Wirtschaft
anders denken.

Erwartung und Enttäuschung: Wie neu ist die »neue Klassenpolitik«?

29.05.2018

Frank Engster und Hans-Günter Thien untersuchen »die Klasse«. Was Linke davon lernen könnten? Manches, wo »neu« draufsteht, gibt es schon ziemlich lange. Anmerkungen zur Debatte um die »Klassenpolitik« und zu zwei Büchern, mit denen sich rote Fäden wieder aufnehmen ließen, ohne in alte Verhedderungen zurückzufallen.

Unlängst war in einer linken Tageszeitung die Aufforderungen zu lesen, soziale Kämpfe »auf eine breite proletarische Basis zu stellen«. Der Appell reihte sich ein in ähnliche Äußerungen, die sich seit einigen Monaten gerade auch unter Jüngeren zu einer Diskussion über eine »neue Klassenpolitik« verdichtet haben. Es geht dabei um die Rolle der sozialen Frage in linker Praxis, um die Schwierigkeiten verbindender Kritik, um vermeintlich neoliberale Identitätshuberei und manches andere.

Wenn man von einer gemeinsamen Stoßrichtung sprechen will, dann ließe sie sich vielleicht in der Parole »Mehr Klasse wagen« zusammenfassen. Besagter Beitrag fängt allerdings mit dem Bekenntnis eines Orientierungsproblems an: »Angesichts der veränderten Produktionsverhältnisse lässt sich mittlerweile schwer bestimmen, wer dazugehört und wer nicht«, heißt es da mit Blick auf jene Klasse, auf die sich schon seit Arbeiterbewegungsgedenken die Hoffnungen richten: die arbeitende also. »Aus diesem Grund kann das Proletariat auch nicht länger durch die Stellung der Menschen im Produktionsprozess definiert werden. Eine zeitgemäßere Definition wäre die Zugehörigkeit zum Proletariat anhand der subjektiven Haltung zum Klassenkampf.« Wer gegen Ausbeutung ist – wörtlich war von Widersetzen und Bekämpfen die Rede –, könne »Teil des Proletariats sein«.

Was da als »inklusiver Klassenbegriff« vorgeschlagen wurde, sorgte im Internet für einige Verwunderung – und für Ermahnungen, sich doch bitte nicht derart von klassentheoretischen Essentials zu verabschieden. Klasse, diesen Hinweis hörte man da auch, sei eine Frage der Stellung im kapitalistischen Verwertungsprozess.

Überwinden heißt verstanden haben

Was man dazu sagen könnte? Erstens, dass es ein Wesenszug kritischer Kritik ist, immer wieder und gerade auch Essentials infrage zu stellen, also: zu revidieren, und sei es Definitionen von Begriffen. Zweitens, dass es dabei hilfreich ist, sich an einen Ausspruch des italienischen Marxisten Antonio Labriola zu erinnern, der einmal in der Debatte um den Revisionismus von Eduard Bernstein sagte, »verstehen heißt überwinden. Aber es scheint mir doch, notwendig, hinzuzufügen: Überwinden heißt verstanden haben«.

Und drittens, dass man das Phänomen »neue Klassenpolitik« vielleicht erst einmal in seine Bestandteile zerlegen müsste, um es besser zu verstehen. Dabei geht es gar nicht so sehr um den Inhalt dieser »neuen Klassenpolitik«, sondern um das, was man ihre Verlaufsform nennen könnte.

Erstens wird da »über Klasse« geredet und damit ein Begriff wieder zurück in den politischen Diskurs geholt, der aus verschiedenen Gründen eine Weile verschüttet war (jedenfalls bis zur Finanzkrise). Es gab dafür Gründe: der Missbrauch der Kategorie durch real existierende Herrschaftspolitik im Realsozialismus; eine Sozialwissenschaft, die vom Verschwinden des Proletariats, hoher Ausdifferenzierung und einer imaginierten »Mitte« ausging; eine selbstkritische Zurückhaltung, weil schon allzu viele überzogene Erwartungen an ein historisches Subjekt und seine Rolle den kritischen Blick vernebelten.

