Erneuerung der SPD? It’s the economy, stupid
Eine Erneuerung der SPD müsste ein wirtschaftspolitisches Fundament haben. Dazu wäre eine Debatte über die politische Ökonomie des Kapitalismus angebracht, die das Thema aus kleinen Parteizirkeln herausholt. Wird der Weckruf »It’s the economy, stupid« verstanden?
In der SPD steht wie bei anderen Parteien auch nach einer Wahlniederlage eine Wiederaufführung des beliebten Stückes »Erneuerung« an. Inszenierungen dieser Art folgen unterschiedlichen Dramaturgien, es geht um innerparteiliche Macht, um künftige Ressourcen des Politischen, um die Bedienung medialer Erwartungen und um Stimmungsdemokratie: »Die Leute wollen jetzt, dass wir selbstkritisch reden.« Es kommt nicht selten vor, dass die Aufführung des Stücks »Erneuerung« dann doch direkt in eine Spielzeit mit einem komplett alten Programm mündet. Im Hintergrund rumort es ohnedies: Das SPD-Wirtschaftsforum findet, dass die Partei im Wahlkampf zu sehr das Thema Gerechtigkeit betont hat. Wie läuft es diesmal bei den Sozialdemokraten?
Andrea Nahles, die sich im Tandem mit dem taumelnden Noch-SPD-Chef Martin Schulz erst einmal bis zur Niedersachsenwahl in die erste Reihe der Sozialdemokraten gestellt hat, sorgte bereits mit Äußerungen für Schlagzeilen, die dem derzeit parteiübergreifenden Rechtsdrall entsprachen: mehr innere Sicherheit, härtere Rhetorik gegen Migranten. Nahles gründete das, was sie dazu sagte, auf den Hinweis, »soziale Gerechtigkeit ist der politische Kern der Sozialdemokratie. Aber wenn die SPD Volkspartei sein will, muss sie bei anderen Themen ebenfalls Präsenz zeigen.« Die Zukunft der Sozialdemokratie wird sich aber an der Nahtstelle entscheiden, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse gestaltbar werden, weil man eine bestimmte Haltung zur Ökonomie einnimmt, diese in gewisser Weise versteht, daran anknüpfend politische Konsequenzen verfolgt und so weiter.
Agenda bleibt für Nahles wohl auf ewig »notwendig«
Für die SPD und Nahles heißt das einmal mehr: eine Position zur Agenda 2010 einzunehmen. Die wird immer noch als »ein notwendiger Reformimpuls« geglaubt, in der sozialdemokratischen Historisierung der Schröder-Jahre wird dies aber nun mit dem Zusatz »wir haben viel zu lange gebraucht, den Schalter umzulegen« ergänzt. Soll heißen: Man hätte schneller Maßnahmen ergreifen müssen, die »die negativen Seiten der Globalisierung« in den Blick nehmen. Damit ist angesprochen, was in der wirtschaftspolitischen Debatte schon lange gilt: Aus einer Perspektive, die Deutschland als Betrieb betrachtet hat, war die Agenda tatsächlich »erfolgreich«, aber eben weder volkswirtschaftlich, noch in einem als solidarisch verstandenen Sinne gegenüber zum Beispiel den europäischen Partnern, und schon gar nicht was die soziale Integration hierzulande angeht. Die Risse wurden tiefer, auch global betrachtet.
Nun kommt Nahles immerhin zu der Erkenntnis, die SPD müsse »wieder lernen, den Kapitalismus zu verstehen und, wo nötig, scharf zu kritisieren«. Das ist anders gemeint als etwa bei Oskar Negt, der mit Blick auf die sozialdemokratische Matrix vor nicht allzu langer Zeit darauf drängte, sich wieder um mehr Marx zu bemühen. Nahles pflichtet den »Spiegel«-Fragern gleich bei, dass es »selbstverständlich« um »die Erhaltung und die Gestaltung der sozialen Marktwirtschaft« gehe. Womit der soeben angekündigte Versuch, eine wirtschaftspolitische Lernkurve zu starten, eigentlich schon wieder vorbei ist – konforme Sprachstanzen des Status quo werden nicht unbedingt dabei helfen, sich eine Idee von der Ökonomie zu machen, die auch politisch zu einem Kurswechsel führen könnte.
»Ein radikal anderes ökonomisches Leitbild«
Dabei wäre jetzt die Gelegenheit, sich Bill Clintons Diktum »It’s the economy, stupid« zum Motto einer Debatte zu machen. Thomas Fricke hat in seiner Kolumne von der Chance der SPD gesprochen, jetzt »ein radikal anderes ökonomisches Leitbild zu entwickeln«. Er selbst spricht von »drei Aufgaben«, wobei die Umkehr des Auseinanderdriftens der Einkommen und der Vermögen zuerst genannt wird, zweitens steht »eine bessere Globalisierung samt besser geregeltem Welthandel und Digitalwandel« auf dem Zettel und als dritte Großaufgabe sieht Fricke, »Banken wieder stärker dazu zu bringen, ihrer ursprünglichen Bestimmung nachzugehen und Kredite für Investitionen zu vergeben – statt zum Großteil für Finanzklimbim«. Er hat auch Vorbilder parat, an denen sich die Sozialdemokratie orientieren solle: »Wie schnell sich mit so einem neuen Leitbild Wählerschaften mobilisieren lassen; das zeigen auch die Erfolge von Politikern wie Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn in Großbritannien«, schreibt Fricke.
