»Entscheidender Moment«: Proteste und soziale Krise in Irak. Ein Überblick
Im Irak bringen Tausende ihren Unmut über Korruption, Armut, Erwerbslosigkeit und enttäuschte Hoffnungen auf der Straße zum Ausdruck. Die Behörden gehen massiv gegen die Demonstrierenden vor, Dutzende Tote sind bereits zu beklagen. Angesichts der Rufe nach einem »Sturz des Regimes« werden bereits Parallelen zu den arabischen Aufständen von 2011 gezogen. Ein Überblick:
»Der Irak durchlebe gerade einen entscheidenden Moment«, heißt es bei Spiegel online, wo der Schriftsteller Ahmed Saadawi zitiert wird: »Die tatsächlich Mächtigen müssen verstehen, wie wichtig es ist, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen. Andernfalls wird sich die Lage weiter verschlechtern.«
Der Sender ntv berichtet über die Auslöser der Aufstände: »Anders als in vielen früheren Demonstrationen sehen Beobachter diesmal keine politischen Parteien hinter den Protesten. Die Demonstranten seien überzeugt, dass nur ein grundlegender Umbau des politischen Systems die Korruption beenden können, schrieb der Analyst Ihsan Al-Schamari von der Universität Bagdad auf Twitter. Sie glaubten nicht, dass die politische Elite fähig zu Lösungen sei.«
Bei der Deutschen Welle heißt es ergänzend: »Dieses Mal scheinen die Proteste eher spontan ausgebrochen zu sein. Mit angefacht wurden sie allerdings offenbar durch die Entlassung eines populären Generals. Abdel-Wahab al-Saadi, bislang Vizechef der irakischen Antiterroreinheiten und eine wichtige Figur bei der Bekämpfung des ›Islamischen Staats‹, wurde auf einen anderen Posten versetzt. Seine Anhänger glauben, er sei geschasst worden, weil er dem Einfluss der Iran nahestehenden schiitischen Milizen in die irakische Armee im Wege stand.« Die Proteste würden »bislang in mehrheitlich schiitischen Städten und Regionen des Irak« stattfinden. »Sunniten und Kurden spielen bisher keine erkennbare Rolle, ebenso wenig wie interkonfessionelle Auseinandersetzungen. Vieles deutet eher auf einen Konflikt innerhalb der schiitischen Bevölkerungsmehrheit hin, in der es sowohl pro- wie anti-iranische Strömungen gibt.«
Doch wird in den meisten Berichten betont, dass soziale Unzufriedenheit, Enttäuschung über die Regierung, Armut und Perspektivlosigkeit der entscheidende Treiber der Demonstrationen sind. »Experten warnen schon länger vor einer Explosion des Unmuts, besonders unter der stark von Arbeitslosigkeit betroffenen Jugend«, heißt es bei der Deutschen Welle, die Daniel Gerlach zitiert, den Chefredakteur des deutschen Nahost-Fachmagazins »Zenith«.
Gerlach sehe »folgende Ursachen: mangelnde Stromversorgung, mangelnde öffentliche Dienstleistungen, hohe Arbeitslosigkeit, Armut sowie Korruption.« Und: »Die Iraker haben das Gefühl, dass einerseits der Staat überall eingreift, sich entwickelt und viele Leute dabei immer reicher werden, dass aber andererseits viele einfache Menschen völlig unterprivilegiert sind.«
Und weiter: »Im Irak sehen wir zudem das Phänomen, dass die Bevölkerung als Bittsteller auftritt und der Staat als Wohltäter.« Den Irak beschreibe Gerlach als »eine defizitäre Demokratie, die unter der Günstlingswirtschaft verschiedener Akteure des komplexen Herrschaftssystems leide. Führende Vertreter der unterschiedlichen politischen, konfessionellen und regionalen Gruppen würden auf die Ressourcen des Landes zugreifen und diese oftmals für sich behalten bzw. unter ihren Anhängern verteilen. Dieses Geld fehlt anderswo schmerzlich – etwa im Gesundheitswesen oder bei anderen öffentlichen Dienstleistungen.«
Zu den strukturellen Problemen in Irak noch einmal Spiegel online: »In der Praxis verhindern Korruption und Sicherheitsbedrohungen demokratische Regierungsführung«, wird dort der US-Thinktank Freedom House zitiert. Von Maria Fantiappi, die für die International Crisis Group arbeitet, heißt es: »In der bereits angespannten Lage in der Region könnten Proteste das Überleben der Regierung gefährden und das Land weiter destabilisieren.« Sie glaube, »dass etwaige kleine Zugeständnisse der Regierung die Demonstranten nun nur vorübergehend besänftigen könnten. Es droht ein neuer größerer Wutausbruch.«
Es sind nicht die ersten Proteste, die im Kern soziale Ursachen haben. Auch im Sommer 2018 gab es viele Demonstrationen und schon damals war die Lage in Irak mit dem Arabischen Frühling verglichen worden.
