Wirtschaft
anders denken.

Eine Unterlassung

15.09.2019
Joerg Boethling/Alamy Stock Photo Zuschauer geblieben: Westblick auf den Osten vor dem Mauerfall

»Es konnte dem Kapitalismus gar nichts Schlechteres passieren als unser Untergang«, heißt es bei Volker Braun. Der Osten hatte seine Perestroika. Der Westen hat vor 30 Jahren seine Wende verpasst. Ein Beitrag aus der OXI vom September 2019.

Es gibt gute Gründe, in diesen Tagen sehr genau auf den Osten zu blicken: wegen der AfD. Es ist richtig, dabei die Geschichte des Ostens zu erinnern: zum Beispiel die Treuhand und die Nachwende-Transformation. Der Jubiläumskalender tut ein Übriges: 30 Jahre friedliche Revolution, 30 Jahre »Wiedervereinigung«. Mitunter ist der Rückblick zur landsmannschaftlichen Polit-Zoologie verzerrt: Dann geht es um »die Ostdeutschen«, diese seltsamen Leute. Dass die »neuen Bundesländer« nach ihrer Himmelsrichtung auf den Begriff gebracht werden, ist aber nichts Besonderes: Die »gebrauchten Bundesländer« heißen ja auch immer noch Westen. 

Und genau hier liegt der große blinde Fleck: Wo ist in der Erinnerung eigentlich die Bundesrepublik des Jahres 1989? Wie war da die Lage, warum ist so selten vom Gemütszustand »der Westdeutschen« am Ende einer welthistorischen Epoche die Rede? 

Der Historiker Gregor Schöllgen hat unlängst die gegenseitige Abhängigkeit ins Gedächtnis gerufen: Es gab »einen Westen, weil es den Osten gab, und das heißt: Ohne den Osten hätte es den Westen nie gegeben«. Daraus Schlüsse zu ziehen, welche die Zukunft von EU und Nato betreffen, ist das eine. Hier soll dieses Diktum zum Anlass genommen werden, auf die große Unterlassung der Wendezeit hinzuweisen: Der Osten hatte seine Perestroika, der Westen hat diese historische Gelegenheit verpasst, ausgelassen, verdrängt. Während der Staatssozialismus implodierte, sah der real existierende Kapitalismus bloß zu. Versteckte sich und seine Probleme hinter den Staubwolken, die der Zusammenbruch seines verfeindeten Zwillings aufsteigen ließ.

Eine Wende voraus…

Volker Braun hat einmal erzählt, wie ratlos in einer großen westdeutschen Zeitung auf den bloßen Hinweis reagiert wurde, »die Ostdeutschen« hätten denen im Westen »eine Wende voraus«: »Wohin sollen sich die Westdeutschen wenden?« Selbstkritisch in sich, das wäre eine Option gewesen. Nach Alternativen Ausschau haltend. Manche haben das erkannt. 

Wolfgang Fritz Haug schreibt im August 1990, sein Tagebuch der vergangenen zwölf Monate einleitend, von der »noch kaum gestellten Frage nach einer Perestroika im Westen«. Eine Antwort werde es aber wohl nur geben, »wenn die Perestroika nicht nur ein Traum bleibt und es nicht einfach auf den Sieg des kapitalistischen Westens hinausläuft«. Aber was ist das für ein Sieg gewesen? 

»Es konnte dem Kapitalismus gar nichts Schlechteres passieren als unser Untergang«, heißt es bei Volker Braun. »Gegenüber dem Sozialismus konnte er immer besser sein.« Der schwächere Gegner war nicht nur der etwas graue, angeschlagene Spiegel, in dem die eigene Buntheit des Überflusses noch ein bisschen greller zurückstrahlte. Der Osten war mehr, er war trotzdem für den Westen ein korrigierender Faktor. Politisch, ökonomisch. Gerade in Krisenzeiten disziplinierte die bloße Existenz des Anderen wenigstens ein bisschen. Aber auch das immer weniger.

Die 1980er Jahre hatten in der alten kapitalistischen Welt die Interessen des Faktors Arbeit zunehmend geschwächt, um die Interessen des Faktors Kapital besser bedienen zu können – zulasten gesellschaftlicher Bedürfnisse, Naturerhalt, eines globalen Ausgleichs. Trotz eines vergleichsweise langen wirtschaftlichen Aufschwungs war die Erwerbslosigkeit sehr hoch. 1988 stiegen zwar die Bruttoeinkommen je Beschäftigten real um 2 Prozent, die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen jedoch um über 10 Prozent. Es herrschte Wohnungsmangel. Eine Rückkehr auf den alten Pfad sozialer Integration und individuellen Aufstiegs per ausgeweitetem Wirtschaftswachstum schien schon aus ökologischen Bedenken verbaut; wer sich um alternative Zukünfte in der damals noch kleinen Bundesrepublik Gedanken machte, sah schon die sozialen und ökonomischen Probleme, die heute noch die Gegenwartskonflikte speisen. 

… dass wir nun Verantwortung für sie tragen

Und dann kam die Wende. Gemacht im Osten, schnitt sie offenbar auch einen Möglichkeitsfaden im Westen erst einmal ab. »Wir haben die Verhältnisse der Bundesrepublik durch unsere Wahl so vollkommen salviert«, schreibt Volker Braun, »dass wir nun Verantwortung für sie tragen. Wir haben mit unserem fraglosen Übertritt ihr Leben bestätigt, das sie selber bezweifelten, wir haben es angenommen und ihnen ihre Träume genommen.« 

Man muss dabei gar nicht weit nach links blicken, um erahnen zu können, worum sich diese damals drehten. Anfang 1989 schreibt Dieter Kampe im gründlich west-arrivierten »Spiegel«, das Ende des Jahres schon vorwegnehmend, »einen totalen Sieg« hätten die Anhänger einer möglichst rigorosen Marktwirtschaft »trotz allem nicht errungen«. Es stelle sich für »den Westen« immer drängender die Frage: »Welche Strategien können Mensch und Umwelt, Wohlstand und Freiheit gleichermaßen retten?« Und weiter: »Glasnost und Perestroika sind in New York, London und Tokio genauso wichtig wie in Moskau und Warschau.«

Und in Bonn, Berlin. Es hat nach dem Epochenbruch von 1989/1990 eine Weile gedauert, bis die Rufe nach einer »Wende im Westen« wieder hörbarer wurden. 2009 schrieb Michail Gorbatschow, die große Krise des nachsozialistischen Kapitalismus bezeuge, »dass das neue westliche Modell eine Illusion war, die vor allem den Reichen« nützt, »es basierte auf einer Jagd nach Super-Profiten und übersteigertem Konsum für einige wenige, auf uneingeschränkter Ausbeutung der Ressourcen und auf sozialer und umweltpolitischer Verantwortungslosigkeit«. Er wiederholte damit einen Erkenntnisstand den es auch schon 1989 gegeben hatte. Wirklich durchgreifende Schlussfolgerungen wurden daraus aber kaum gezogen. 

Bislang. Nun macht die Klimakrise Schlagzeilen, diesen Zeitpunkt für eine Umkehr zu verpassen kann sich niemand mehr leisten. Besteht Hoffnung? Immerhin lautet eine Erkenntnis des Jahres 1989, in dessen ersten Monaten niemand voraussehen konnte, was in den letzten geschehen würde: Große Veränderungen, gerade auch die dringlichsten, passieren manchmal unerwartet.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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