Letzte Rettung
Uganda hat große Pläne. Ab 2025 soll eine gut 1.400 Kilometer lange Pipeline von dem ostafrikanischen Land über Tansania täglich 230.000 Barrel Erdöl zum Indischen Ozean transportieren. An dem Projekt beteiligt ist auch der französische Energiekonzern Total. Kritiker:innen warnen nicht nur vor möglichen Risiken für die Umwelt. Angesichts der anstehenden Energiewende stellen sie auch die Wirtschaftlichkeit der Pipeline in Frage. Anfang Februar äußerte sich Ugandas Präsident Yoweri Museveni zu den Befürchtungen, dass es womöglich gar keinen Markt für ugandisches Öl geben werde: »Unmöglich! Ich habe ein T-Shirt, das zu 65 Prozent aus Polyester besteht.« Zwar werde in naher Zukunft weniger Benzin gebraucht, räumte Museveni ein, »doch andere Arten der Erdölnutzung werden noch lange Bestand haben«.
Mit seinem Verweis auf den Kunststoff Polyester zitiert Museveni Prognosen, die der Petrochemie eine große Zukunft voraussagen. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) wird Plastik bis 2050 für die Hälfte des Wachstums des Ölmarktes verantwortlich sein und somit zunehmend Benzin, Diesel oder Kerosin als Geschäftsfeld der Erdölkonzerne ablösen. Unternehmen wie die britisch-niederländische Royal Dutch Shell oder das US-amerikanische ExxonMobil haben in den vergangenen Jahren Milliardenbeträge investiert, um ihre Kapazitäten in der Plastikproduktion zu erhöhen. Häufig direkt neben Raffinerien entstehen zahlreiche neue petrochemische Komplexe. Das Erdöl wird dort destilliert und zu Rohbenzin (Naphtha) verarbeitet, das für die Plastikherstellung notwendig ist. Auch Chemieunternehmen wie BASF erhöhen ihre Investitionen in diesem Sektor.
Aufgrund seiner Langlebigkeit, des niedrigen Preises und der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten hat Plastik zweifellos einen hohen Gebrauchswert. Kunststoffe sind in Computern und Smartphones, Zahnbürsten, Küchengeräten, Kleidung, Verkehrsmitteln, medizinischer Technik oder Windkraftanlagen enthalten. Erdölfirmen haben die Nutzung von Plastik in immer mehr Bereichen erfolgreich propagiert.
Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Erdöl- und die Chemieindustrie eng miteinander verbunden. Wurde Plastik zunächst aus Kohle hergestellt, basieren heute 99 Prozent aller Kunststoffe auf Erdöl und Gas. Petrochemische Produzent:innen gehören häufig zu internationalen Gas- und Erdölfirmen. Der Aufstieg des Plastiks begann im Zuge des Zweiten Weltkriegs, als US-Unternehmen bei der Verarbeitung von Erdöl deutliche Fortschritte erzielt hatten und das »schwarze Gold« ausreichend vorhanden war. Weltweite (Re-)Industrialisierungsprozesse beflügelten die petrochemische Industrie in den 1960er und 1970er Jahren mit zweistelligen Wachstumsraten. Aber Plastik leistete mehr, als nur andere Materialien zu ersetzen. Sein Siegeszug dauerte vor allem deshalb an, weil sich ab Ende der 1970er Jahre das Modell der Einwegverpackungen durchsetzte. Bei den Konsument:innen haben diese häufig eine Lebensdauer von nur wenigen Minuten, für die produzierenden Unternehmen sind sie eine Goldgrube. Heute stellt Einwegplastik weltweit etwa die Hälfte des insgesamt produzierten Kunststoffs dar. Der dadurch beförderte schnelllebige Konsum bringt Unmengen an Plastik hervor. Wurden 1950 jährlich nur zwei Millionen Tonnen Kunststoff produziert, waren es 2015 bereits 380 Millionen.