Geredet, aber nicht betrieben

Damit hat ein zweiter Aspekt zu tun, der sich zugespitzt so formulieren ließe: Da wird zwar über »neue Klassenpolitik« geredet, aber sie wird nicht betrieben. Das hat etwas mit der politischen Lage zu tun, mit der Stärke von gesellschaftlichen Akteuren, mit Anlässen und Strategien. Aber noch viel mehr damit, dass man erst einmal sagen müsste, was alles unter dem Begriff »Klassenpolitik« zu fassen sein könnte.

Also etwa: Gehören Gewerkschaftsarbeit, Tarifauseinandersetzungen, transnationale Protestformen, Parteienpolitik, die sich entlang des Widerspruchs Kapital und Arbeit manifestiert, dissidente Alltagspraktiken, in denen Milieu übergreifend Gesellschaftskritik nicht nur formuliert, sondern auch »gemacht« wird, dazu? Ist Klassenpolitik im Sinne des Begriffs gemeint, den August Bebel im Kopf 1897 hatte, oder doch eher im Sinne Hans Mommens oder Friedrich Naumanns?

Klassenpolitik findet sich im Zusammenhang der Debatte um eine Mosaiklinke bei Hans-Jürgen Urban (2014) oder in den Diskussionen um die Folgen des Begriffs »Prekariat« (2010). Ist Klassenpolitik schon deshalb etwas Gutes, weil darin »Klasse« vorkommt? Oder macht nicht auch die »andere Seite« Klassenpolitik und was heißt das für so einen Begriff? Hat man das geklärt, wäre danach zu entscheiden, ob die Hinzufügung des Wörtchens »neue« überhaupt sinnvoll ist.

»Begriff und Gebrauch« der Klasse

Und drittens: In der Debatte um »neue Klassenpolitik« geht es nicht zuletzt um Klassenanalyse, die auch mit dem Ergebnis betrieben werden kann, eine theoretische Überlegung durch eine andere, neue zu ersetzen. Kann, muss jedoch nicht. Was aber muss: die Analyse. Gelegenheit, auf zwei neue Bücher hinzuweisen, die sich mit »Begriff und Gebrauch« der Klasse »in der Gesellschaftskritik vor, bei und nach Marx« befassen – wie der Untertitel einer vergleichsweise kurzen, aber lesenswerten Ausgabe der »Philosophischen Gespräche« lautet.

Frank Engster lädt dort zu einem »Parforceritt durch die Geschichte« einer mehr oder minder linken Handhabung eines Wortes, um das sich nun auch wieder manche Kontroverse entzündet hat. Engster sondiert das Gelände der Zeit vor Karl Marx ebenso wie die »Unschärferelation« des Begriffs beim Alten aus Trier selbst – die Elemente des Ökonomischen und des Politischen in sich trägt, teils widerspruchsvoll, teils aufeinander bezogen.

Für die Debatte »nach Marx« unterscheidet Engster drei jeweils rund 50 Jahre andauernde Sequenzen, vom traditionellen Marxismus bis zu den neuen Marx-Aneignungen. Substanz und politische Praxis des jeweiligen Klassenbegriffs (oder der in der Linken konkurrierenden Bestimmungen) werden politischen Bewegungen zugeordnet, wodurch wiederum die Anfälligkeit bestimmter Begriffsvarianten für Realpolitiken sichtbar wird, die aufzuarbeiten selbst immer wieder auf den jeweiligen Klassenbegriff zurückwirkte.

Ein Objekt wie Subjekt eines Begehrens

Die Klasse, so Engster, »war immer mehr als ein empirischer Fakt und ein politischer und sozialer Faktor, sie war vielmehr immer auch Objekt wie Subjekt eines Begehrens, einer Hoffnung und einer Erwartung – und damit auch der Enttäuschung und Ernüchterung«. Dennoch blieb sie über alle Konjunkturen hinweg ein zentraler Punkt von Gesellschaftskritik und ist es, nun mit neuer Popularität, immer noch.

