Wirtschaft
anders denken.

Eingreifendes Denken: vier Neuerscheinungen zu Friedrich Engels

14.03.2020

Das Engels-Jahr ist noch keine drei Monate alt, die Veröffentlichungsmaschinerie läuft. Diverse Bände über den Marx-Freund und »Cotton-Lord«, der den Marxismus »erfand«, sind erschienen. Ein Überblick.

Einen mit fast 600 Seiten ziemlich umfangreichen Sammelband haben Rainer Lucas, Reinhard Pfriem und Hans-Dieter Westhoff im Verlag Metropolis herausgegeben. Versammelt sind darin 21 Aufsätze – und in denen wird ein recht großer Raum der Engels-Rezeption abgeschritten. Die Feministin Gisela Notz etwa setzt sich mit Engels’ »Ursprung der Familie« auseinander und fragt, was diese Schrift uns heute noch zu sagen hat. Adelheid Biesecker, Frigga Haug und Uta von Winterfeld denken mit Friedrich Engels im Kopf über Geschlechterverhältnisse und gesellschaftliche Naturverhältnisse nach. Engels’ Stellungnahme zur Wohnungsfrage (Burghard Flieger) spielen ebenso eine Rolle wie stadtsoziologische und stadtpolitische Annäherungen an Engels (Daniel Lorberg und Katharina Simon). Peter Hennicke geht der Frage nach, ob Engels heute für Postwachstum kämpfen würde? Und so weiter und so fort.

»Es gibt eigentlich nichts, wozu er nicht publiziert hat«, so formulierte  der Wuppertaler Kulturdezernent Matthias Nocke bei der Vorstellung des Sammelbandes den weiten Rahmen, in den man Friedrich Engels stellen kann. »Arbeiten am Widerspruch«, so der Titel des Buches, kann man dabei in doppelter Perspektive verstehen: Einerseits geht es auch um Widerspruch zu Engels, etwa wenn Ulrich Klan den »wissenschaftlichen Sozialismus« kritisiert, Engels einen »Rechthaber« nennt, der »Utopisten plattgemacht« habe. Andererseits in Anknüpfung an Engels, wenn etwa Lars Hochmann »zur Kritik im Handgemenge« aufruft, und mit Blick auf Engels anmerkt, »dass für sein Denken gilt, was schon die Biografie des kapitalismuskritischen Unternehmers dartut: ein Leben im und für den Widerspruch«. Dies sei gerade in Zeiten beispielhaft, in denen wir »unter Bedingungen einer verschärften Klimakrise, eines erstarkten Faschismus und einer normalisierten Marktgläubigkeit« mehr »mutige Menschen in den Wissenschaften und überhaupt« brauchen, »die ihr Denken auf eine solche Weise in Bewegung setzen«.

Ebenfalls vertreten in dem Sammelband sind Aufsätze von Michael Brie zur »Strategischen Suche in Zeiten der Gesellschaftskrise«, und von Michael Krätke über »Engels und die großen Transformationen des Kapitalismus«. Beide Autoren haben diese Fragestellungen zudem in eigenständigen Publikationen noch ausführlicher behandelt. Brie nimmt dabei eine ebenso für die Engels-Rezeption ungewöhnliche wie spannende Perspektive ein: Er will dem lernenden Engels zusehen, will ihn »als unseren Zeit-Genossen, als Suchenden neu« entdecken. »Von Engels kann man lernen zu lernen. Das Wie seines auf praktisches Eingreifen zielenden Erkenntnisprozesses ist für uns heute wichtiger als das Was seiner Resultate.«

Also untersucht Brie die Zeit, »die Engels zwischen November 1842 und August 1844 in Manchester und England verbringt und die er in den Monaten danach im Elternhaus in Barmen« auswertet. Hier werde ein Suchprozess sichtbar, der für Brie »deshalb so interessant« ist, »weil es noch nicht jenes Gerüst gibt, das von Engels später als ›materialistische Anschauung der Geschichte‹ bezeichnet wird, weil auch andere Analysen, die zu Werkzeugen der kritischen Wirklichkeitsaneignung werden, noch ungeschrieben sind. Und das in Zeiten einer beginnenden Weltenwende unvergleichbaren Ausmaßes. Der Aufstieg des Industriekapitalismus revolutionierte die Welt. Und hier liegt für Brie eine Aktualität: »Auch für die Gegenwart ist es von Bedeutung, wie sich neue Suchrichtungen formieren, wie sie zu Forschungsprogrammen werden, in welchem Zusammenhang diese mit strategisch-gesellschaftspolitischen Fragestellungen stehen und wie sie sich mit den realen sozialen und politischen Bewegungen verbinden.«