Lobbygruppen aus dem Umfeld von Großunternehmen gelang es in den USA seit den 1950er Jahren immer wieder, Gesetze zu verhindern, die die Verwendung von Plastik einschränken sollten. In den 1970er Jahren etwa erreichten Plastik- und Getränkehersteller, dass Gerichte in New York eine Steuer auf Plastikflaschen und im Bundesstaat Hawaii ein Verbot kippten. Als der US-Kongress über eine mögliche Einschränkung von Einwegverpackungen debattierte, behaupteten die Lobbyist:innen, dass dadurch Arbeitsplätze gefährdet seien – und hatten Erfolg.
Die petrochemische Industrie brachte nicht nur immer neue Nutzungsvorschläge ein, sondern verbreitete die Vorstellung, dass Recycling und technologischer Fortschritt die Vermüllungsprobleme beseitigen und der Plastikproduktion einen nachhaltigen Anstrich geben könnten. Die Verantwortung für den anfallenden Müll wälzten die Konzerne auf die Konsument:innen ab, die Verpackungen vermeintlich achtlos wegwerfen. Die Produktion von Plastik sollte hingegen nicht weiter thematisiert werden. In den USA leitete der Generalstaatsanwalt von Kalifornien, Rob Bonta, Ende April dieses Jahres eine weitreichende Untersuchung gegen ExxonMobil ein. Dem US-Ölkonzern wird vorgeworfen, seit Jahrzehnten von den Gefahren durch Plastik für die Umwelt und die öffentliche Gesundheit gewusst zu haben. Mit einer »aggressiven Kampagne« habe der Konzern versucht, den »Mythos aufrechtzuerhalten, dass Recycling die Kunststoffkrise lösen kann«. Bis heute unterstützen zahlreiche Unternehmen Initiativen, die das Abfallproblem auf diese Weise angehen wollen. Dabei ist Plastik wesentlich schwieriger zu recyceln als Papier, Stahl, Glas oder Aluminium. Die Qualität lässt im Gegensatz zu anderen Rohstoffen von Mal zu Mal nach. Auf dem Weltmarkt ist sauberes Neuplastik deutlich billiger zu haben als recyceltes. Die unter dem Stichwort »Kreislaufwirtschaft« angestrebte ständige Wiederverwertung entpuppt sich also als Farce.
Tatsächlich wurden von den seit 1950 weltweit verursachten 6,3 Milliarden Tonnen Plastikmüll nur neun Prozent recycelt. Zwölf Prozent wurden zudem verbrannt, entweder unter freiem Himmel oder zur klimaschädlichen Energiegewinnung. Mehr als 80 Prozent des jemals entstandenen Plastikmülls lagern also auf Müllhalden – oder in der Natur. Der Abfall wurde und wird vor allem in ärmere Länder exportiert, die nur wenig Recycling betreiben. China importiert seit 2018 offiziell keinen Plastikmüll mehr. Seitdem gingen die Exporte aus dem Norden eher nach Malaysia, Indien, Thailand, Indonesien, Vietnam, in die Türkei, nach Bulgarien oder teilweise auch in afrikanische Länder, die bisher vor allem für den Import von Elektroschrott bekannt waren. Am illegalen Schmuggel mit Plastikmüll verdienen nicht zuletzt kriminelle Netzwerke, wie der im Juni in der ARD gesendete Dokumentarfilm »Die Recyclinglüge« eindrucksvoll aufzeigt.
