Wirtschaft
anders denken.

Eine, zwei, viele: Zur neuen Debatte über Industriepolitik

01.03.2019
Auszug aus dem Cover der Studie von Pianta et al

Plötzlich reden alle über Industriepolitik. Aber meinen auch alle dasselbe? Über Marktglauben, Standortkonkurrenz, Strukturwandel – und progressive Alternativen. Eine Sammlung.

Wenn alle dasselbe sagen, ist damit noch nicht dasselbe gemeint. Das zeigt die Debatte, die Wirtschaftsminister Peter Altmaier mit seiner »Industriestrategie« angestoßen hat. Auf ganz verschiedenen Ebenen läuft nun eine Diskussion – mal geht es um ordnungspolitische Grundsätze, mal um Standortkonkurrenz, mal um linke oder alternative Ansätze in der Industriepolitik.

Seit die Kanzlerin nun auch »eine grundlegende Neuordnung der Industriepolitik in Deutschland und in Europa« forderte, wie unter anderem hier berichtet wird, ist die Industriepolitik zudem zum Thema einer wirtschaftspolitischen Kursdebatte der CDU geworden. Während Angela Merkel – im Einklang etwa mit Siemens-Konzernchef Joe Kaeser – verlangte, Politik und Wirtschaft müssten künftig gemeinsam strategische Planungen ausarbeiten, sieht Norbert Röttgen darin und in Altmaiers Industriestrategie »eine Abkehr von dem erfolgserprobten wirtschaftspolitischen Markenkern der CDU. Parteipolitisch wäre eine solche Kurskorrektur entgegen dem absoluten ordnungspolitischen Kern und gegen jede praktische Einsicht höchst gefährlich«.

Die Anhänger des Marktglaubens in der Redaktion der FAZ spenden da sicher Beifall – auch unter ihnen dominiert der Gedanke, »fragwürdige Lenkungskünste und das zweifelhafte Gespür der Politik für die industrielle Zukunft gefährden den Wohlstand«. Ähnlich hatten sich schon vier ÖkonomInnen geäußert, die den Titel »Wirtschaftsweise« führen und Altmaier einen »Strategiewechsel in die falsche Richtung« vorwarfen.

Einer solchen Position stehen viele skeptisch gegenüber – in der Debatte um Industriepolitik hat das auch etwas mit der jeweiligen Bewertung des Vorrückens China in der globalen Ökonomie zu tun. In der »Welt« würde Olaf Gersemann auch nicht in Jubel ob Altmaiers Strategie ausbrechen, er dankt dem Wirtschaftsminister aus anderen Gründen: »Worauf es zunächst einmal ankommt, ist die Diagnose. Und die geht so: Deutschland und der Rest des Westens sehen sich einem systemischen Wettbewerb mit einem chinesischen Staatskapitalismus ausgesetzt, der nicht auf Teilhabe aus ist, sondern hegemoniale Ambitionen pflegt. Dieser Befund wird von jenen, die Prinzipientreue mit ideologischer Erstarrung verwechseln, heruntergespielt«.

Der Punkt, der hier gemacht werden soll, ist: Angesichts der neuen Konkurrenz müsse Deutschland mehr tun, statt, und hier noch einmal Gersemann, sich verzweifelt an die Hoffnung zu klammern, »dass die ins Haus geholten Gäste schon keine Brandstifter seien, und händigen dann auch noch Streichhölzer aus«. Im »Handelsblatt« wird das so formuliert: »Die Hoffnung der Europäer, dass sich mit dem wachsenden Wohlstand in China auch das politische System liberalisiert, hat sich nicht erfüllt. Zugleich mussten die Europäer erleben, dass China sein wirtschaftliches Engagement in der EU für politische Einflussnahme nutzt.«

Zwischen diesen beiden Punkten – dem ordnungspolitischen Pochen darauf, dass der Staat sich aus der Wirtschaft raushalten solle (was heißt, er soll zwar jede Menge tun, etwa Infrastruktur und Köpfe bereitstellen, die Bedingungen für Akkumulation verbessern etc. – nur bitte nicht mitlenken) und einer mehr standortpolitisch orientierten Position, die sich um die globale Wettbewerbsposition von Deutschland und Europa mehr Sorgen macht als um das Erbe von Ludwig Erhard, oszillieren jede Menge ähnliche Argumente, die mal eher der einen, mal eher der anderen Richtung zuneigen.

