Ganz einträgliche Elendsgewinnlerei
Die Folgen der wachsenden Ungleichheit und eine Titelgeschichte: Wie der Spiegel einmal etwas fast Richtiges tat und in einen Chor einstimmte.
»Reich wird reicher, arm bleibt arm«. So steht es auf dem neuen Spiegel-Titel und wenn dann gleich zu Beginn der Geschichte über die soziale Spaltung davon die Rede ist, dass Befunde über die Folgen von Armut »hierzulande immer noch ungläubiges Staunen« auslösen, dann beginnt man erst einmal ungläubig zu staunen: Ist es wirklich so, dass über den real existierenden Kapitalismus bisher so wenig bekannt war? Und wenn ja: Warum? Vielleicht, weil das Thema auch in führenden Polit-Illustrierten viel zu selten eine Rolle spielt? Aber das wäre eine andere Geschichte.
Der Spiegel hat die grassierende Ungleichheit, die zunehmende Spaltung in wachsende Supervermögen und ein größer werdendes Heer der Armen zur Titelgeschichte gemacht, und das ist erst einmal gut so. Aus zwei Gründen: Erstens kann, siehe oben, nicht oft genug darauf hingewiesen werden, denn besser als »ungläubiges Staunen« über die Folgen von Armut wäre politisches Handeln dagegen – dafür braucht man Mehrheiten, die wiederum sind eine Frage auch von öffentlichen Debatten, von Hegemonie. Und da ist ein »führendes Magazin« nun einmal auch ein Transmissionsriemen für Inhalte, Diskurse (man erlebt das oft genug, leider in eine politisch vom Autor nicht begrüßte Richtung).
Zweitens bringt der Beitrag auf sieben Textseiten eine Fülle von Fakten zusammen, die einfach zu übergehen, eigentlich keine Moral, kein Solidaritätsgefühl, keine Empathie erlauben dürfte. Wir wissen leider: Die Menschen sind so in Konkurrenz zueinander gezwungen, dass zwar mehrheitlich die Ansicht vertreten wird, dieser Kapitalismus ist eine Weltmaschine der Ungerechtigkeit, der Armut, des Wegnehmens von Lebenschancen, der Naturzerstörung und so fort. Die selben Leute dann aber ebenso mehrheitlich Parteien wählen, die dafür die Rahmenbedingungen setzen und verteidigen.
Elendsgewinnlerei mit leeren Immobilien
Aber richtig: Extreme Ungleichheit ist keine Frage von Moral. Dietmar Dath hat es einmal so formuliert: »Selbstverständlich ist eine Gesellschaft unanständig, in der jemand mehr Wohnraum besitzen als bewohnen kann und Behausungen also leer stehen, damit beim Finanzamt Verluste angegeben werden können, in deren Schatten anderswo, im Warmen, Feuchten und Unsichtbaren, große Gewinne gedeihen.« Der eigentliche Punkt aber sei: »dass das alles nicht vernünftig ist und deshalb nicht funktionieren kann«. Wer angesichts dessen, was zum Beispiel auf diesen sieben Spiegel-Seiten steht, und dennoch den Gedanken ablehnt oder für unmöglich erklärt, »die Dinge besser einzurichten, ist nicht böse, sondern entweder faul genug, sich betrügen zu lassen, oder vom Geburtszufall ausgelost worden, die im Ganzen seltene, vorläufig aber noch ganz einträgliche Elendsgewinnlerei betreiben zu dürfen, an der dieses Ganze krankt«.
Zurück zum Spiegel, der, um es mit Dath zu sagen, am Ende doch faul genug bleibt, sich betrügen zu lassen. Erstens, weil man »die Formel« der »sozialen Marktwirtschaft«, die nun für viele nicht mehr aufgehe, als so etwas wie ein Weltgesetz betrachtet – und eben nicht als Klassenkompromiss unter spezifischen historischen und ökonomischen Bedingungen, die seit den 1970er Jahren Stück für Stück abhanden gekommen sind. Zweitens, weil die elendige Ungleichheit dort jetzt auf eine Weise zum Thema gemacht wird, die das Problem erst dann sehen mag, wenn seine Behebung als »die beste Wachstumspolitik« gilt: Wir machen was gegen die Armut, damit der Kapitalismus wieder besser funktioniert. Soziale Politik als Konjunkturspritze.
Immerhin. Allerdings gerät dabei auch einiges aus dem Blick, anderes wird in jenen Tönen gesungen, die dem ganzen Kladderadatsch zu einem entsprechenden Menschenbild verhelfen. Armut »nimmt ganzen Bevölkerungsteilen jenen Leistungs- und Aufstiegswillen, dem sie ihren Wohlstand verdankt.« Daher kommt das also. Nun denn. Immerhin steht nun auch einmal im Spiegel, dass die ökonomische Theorie, »wonach Ungleichheit zum Wesen einer funktionierenden Marktwirtschaft gehört«, ins Wanken geraten sei. So richtig traut sich das Magazin aber nicht, für einen letzten Schubser zu sorgen.
Dass man beim Spiegel das Ganze als Kapitalismuskritik missversteht: geschenkt. Der Beitrag kommt ohne das Wort Klasse aus – er kennt lediglich Einkommensklassen. Darüber, wie gesellschaftlicher Reichtum produziert und wie er angeeignet werden kann, stehen viele Hinweise darin – nur macht der Beitrag daraus keine Pointe, sondern flieht in liberale Allgemeinplätze wie jenen von der »aus der Balance geratenen Wirtschaft«. Die Skepsis gegenüber »einfachen Umverteilungsrezepten« ist sinnvoll, weil die Effekte unter dem Strich wohl zu gering ausfallen und in dem Beitrag dann auch ein paar der zu schleifenden Privilegien genannt werden, mit denen die Vermögenden ihren Reichtum und die damit verkoppelte politische Macht absichern. Sogar der Gedanke findet Platz, dass ein öffentliches Großprogramm gegen die Armut so viele Milliarden kosten würde, »die ohne neue Schulden kaum aufzubringen sind«. Hui!
Man könnte noch anmerken, dass die Spiegel-Titelgeschichte Teil einer ziemlich breiten Werbeoffensive für ein Buch ist. Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, bringt Anfang der kommenden Woche »Verteilungskampf« heraus. Wo immer man hinschaut dieser Tage, erklärt einem Fratzscher etwas über die Welt. Dass er dies auch im Spiegel macht und deshalb nun vielleicht noch ein paar mehr Leute wissen wollen, »Warum Deutschland immer ungleicher wird« (so der Untertitel), wird man nicht schlechtreden wollen. Nur eines noch: Dass eine Titelgeschichte über Ungleichheit anno 2016 ohne einen Hinweis auf Thomas Piketty und dessen »Kapital im 21. Jahrhundert« auskommt, dem aktuellen Großwerk über die Folgen von Vermögensungleichheit auf Ökonomie und Demokratie, die riesige Kluft bei den Einkommen, die Schere zwischen Arm und Reich – das muss, nun ja, »ungläubiges Staunen« auslösen. Von einem gewissen Karl Marx ganz zu schweigen.
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