Längst versinkt die Welt förmlich im Müll. Kunststoffverpackungen sowie Kleinteile aus Mikro- und Nanoplastik finden sich in Meeren, auf Bergen, dem arktischen Eis, in Trinkwasser, Lebensmitteln oder menschlichem Blut. Rund um petrochemische Komplexe besteht eine gesundheitliche Gefährdung der Anwohner:innen durch Luftverschmutzung. Die Ausweitung der energieintensiven Plastikproduktion führt zu steigenden CO2-Emissionen und ist mit den weltweiten Klimazielen unvereinbar. In vielen Ländern steht die Mehrheit der Bevölkerung einer weiteren Ausweitung dieser Produktion längst kritisch gegenüber. So gab es in den vergangenen Jahren etwa an verschiedenen Orten in den USA, in Taiwan oder der Volksrepublik China Proteste gegen den Ausbau der petrochemischen Industrie. Zwar ergreifen Unternehmen wie Nestlé, Unilever oder Coca-Cola mittlerweile freiwillig Maßnahmen, um den Anteil ihrer Plastikverpackungen zu reduzieren. Die Konzern-Kampagnen für Recycling erinnern allerdings eher an Greenwashing und lenken vom Kern des Problems ab. Auch andere freiwillige Maßnahmen, wie etwa das sogenannte Plastic Offsetting, bei dem Unternehmen (und Einzelpersonen) Kompensationen für die Nutzung von Kunststoffen zahlen können, führen die Verbraucher:innen in die Irre. So sammeln Nichtregierungsorganisationen und spezialisierte Firmen wie rePurpose Global gegen Bezahlung eine entsprechende Menge Kunststoff in ärmeren Ländern ein. Im Gegenzug erhält ein Unternehmen dann das Zertifikat »plastikneutral«, selbst wenn es weiterhin ebenso viel in Plastik verpackt wie zuvor. Einfache Lösungen gibt es indes nicht: Sogenannte Biokunststoffe machen bisher unter ein Prozent Marktanteil aus und sind allein schon aufgrund von beigemischten Materialien wie in Monokultur angebautem Zuckerrohr häufig auch problematisch. Ähnliches gilt für den simplen Ersatz durch alternative Verpackungsmaterialien wie Aluminium oder Papier mit dem dahinterstehenden Rohstoffverbrauch von Bauxit oder Holz. Daher muss es vor allem um die Frage gehen, welche Nutzung von Plastik wirklich gesellschaftlich notwendig ist und auf welche verzichtet werden sollte. Denn um das Plastikproblem zu lösen, ist eine Verringerung der zukünftigen Produktion unumgänglich. Entsprechend steigt weltweit der Druck auf die Politik, die dazu bereits zaghafte Schritte eingeleitet hat: Gemäß der EU-Richtlinie für Einwegplastik ist der Verkauf einiger Wegwerfprodukte wie Geschirr oder Trinkhalme seit Juli vergangenen Jahres verboten. Bis 2025 sollen PET-Flaschen zu mindestens 25 Prozent recyceltes Material enthalten. Bereits über 100 Länder und mehrere US-Staaten haben Gesetze zur teilweisen Verringerung von Plastikabfällen erlassen oder geplant. Dass die Industrie gleichzeitig und trotz der bekannten umfassenden Probleme in eine weitere Ausweitung der Plastikproduktion investiert und diese für einen sicheren Wachstumsmarkt hält, ist bedenklich. Da in den industrialisierten Ländern kaum mehr Wachstumszahlen zu erreichen sind, müsste der Absatz im globalen Süden steigen, wo meist weniger Regulierungen bestehen und Unternehmen häufig Mittel und Wege finden, schärfere Gesetze zu verhindern. Einen deutlichen Schritt nach vorn könnte ein globales Abkommen darstellen. Anfang März dieses Jahres vereinbarte die Umweltversammlung der Vereinten Nationen (UNEA) in Kenias Hauptstadt Nairobi, Verhandlungen über ein rechtlich verbindliches Plastik-Abkommen aufzunehmen. Dieses soll bis Ende 2024 stehen und könnte einen Beitrag dazu leisten, die Produktion zu reduzieren und die Recyclingquote zumindest zu erhöhen. Als Vorbild dient unter anderem das Montrealer Protokoll von 1987, das den Ausstieg aus Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) einleitete, die eine Gefährdung für die Ozonschicht darstellen. Ruanda und Peru setzten sich mit ihrem Vorschlag durch, im zwischenstaatlichen Verhandlungskomitee vor allem über die Produktion von Kunststoffen zu sprechen. Der Gegenvorschlag von Japan wollte den Schwerpunkt hingegen auf die Frage des Recyclings legen. Ganz im Sinne der petrochemischen Industrie – denn nur so könnte sie ihr Ziel erreichen, immer mehr von jenem Stoff herzustellen, der grundlegende Eigenschaften des Kapitalismus in sich vereint: wandelbar, weltbeherrschend und schwer wieder loszuwerden.
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