Gern wird auch nach dem Motto gesprochen, das Christoph Bornschein hier im »Handelsblatt« so formuliert: »Es ist sicher nicht falsch, bestehende Industrien zukunftsfest zu machen. Doch müsste sich ein Wirtschaftsminister nicht verstärkt mit der Frage beschäftigen, was die Industrien von morgen sind?« Hier geht also schon das Rennen darüber los, welche Branchen mehr Unterstützung bekommen sollen und welche eher nicht. Ähnlich gelagerte Hinweise gibt es auch zur Frage, ob die Industriestrategie Altmaiers nicht zu stark Großunternehmen im Blick hat und damit aus Sicht des Mittelstandes in die falsche Richtung geht.

Beat Balzli von der »Wirtschaftswoche« fragt sich gar: »Sind Maos Enkel nur ein Vorwand?« und wird »den Verdacht nicht los, dass die Spontanliebe zum staatlichen Eingriff Menschen erfasst, die mit der Lobbyarbeit in Regierungskreisen viel Erfahrung haben. Eine Industriepolitik ist nicht nur anfällig für marktferne Fehlplanungen, sondern auch für klientelgetriebene Prioritätensetzung und Beziehungsdelikte aller Art. Großkonzerne sind da im Vorteil, Mittelständler nicht.«

Jedenfalls: Wie die FAZ berichtet, werden die »Pläne für eine gemeinsame Industriepolitik in der Europäischen Union« immer konkreter. Die Regierungen in Berlin und Paris wollten »diese vorantreiben«, Ziel sei es, »einen gemeinsamen Fahrplan bis zum EU-Gipfel am 20./21. März in Brüssel auszuarbeiten«. Einen ausführlichen Überblick über den Stand der Debatte aus Sicht von ÖkonomInnen haben Mark Schieritz und Lisa Nienhaus hier auf Zeit online veröffentlicht.

In der »Süddeutschen« hat Alexander Hagelüken dieser Tage von Europa gefordert, mehr Industriepolitik zu wagen: »Denn nur so können europäische Firmen global konkurrieren.« Das Wettbewerbsargument wird hier allerdings noch um eine marktskeptische Dimension erweitert: »Es mag ja sein, dass keiner den Staat braucht auf perfekten Märkten, auf denen eine große Zahl von Firmen unter gleichen Rahmenbedingungen konkurrieren. Die wirtschaftliche Realität sieht allerdings häufig anders aus«, schreibt Hagelüken. Und weiter: »Es war nicht der Staat, sondern der von allen Fesseln befreite Markt spekulierender Banken, der mit der Finanzkrise die größte Wertevernichtung der jüngeren Geschichte produzierte. Und umgekehrt gibt es (neben den Pleiten) durchaus Erfolgsbeispiele staatlicher Industriepolitik.«

Eine Frage ist damit noch nicht beantwortet: Was sind überhaupt Erfolge in der Industriepolitik? Geht es um strukturkonservative Erhaltungsmaßnahmen für Branchen oder Unternehmen mit überholten Technologien? Geht es um »besser funktionierenden« Kapitalismus, sozusagen um die Korrektur von Marktergebnissen, die selbst den Markt stören – etwa weil einzelne Unternehmen so dominant geworden sind, dass kaum noch Wettbewerb möglich ist? Oder geht es um gesellschaftliche Ziele? Und wer formuliert diese?

Einen Antwortvorschlag gibt der DGB-Vorstand Stefan Körzell: »Es genügt nicht, dass sich Industriepolitik nur als Stärkung nationaler Standorte in der Konkurrenz zu anderen Ländern versteht und einen ›Wettlauf nach unten‹ bei sozialen und ökologischen Standards antreibt. Wir brauchen eine positive Vision für das, was die Industrie zur Erhöhung und Sicherung unseres Wohlstandes leisten kann. Konkret bedeutet das: die Schaffung guter Arbeit, dauerhafte Sicherung industrieller Wertschöpfung, die Erreichung der Klimaziele und die erfolgreiche Gestaltung der Digitalisierung.«

Auch Wolfgang Lemb vom Vorstand der IG Metall sagt, »Altmaiers Strategie ist klug« und nicht mit »Planwirtschaft« zu verwechseln. Nun könnte man fragen, was so schlecht an demokratischer Planung im Sinne gesellschaftlicher Ziele wäre, aber Lemb geht es um etwas anderes: »Sicher, man kann auch im Schatten von Industrieruinen noch die Fahne der reinen Marktlehre hochhalten. Ob Deutschland sich 2030 dann noch zu den Gewinnern des industriellen Strukturwandels zählt, steht allerdings zu bezweifeln.« Die Frage der tiefgreifenden Veränderungen, von denen eigentlich klar ist, dass sie kommen, nicht ganz so klar, wann und wo sie sich besonders auswirken, ist eine weitere Dimension der Debatte um Industriepolitik – und auch hier wäre zu berücksichtigen, dass Gewerkschaften und Unternehmen nicht dieselben ökonomischen Interessen haben. Und das mitunter die Interessen der Gesellschaft noch einmal anders liegen – man denke nur an die Frage der Ökologie oder der Ungleichheit.