Das »intellektuelle Orientierungsprogramm« von Engels, so sieht es Brie, ist die Grundlage »für eingreifendes Denken in Zeiten einer großen gesellschaftlichen Krise«. Dass Engels dies im Alter von 22 bis 24 Jahren angeht und Grundzüge formuliert, ist beachtlich. Was gehört für Brie zu diesem Orientierungsprogramm? Engels habe erstens eine eigene weltanschauliche Frage entwickelt: »Auf welchem Wege kann eine menschliche Gesellschaft geschaffen werden?« Er habe sich zweitens »auf handlungsfähige gesellschaftliche Kräfte« orientiert und damit die Frage der AdressatInnen beantwortet – sein Denken richtete sich an sozialistische Intellektuelle und die Arbeiterbewegung. Drittens habe sich Engels »in strategischer Absicht neue Realgegenstände« kritisch angeeignet, etwa die bis dahin kaum »bemerkte« soziale Lage der ArbeiterInnen, die Politische Ökonomie, die Geschichte der industriellen Revolution. Viertens durchdrang Engels dies mit »einer eigenen Methodologie, um dies alles zu verbinden und zu verarbeiten: dialektisch­kritische Analyse realer Verhältnisse und Bewegungen«. Und fünftens lässt sich bei seinem Orientierungsprogramm noch der Punkt  der »eingreifenden Erzählungen« aufführen, »die einen neuen politisch-strategischen Diskurs begründeten«.

»Davon kann man, davon muss man lernen, wenn man selbst auf der strategischen Suche ist«, schreibt Brie – und es ist ganz sicher angesichts der »großen Transformation« unserer Tage und der notwendigen Orientierungssuche der gesellschaftlichen Linken heute nicht falsch, den frühen Engels weniger als etwas noch einmal vorzunehmen, das man »anwenden« kann, sondern ihn dahingehend neu zu lesen, wie man zu einem kritischen Denken in handlungsfähiger, eingreifender Bewegung kommt.

Bries hoffend ausgesprochenen Gedanken, »Engels’ 200. Geburtstag könnte Anlass sein, ihn aus dem Schatten von Marx herauszuholen, die Tendenz zu überwinden, ihn zur Zweitklassigkeit zu degradieren«, greift auch Michael Krätke in seinem Essay über Engels auf. Ohne ihn, das ist ein zentraler Gedanke, »wäre Karl Marx nicht so rasch von der Philosophie zur politischen Ökonomie gekommen«, ohne Engels wäre Marx nicht so rasch auf die Arbeiterbewegung gekommen, ohne ihn wäre er »erst viel später mit der Nase auf die neue Welt des industriellen Kapitalismus gestoßen« und und und.

Krätkes schwungvoller Essay, der Texte von Engels einleitet, weist eine Parteilichkeit mit dem »Cotton-Lord« auf, die verständlich vor allem durch eine spezielle Rezeption wurde: Als »Mann im Schatten« von Marx gibt es bis heute nur »eine Handvoll Engels-Biografien«, Engels »hat die schlechtere Presse«, worin sich bisweilen auch eine merkwürdige Übernahme eines, so Krätke, negativen »Mythos’« zeigt: »Engels habe angeblich die genialen Gedankenblitze seines Freundes Marx verballhornt und der späteren Verwandlung der marxschen Theorie in eine abstruse Partei- und Staatsideologie Vorschub geleistet.« Darin wiederum liege auch eine Überhöhung des alten Marx: »Je mehr die Vertreter dieser Lesart Engels heruntermachen, desto höher sehen sie den schönen Geist von Marx schweben, der nur für Eingeweihte zugänglich sei.«

Krätke unterstreicht vor diesem Hintergrund sehr deutlich, wo Engels’ Verdienste liegen und wo er Marx »voranging«. Das geht bei dem Aufsatz »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« los, der »etliche Perlen« enthält, »die Marx wohl zu schätzen wusste«, und die Grundkategorien einer neuen »Kritik der Ökonomie« schon enthält. Auch in der Sozialforschung war Engels der Vorangehende, bis heute ist die »Lage der arbeitenden Klasse in England« ein Grunddokument der empirischen Forschung und ein Klassiker der Stadtsoziologie. Dass Engels ein früher »Grüner« war, wird heuer sogar in Zeitungen gewürdigt, die es mit der Kritik der gesellschaftlichen Naturverhältnisse vor der großen Klimakrise nicht so ernst nahmen. Und natürlich geht Krätke auch auf den Beitrag von Engels bei der Formulierung eines historischen Materialismus’ ein.

