer Februar-Ausgabe des »Spiegels«. Wirtschaftsredakteur Dieter Kampe, der später mit einem kritischen Buch über die Treuhand-Politik reüssierte, sah zwar den »Glaubenskrieg zwischen Marxisten und Marktwirten, zwischen Kommunisten und Kapitalisten« schon Anfang des Wendejahres 1989 als entschieden an. Es sei, formulierte er schon zu diesem Zeitpunkt, »eindeutig: Zentrale Lenkung und administrierte Preise sind der Schrott von gestern«. Ganz so einfach wollte Kampe aber den Gegensatz »Konkurrenz oder Plan, Markt oder Lenkung« nicht als überholt betrachten.

An die Anhänger einer möglichst rigorosen Marktwirtschaft gerichtet schrieb er: »einen totalen Sieg haben sie trotz allem nicht errungen«. Auch »in den Konkurrenz-Wirtschaften« gehe es »nicht ohne staatliche Eingriffe, die Steuermängel des Marktes ausgleichen«. Zwar sei der Sozialstaat nicht mehr als Idee in Gefahr, weil auch die Konservativen diesen »als nützlich und notwendig erkannt« hätten. Bedroht waren die sozialen Sicherungssysteme damals aber sehr wohl, wie immer neue »Sparprogramme« und »Reformen« zeigten.

Kampe ging es aber vor allem um etwas anderes, etwas, das einerseits heute nicht minder aktuell erscheint, von dem man andererseits im Lichte der akut gewordenen Klimakrise sagen muss, dass die Forderung Kampes nach Neuorientierung und Korrektur des Kapitalismus ohne hinreichende Wirkung verhallte. Der Autor verwies nämlich darauf, »wie bedrohlich die vom Industriesystem produzierten Folgeprobleme und Nebeneffekte mittlerweile geworden sind. Sie können sich nicht länger der Einsicht verschließen, dass ohne staatliche Auflagen und Vorschriften, ohne Kontrollen und Regeln die menschlichen Lebensverhältnisse zerstört werden. Es kommt einfach zu teuer, all die großen Schäden nachträglich zu reparieren, die eine sich völlig selbst überlassene Privatwirtschaft fortlaufend verursacht.«

Wie, so fragte Kampe mit Blick auf einen Kapitalismus, der – wie schon Karl Marx formulierte – »zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter«, gestaltet werden. Neue demokratisch-sozialistische Alternativen hatte er dabei zwar nicht im Sinn, wohl aber ging es ihm um einen sehr grundlegenden Punkt: »Welche Strategien können Mensch und Umwelt, Wohlstand und Freiheit gleichermaßen retten?«

Interessant aus heutiger Sicht ist, dass Kampe dies nicht als Frage ansieht, die nur Experten oder Ökos als drängend interessiert. »Die Bewohner der Industriestaaten, soweit sie den Blick über den Tellerrand hinaus richten, wollen wissen, wohin eine Wirtschaft, die das nicht endende Wachstum zu ihrem Lebenselement verklärt hat, die Gesellschaft treibt.« Für Kampe hatten sich die Probleme auf den Feldern Ökologie und Gerechtigkeit bereits zu einer »Sinn- und Orientierungskrise« bei vielen BürgerInnen zugespitzt.

Der Ökonomie »fehlen Antworten auf existenzielle Grundfragen. Es geht um die Wiedergewinnung einer gesunden Lebenswelt in der reichen Industriegesellschaft. Es geht um den Sinn all der Wohlstandsmehrung und des gewaltigen Materialverbrauchs; es geht darum, in einer Industriewelt, in der immer verbissener um Marktanteile und Renditen gekämpft wird, Restbestände von Menschlichkeit zu bewahren.«

Kampe sah hier Ende der 1980er Jahre schon »die politischen Kontroversen und die Fragestellungen der neunziger Jahre«. Es ging ihm um Antworten darauf, wie sich »Schädigungen, die von der Industrie bisher auf Natur und Konsumenten abgewälzt wurden, den Produzenten zurechnen« lassen; darum, ob in der entfremdeten kapitalistischen Lohnarbeitsmühle wirklich irgendein Glück zu finden sei, darum, wie etwa über Investitionslenkung nötig gewordener Strukturwandel zu erreichen sei.

Aus seiner Kritik am »folgenschweren Sieg des Wirtschaftsliberalismus« schlussfolgerte Kampe die Notwendigkeit einer ethischen Neubesinnung, er erinnerte auch daran, dass die Vordenker und Klassiker der Nationalökonomie »gleichzeitig bedeutende Moralphilosophen« waren. Dorthin wollte er die Debatte zurückbringen, weg von einem Punkt, in dem Kampe das Gros der Wirtschaftswissenschaften »nicht mehr von realen Menschen und ihren Bedürfnissen« ausgehen sah, sondern »nur noch vom Homo oeconomicus und den Systemgesetzen der Ökonomie«. Kampe zitierte stellvertretend den Erfinder der modernen Arbeitsorganisation, Frederick Taylor: »In der Vergangenheit drehte sich alles um den Menschen; in der Zukunft muss das System im Mittelpunkt stehen.«

Und nun? »Die unschönen Verhältnisse erzwingen nunmehr die Rückkehr zu den alten Fragen: Dient der eingeschlagene Weg dem guten Leben? Bringt der Fortschritt eine bessere Welt?« Die Ökonomie brauche eine neue Ethik, mehr noch, auch der Kapitalismus im Westen brauche eine Erneuerung: »Glasnost und Perestroika sind in New York, London und Tokio genauso wichtig wie in Moskau und Warschau.« Denn, so Kampe, es gehe um nichts Geringeres als »die Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen von Mensch und Natur«, diese »wird der Kern der neuen Ethik wirtschaftlichen Handelns sein«. Das war, von heute aus betrachtet, eine Fehlprognose. Es bleibt aber, ebenfalls von heute aus betrachtet, eine Aufgabe.

Geschrieben von:

Vincent Körner

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