Aber sind die drei Ziele schon ein neues wirtschaftspolitisches Leitbild? Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung IMK hat zu der Debatte den Hinweis beigesteuert, »das Streben nach einer sozialen Demokratie erfordert eine Wirtschaftspolitik, in der dieses Streben jederzeit erkennbar wird«. Er sieht vor allem die Ausweitung der Kampfzone auf Europa als drängend an – es gehe um »eine europäische Wirtschaftspolitik aus europäischer Perspektive« und darum, »wirtschaftspolitische Ziele zu setzen, die die EU und den Euro-Raum zu einem Ort sozialer Demokratie werden lassen. Das bedeutet vor allem, die europäische Integration muss nunmehr aus europäischer und nicht aus nationaler Perspektive demokratisiert werden«.
Macron und Europa, Enderlein und Pisani-Ferry
Womit Horn bei Emmanuel Macron und dessen Vorschlag »einer europäischen Wirtschaftsregierung mit eigenen wirtschaftspolitischen Kompetenzen unter voller Kontrolle eines europäischen Parlaments oder entsprechender Ausschüsse nationaler Parlamente« ist. Auch Nahles dankte für Macrons Vorschläge, sie zitierte vor allem »ein neues gemeinsames Europa mit einem starken, gestaltenden Staat« sowie die gemeinsamen Mindestlöhne und den »harmonisierten Sozialstaat«.
Darüber wäre zu reden, allerdings nicht ohne die kritische Brille abzunehmen. In der neuen Ausgabe von »Sozialismus« hat sich Michael Wendl einen wirtschaftspolitischen »Schlüsseltext der Ökonomen Hendrik Enderlein und Jean Pisani-Ferry« noch einmal vorgenommen. Und er verbindet dies mit einem Blick auf den generellen Zustand der Diskussionen in der deutschen Sozialdemokratie: »Die SPD als Partei hat schon lange kein wirtschaftspolitisches Konzept mehr.« Die letzte tiefer gehende Debatte habe 1997 zwischen Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder stattgefunden, zwischen der Ausrichtung hin zu einem »keynesianischen Konzepts der Stärkung der Nachfrageseite und der Verringerung sozialer Ungleichheit« und einer »vulgären Variante der neoklassischen Doktrin«, die immer nur die »zu hohen Kosten« des Faktors Arbeit sieht.
Was Wendl zu dem Text von Enderlein und Pisani-Ferry schreibt, soll hier nur kurz aufgegriffen werden. So versuchten die Autoren zwar, »sich der schnellen Zuordnung zu einem der beiden großen Paradigmen der Wirtschaftspolitik, dem neoklassischen und dem keynesianischen, zu entziehen. Sie akzeptieren die Schuldenbremse, plädieren aber für mehr öffentliche und private Investitionen.« Aber die arbeitsmarktpolitischen Vorschläge für Frankreich seien »eindeutig neoklassisch begründet«, dies treffe auch für »Überlegungen zu einer stärkeren ökonomischen Konvergenz in Europa und die vorgeschlagenen Investitionsfonds« zu.
Andererseits aber gehe es auch »um die Stabilisierung eines europäischen Sozialmodells, wobei sie in dieser Frage sehr vage und inhaltsarm bleiben. Immerhin haben sie ein Bewusstsein dafür, dass die Lohnzurückhaltung in Deutschland für die Stabilität der Eurozone ein Problem ist und plädieren daher für höhere Löhne in Deutschland«. Kurzum: Wendl sieht in dem Papier »einerseits eine Neuauflage des Dritten Wegs eines dieses Mal deutsch-französischen Sozialliberalismus, andererseits heben sich diese Empfehlungen vom europäischen Desinteresse der Regierung Schröder positiv ab«. Unter dem Strich aber bleibe, dass diese Strategie »das politische Desaster der Regierung Schröder nicht verstanden« habe.
Wirtschaftspolitik »in kleinen Parteizirkeln und bei Beratern«
Einen wichtigen Punkt macht Wendls »Sozialismus«-Beitrag aber auf einer anderen Ebene – der Beschreibung des Zustandes der wirtschaftspolitischen Debatte der Sozialdemokratie selbst. Diese finden seiner Meinung nach allenfalls »in kleinen Parteizirkeln der SPD-Linken und bei den wirtschaftspolitischen Beratern der SPD-Vorsitzenden statt«. Es gebe zwar mit dem Institut IMK und einer Reihe von in der Regel postkeynesianischen Ökonomen der Berliner Hochschulen für Wirtschaft und Recht bzw. für Technik und Wirtschaft so etwas wie eine sozialdemokratische Crowd wirtschaftspolitischer Ideenfindung, die auch über die parteinahe Friedrich-Ebert-Stiftung in die SPD-Öffentlichkeit gelangen – dort aber praktisch auch sofort verhallen, weil sich die parteipolitischen Diskurse nicht auf dieser Ebene von Abstraktion, Theorie und Differenzierung bewegen. Ein bisschen aus der Reihe fielen Debatten über den Freihandel und die dazugehörigen Abkommen. Aber sonst?
Das ist übrigens keine Spezialität der SPD. Wer könnte aus dem Stegreif wirtschaftspolitische Streitfragen und Großdiskussionen nennen, die in anderen Parteien der linken Mitte stattfinden? Bill Clintons »It’s the economy, stupid« wäre auch dort ein angebrachter Weckruf.
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