Eine wirklich progressive Industriepolitik müsste darauf auch Antworten haben. Hier wurde bereits einmal ausgeführt, warum deshalb über eine linke Strömung in der Debatte wieder lauter gesprochen werden müsste. Was es mit Altmaiers Industriestrategie auf sich hat – und warum man die Sache kritisch sehen sollte, hat Nico Beckert hier aufgeschrieben. Ein alternativer Vorschlag der italienischen Ökonomen Pianta, Lucchese und Nascia wurde hier einmal ausführlicher vorgestellt.

Julia Eder und Etienne Schneider haben nicht zuletzt am Beispiel von Pianta, Lucchese und Nascia gezeigt, dass die Hürden für progressive Industriepolitik ziemlich hoch liegen und noch einige Fragen unbeantwortet sind. »Erstens erweitern wir die aktuelle Debatte um die Dimension der politischen Durchsetzungsfähigkeit sowie Fragen zu Machtbeziehungen und Hegemonie. Zweitens beginnen wir häufig verwendeten Schlagwörtern der aktuellen Debatte wie ökologischerNachhaltigkeit, ArbeiternehmInnenbeteiligung und demokratischer Partizipation sowie Geschlechtersensibilität einen konkreteren Inhalt zu geben. Und drittens diskutieren wir vor dem Hintergrund der Zentrum-Peripherie-Beziehungen innerhalb der EU, was die aktuelle Debatte von Erfahrungen aus dem globalen Süden lernen kann.« Der Aufsatz der beiden findet sich hier.

In der Wochenzeitung »Freitag« hat Julia Eder einige Grundgedanken aus dem Aufsatz zu zehn Thesen verdichtet, die man als linke Maßstäbe an Industriepolitik anlegen könnte. Diese wäre progressiv, wenn sie ökonomische Ungleichgewichte verringert, die Re-Regionalisierung der Wirtschaft unterstützt, die Verteilung der Profite umgestaltet und die Eigentumsfrage stellt, zur sozial-ökologischen Transformation beiträgt, feministisch, kollektiv und demokratisch ausgearbeitet sowie friedenspolitisch kompatibel ist und auch noch die soziale Ungleichheit reduziert. Ein bisschen wie eine eierlegende Wollmilchsau, aber als Thesen zu einer breiten Debatte zu progressiver Industriepolitik gut brauchbar. Vor allem ist Eders letzter Punkt zu unterstreichen: »Wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, Vorschläge anderer zu kommentieren, sondern müssen aktiv die Debatte vorantreiben. Nur so ist es möglich, aus einer passiven Rolle in eine gestalterische Position zu kommen.«

Unter anderem der Linkspolitiker Fabio De Masi greift den Ball auf – und lädt für 9. März zu einem Fachgespräch ein, bei dem unter anderem Peter Bofinger, Maximilian Waclawczyk von der IG Metall und Tomas Nieber von der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE dabei sein werden. Ziel: »Das industriepolitische Engagement der Bundesregierung« solle »einer fachpolitischen Bewertung unterzogen werden. Gleichzeitig« werde angestrebt, die industriepolitischen Positionen von Peter Bofinger »sowie der Industriegewerkschaften für die Arbeit der« Linksfraktion im Bundestag »nutzbar zu machen«.

Was sollte man sonst noch gelesen haben? Unter anderem diesen Kommentar von Sebastian Dullien, der Altmaiers »Nationale Industriestrategie« gegen pauschale Kritik im »deutschen Ökonomen-Establishment« verteidigt. Das Papier sei zwar tatsächlich »unausgegoren und zum Teil sogar widersprüchlich. Doch reflexhaft darauf zu beharren, dass jede Intervention abzulehnen sei, ist weder glaubwürdig noch zielführend – dafür sind die Erfolge der Industriepolitik an anderen Orten einfach zu offensichtlich«.

Auch im Zeitgespräch des »Wirtschaftsdienstes« wird Industriepolitik breit diskutiert: »Eine horizontale Industriepolitik ohne spezifische Förderung einzelner Branchen halten viele Ökonomen für richtig. Direkte Interventionen können allerdings nicht nur in eine technologische Sackgasse führen, sondern auch dem Wettbewerb schaden. Aber sie sind in einer Wirtschaft, die von Netzwerkeffekten und Pfadabhängigkeiten dominiert wird, vor allem deshalb unabdingbar, weil Investitionen mit großer Unsicherheit über die Zukunft und hohen Risiken verbunden sind.«

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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