Die »Welt« zitierte damals Yousef Ibrahim, Irakexperte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung im jordanischen Amman: »Es geht den Menschen nicht mehr allein um Strom und Wasser. Das ganze System soll gestürzt werden.« Und weiter: »Die Proteste zeigen, wie groß die Frustration mit dieser Demokratie und ihren Eliten ist. Die Menschen wollen Veränderungen, einen grundlegenden Wandel.«
Im Mai 2018 hatte bei den Parlamentswahlen das Bündnis des Predigers Muqtada al-Sadr die Wahlen gewonnen. »Der radikalschiitische Geistliche gibt sich volksnah und kritisch gegenüber der korrupten Politikerelite. Die Ebert-Stiftung über al-Sadr: »Al-Sadr streitet für einen irakischen Staat mit gleichen Rechten und Chancen für alle Bürger_innen – unabhängig von konfessioneller oder ethnischer Zugehörigkeit. Einmischungen aus Washington und Teheran lehnt er gleichermaßen ab. Er ist ein für ihn nicht risikofreies Wahlbündnis mit politischen Kräften eingegangen, die früher in Sadristen-Kreisen gern als Ungläubige beschimpft wurden: den irakischen Kommunisten und anderen säkularen Parteien. Das gemeinsame Wahlprogramm wurde inhaltlich weitestgehend von den Kommunisten erstellt und ist zwar nicht kommunistisch, trägt aber die deutliche Handschrift einer progressiven und säkularen Partei.«
Bei den Wahlen hatte »Frustration über Korruption, schlechte Regierungsführung und fehlendes Vertrauen in die Reformfähigkeit irakischer Politik« zu »einem historischen Tiefststand bei der Wahlbeteiligung« geführt. Die offenbar schon reduzierten Erwartungen wurden seither aber erneut enttäuscht.
Christoph Sydow auf Spiegel online über die Proteste im vergangenen Sommer: » Die Probleme und Nöte, gegen die Tausende Iraker derzeit protestieren, gibt es seit Jahren. Als der Irak ab 2014 jedoch von der Terrororganisation ›Islamischer Staat‹ existenziell bedroht wurde, gerieten Korruption, Arbeitslosigkeit und mangelnde Versorgung mit Wasser und Strom lange in den Hintergrund. Nun ist der IS de facto besiegt – und trotzdem kommt im Irak kaum etwas voran.«
Im Sender ntv heißt es zu den aktuellen Aufständen: »Im Irak herrscht in der Bevölkerung unter anderem wegen der schlechten Infrastruktur und Arbeitslosigkeit großer Frust. Das rohstoffreiche Land gehört zu den weltgrößten Ölproduzenten, leidet aber unter einem ausgeprägten Energiemangel. Viele Gebiete sind nach dem Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat noch immer zerstört.«
In der FAZ heißt es zur Frage, welche Auswirkungen der IS-Terror aber auch der Kampf dagegen gehabt habe: »Noch immer sind Teile des Landes zerstört durch den langen Krieg gegen den IS. Einige der schiitischen Milizen, die unter dem Dach der ›Volksmobilisierung‹ (Haschd al schaabi) gegen die Dschihadisten zu Felde gezogen waren, haben ihre Macht ausgebaut und mafiahafte Wirtschaftsimperien aufgebaut. Die vorsichtige Hoffnung, der Aufstieg des IS und der verlustreiche Krieg könnten ein heilsamer Schock gewesen sein, der auch die alten schlechten Gewohnheiten der politischen Klasse erschüttert, scheint sich nicht zu erfüllen.«
Die Folgen des IS-Terrors werden auch anderswo als mitentscheidender Grund für die soziale Krise des Irak benannt. Eher selten wird auf die Vorgeschichte verwiesen, den US-angeführten Irak-Krieg seit Frühling 2003 und die Besetzung bis 2011.