Ein wichtiges Merkmal der Engelschen Denkweise wird von Krätke wieder und wieder unterstrichen – und man ist geneigt, das gleich auch noch einmal zu tun in Zeiten, in denen man neuen Fragen mit alten Antworten nicht mehr beikommen wird. Engels sah die Theorie »bis zuletzt als ein Work in Progress, keinesfalls als ein geschlossenes System«. In vielen Fragen versuchte er, »in seinen sogenannten Altersbriefen Erläuterungen nachzuschieben. Was das Forschungsprogramm taugte, das er mit Marx entworfen hatte, musste sich in historischen und zeitgeschichtlichen Analysen erweisen, und da bot sich ein weites, noch kaum beackertes Feld.

Engels war sich über die begrenzte Haltbarkeit wissenschaftlicher Zeitdiagnosen im Klaren, das zeigen die Vorworte zu den Neuausgaben und Übersetzungen von Marx’ Arbeiten und seinen eigenen Schriften, die er in seinen letzten Lebensjahren reichlich schrieb. Wieder und wieder hat er den historischen Kontext erklärt, in dem die Texte entstanden sind, die später zu »Klassikern« erklärt wurden, vermeintlich unantastbar wie heilige Schriften. Dagegen betonte Engels ungeniert, wie oft und wie sehr er und Marx sich geirrt hatten: Wir waren noch nicht mit uns im Reinen, wir haben zur ›Selbstverständigung‹ geschrieben, wir hatten noch kaum eine Ahnung und die Geschichte hat uns gründlich widerlegt.« Noch einmal Krätke: Engels »erfand den Marxismus und war doch kein richtiger Marxist. Er war ebenso gut ein Revisionist und damit in guter Gesellschaft.«

Ähnlich angelegt wie Krätkes Herausgabe von »Friedrich Engels oder: Wie ein Cotton-Lord den Marxismus erfand«, der in der Reihe »Biografische Miniaturen« im Berliner Karl Dietz Verlag erschienen ist, ist der von Bruno Kern besorgte Band »Im Widerspruch denken. Ansichten eines sanften Revolutionärs«. Als »kompakte, zeitgemäße Einführung in das Leben und Werk« angepriesen, versammelt das Buch einige ausgewählte Schriften von Friedrich Engels, die von Kern jeweils kurz eingeordnet werden. Dabei unterstreicht auch Kern sowohl die Aktualität eines Denkansatzes, der von empirisch erfahrbarer Wirklichkeit statt von politischen Wünschen ausgeht, der Globalisierung und Naturkrise einer auf Wachstum verpflichteten Produktionsweise schon sehr früh kritisch reflektierte. Kern verweist auch auf die »redlichen Selbstkorrekturen«, in der »sich die Größe des Denkers« Engels erweise. Allerdings ist der Herausgeber in diesem Fall deutlich kritischer, was Engels »Anpassung« von Marx an einen positivistischen und szientistischen  »Zeitgeist« (im Anti-Dühring) angeht, zudem rügt Kern die seiner Ansicht nach »groben Entstellungen«, die Engels auf diese Weise der Marxschen kritischen Gesellschaftstheorie an getan habe.

Rainer Lucas, Reinhard Pfriem, Hans-Dieter Westhoff (Hrsg.): Arbeiten am Widerspruch – Friedrich Engels zum 200. Geburtstag, Metropolis-Verlag 2020, 596 Seiten, 48 Euro.

Michael Brie: Sozialist-Werden. Friedrich Engels in Manchester und Barmen 1842–1845, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019, 141 Seiten, kostenfreier Download.

Michael Krätke (Hrsg.): Friedrich Engels oder: Wie ein Cotton-Lord den Marxismus erfand, Karl Dietz Verlag 2020, 200 Seiten, 12 Euro.

Bruno Kern (Hrsg.): Friedrich Engels. Im Widerspruch denken. Ansichten eines sanften Revolutionärs, Marix Verlag 2020, 160 Seiten, 6 Euro.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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