Zur Lage in Irak schreibt das Auswärtige Amt: »Der Reichtum an fossilen Brennstoffen bildet die Basis der irakischen Wirtschaft: Mit geschätzten 150 Milliarden Fass verfügt das Land über die fünftgrößten Öl-, mit 3,6 Milliarden Kubikmeter über die zwölftgrößten Erdgasreserven der Welt. Das irakische Bruttoinlandsprodukt lag 2018 bei geschätzten 230,9 Milliarden US-Dollar. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2018 geschätzt 5.793 US-Dollar. Die Weltbank prognostiziert für 2019 ein Wirtschaftswachstum von 6,5 Prozent.«
Die Weltbank sieht die Wirtschaft des Irak ebenfalls auf Erholungskurs, dieser verlaufe aber nur »allmählich nach den tiefen wirtschaftlichen Spannungen der letzten vier Jahre. Das reale BIP dürfte 2018 dank einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise um 0,6 Prozent gewachsen sein und damit den Rückgang von 1,7 Prozent aus dem Jahr 2017 umkehren. Die Nicht-Öl-Wirtschaft gewann an Fahrt und wuchs mit 4 Prozent, während die Ölproduktion im Einklang mit der OPEC+-Vereinbarung leicht unter 2017 lag. In jüngster Zeit hat die irakische Wirtschaft mit der Unterzeichnung mehrerer Handelsabkommen mit ihren Nachbarn einen Vertrauensschub erhalten. Die Wiederaufbauarbeiten schreiten in moderatem Tempo voran. Die Inflation blieb mit 0,4 Prozent im Jahr 2018 niedrig, lag aber leicht über dem Niveau von 2017, was auf eine höhere Inlandsnachfrage sowie auf steigende Lebensmittel- und Transportkosten zurückzuführen ist.«
An der sozialen Misere ändert sich aber nichts oder nur sehr wenig. Die Entwicklungsbank Kfw schreibt: »Aktuelle Schätzungen gehen von 3,5 Millionen Kindern aus, die keine Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen… die Gräueltaten des Islamischen Staates werden noch lange nachwirken. Millionen Menschen mussten fliehen, die meisten innerhalb des Landes. Bei ihrer Rückkehr finden sie oft nur Trümmer vor.« Die Rede ist hier von »zeitweise mehr als 3 Millionen Binnenflüchtlingen«. An anderer Stelle heißt es: »Über vier Millionen Binnenvertriebene konnten inzwischen an ihre angestammten Heimatorte zurückkehren, allerdings zählen die Vereinten Nationen in Irak immer noch rund 1,7 Millionen Binnenvertriebene. Die Region Kurdistan-Irak beherbergt knapp 800.000 Binnenvertriebene.«
Bei der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit GIZ heißt es ergänzend dazu: »Zu diesen Binnenvertriebenen kommen etwa 250.000 syrische Flüchtlinge hinzu, die vorwiegend in der autonomen Region Kurdistan im Norden Schutz suchen. Insgesamt waren in dem Land Ende des Jahres 2016 mehr als elf Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Durch den bewaffneten Konflikt wurde die Infrastruktur sowie die Wasser- und Stromversorgung weitgehend zerstört.« Aktuelle Informationen zur Lage der Geflüchteten in Irak hier beim UNHCR.
Bei der Deutschen Welle wurde Hivog Etyemezian, der das UNHCR-Büro in Mossul leitet, schon 2018 mit den Worten zitiert, er höre immer wieder, dass die Probleme gelöst seien, wenn der Krieg ende. »Aber eigentlich braucht man nach einem Konflikt oft mehr Geld. Denn erst wenn sich der Staub gelegt hat, begreift man, wie viel Schaden angerichtet wurde.« Es sei einfacher, wenn ein Konflikt seinen Höhepunkt hat, Medien darüber berichten und Geldgeber das dann sehen. Die Lage jetzt, sei »viel komplexer«. Nach Angaben der Weltbank habe »sich die Armutsrate in den befreiten Gebieten des Iraks auf über 40 Prozent verdoppelt. Die UN warnen, jedes vierte irakische Kind lebe in Armut«.
Beim Länder-Informations-Portal, das von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit betrieben wird, finden sich weitere Zahlen zur aktuellen ökonomischen und sozialen Lage: Das Land stand 2017 auf dem 120. von 189 Rängen im globalen Indes der menschlichen Entwicklung (Human Development Index). Den Anteil der Armen in der Bevölkerung bezifferte der irakische Planungsminister 2016 auf etwa 30 Prozent. Und weiter: »Jüngsten Schätzungen der Weltbank zufolge liegt die Arbeitslosigkeit für 2017 bei 15 Prozent. Für Arbeitssuchende unter 24-Jährige wird der Schnitt auf ca. 32 Prozent geschätzt. Die Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt liegt wesentlich unter dem Durchschnitt der MENA-Region. Versorgungsengpässe bei Strom und Wasser sowie die mangelnde Arbeitsbeschaffung sind die Gründe für die andauernden Proteste in Iraks großen Städten. Sie stellen die Regierung, die traditionell der größte Arbeitgeber ist, vor eine riesige Herausforderung.«
Bei der Weltbank heißt es dazu aktuell: »Die monetäre Armutsquote dürfte aufgrund des jüngsten Wirtschaftswachstums und der Verbesserung der Sicherheitslage gegenüber dem Niveau von 2014 (22,5 Prozent) sinken, wird aber weiterhin ungleichmäßig über das Land verteilt bleiben. Der Lebensstandard in den Konfliktgebieten liegt möglicherweise aufgrund von Störungen auf dem Arbeitsmarkt und in der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit noch unter dem Niveau von 2014. Binnenvertriebene haben wahrscheinlich auch schwere Wohlfahrtsverluste durch den Verlust von Arbeitsplätzen und Lebensgrundlagen erlitten. Diese Bedingungen haben das Potenzial, eine niedrige, aber anhaltende Unsicherheit im Nordirak aufrechtzuerhalten. In jüngster Zeit hat es eine Verbesserung in mehreren nicht einkommensbezogenen Dimensionen des Sozialschutzes gegeben. Die multidimensionale Armutsquote sank von 6,8 Prozent im Jahr 2014 auf 3,3 Prozent im Jahr 2017/18. Die Zunahme der Schulbesuche, der Ausbau der Trinkwasserversorgung und der Abwasserentsorgung haben zum Rückgang der multidimensionalen Armut beigetragen.
Die Arbeitsmarktergebnisse sind jedoch nach wie vor Anlass zur Sorge, insbesondere für Frauen und Jugendliche. Mit 48,7 Prozent hat das Land eine der niedrigsten Erwerbsquoten der Welt und in der Region vor allem bei Frauen (12 Prozent) und Jugendlichen (26 Prozent). Die Arbeitslosenquote, die vor der ISIS- und Ölkrise zurückging, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9 Prozent im Zeitraum 2017/18 gestiegen. Darüber hinaus sind fast 17 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung unterbeschäftigt. Die Unterauslastung ist bei den Binnenvertriebenen besonders hoch, fast 24 Prozent der Binnenvertriebenen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Die Krisen haben den allmählichen Fortschritt in der Frauenbeschäftigung untergraben; die Arbeitslosenquote der Frauen stieg von 11,3 Prozent vor der Krise auf 20,7 Prozent im Jahr 2017. Außerdem haben mehr als ein Fünftel der erwerbstätigen Jugendlichen (15 bis 24 Jahre) keinen Arbeitsplatz, und mehr als ein Fünftel der erwerbstätigen Jugendlichen ist weder in Beschäftigung noch in Bildung oder Ausbildung.
Hinzu kommen die Katastrophen, die – weil regional begrenzt – nur selten in den internationalen Medien Platz finden. Die Zeitschrift »Zenith« hat so eine Geschichte aufgeschrieben: »Über ein Jahr, nachdem der IS aus Mosul vertrieben wurde, bangen die Viehzüchter im Umland um ihre Existenz: Denn neben den Kriegsfolgen dezimiert auch die Wasserkrise die Herdenbestände. Unterstützung erhält nur, wer gute Beziehungen hat.«
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