Hier könnte dann eine weitere Lektüre anschließen: die der Neuauflage von Hans-Günter Thiens »Die verlorene Klasse«. Das Buch ist in doppelter Weise ein Behälter für historische Sichtweisen, denn es erschien zuerst bereits vor zehn Jahren und war damals schon ein Sammelband von Texten, deren ältester von 1985 stammt.

Gerade das aber ist kein Nachteil, weil man das, was Engster »Verschiebungen« in Gebrauch und Bestimmung des Klassenbegriffs nennt, hier an Beispielen nachvollziehen kann. Dies könnte zu der Erkenntnis führen, dass es Debatten um eine »neue Klassenpolitik« eigentlich schon immer gab. Das Spannende also eher ist, was das jeweils »neue« daran war und warum es hinzutrat.

Thompson, Bourdieu etc. War da was?

Thiens erster Beitrag in »ArbeiterInnen in Deutschland« reflektiert denn auch Einflüsse etwa durch E. P. Thompsons »The Making of the English Working Class« oder Pierre Bourdieus »Die feinen Unterschiede«. Und eine Realpolitik mit der, über die, in Bezug auf die Klasse gab es ja auch schon früher – zeitweise sogar doppelt, einmal in den »westlichen Gesellschaften« und einmal im Osten, der von sich behauptete, die Arbeiter bereits zur herrschenden Klasse gemacht zu haben.

Liest man die Texte, wird deutlich, wie sehr die Fragen, die aktuell in der Debatte um »neue Klassenpolitik« versucht werden zu beantworten, auch schon zu anderen Zeit die Diskussion um den Begriff, seine Rolle als analytische Kategorie, die damit (oder gerade nicht) zusammenhängenden Politiken geprägt haben. Der Streit darüber, was gerade die »richtige« Klassenpolitik ist und was nicht, ist so eine Art DNA der Arbeiterbewegung und ihrer Kinder, auch ihrer Enkel.

»Von Klassenkampf ist wenig zu spüren«, so liest sich bei Thien 1985, was auch 2018 für viele das Motiv für die Beschäftigung zu bilden scheint: »Allenfalls auf Seiten der Bourgeoisie, die selbstbewusst eine schärfere Gangart einschlägt.« Bei Thien waren dies Zeiten, die vom Aufstieg »neuer sozialer Bewegungen« geprägt waren, in der Stichworte wie Postmaterialismus die Runde machten, und weiter: »Das Feld der Klassenanalyse, in den siebziger Jahren Gegenstand einer geradezu ausufernden Diskussion, wird inzwischen kaum noch betreten.« Was politische Folgen hat, die Thien Sorgen machen: »Nach wie vor ist eine Überwindung des kapitalistischen Herrschaftssystems nur denkbar unter Einbeziehung der Arbeiterklasse.«

Eine Art DNA der Arbeiterbewegung

Das »nach wie vor« stellt auch 2018 noch den Fluchtpunkt der Diskussionen dar, er bekommt in der Klage, die Linke habe die soziale Frage rechts liegen gelassen oder sich kulturell vom Proletariat »entfernt«, einen Ausdruck, in dem sogleich auch eine Erwartung lauert, die schnell zu einer überzogenen werden kann. Die Kunst scheint darin zu bestehen, den Faden immer wieder neu aufzunehmen, ohne dabei auch immer wider alte Knoten und Verhedderungen zu reproduzieren.

Noch einmal Thien aus 1986: Man muss beides können, klassenpolitische Fragen beantworten, weil eine Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung ohne nicht zu leisten ist – dabei aber auch den »notwendigen Abschied vom Mythos des Proletariats« nicht rückgängig zu machen. Auch der neueste Proletkult wäre bloß die Farce nach der Tragödie der Überhöhung des »historischen Subjekts«.

Thiens Neuauflage korrigiert übrigens nicht nur Fehler der Erstausgabe, sondern nimmt in einem Nachwort auch zu zwei aktuellen Strängen der Diskussion um Wohl und Wehe der Klasse Stellung – unter anderem mit einer Auseinandersetzung mit Stephan Lessenichs Begriff der »Externalisierungsgesellschaft«, in dem Thien eine klassenanalytische Seite fehlt. Und einer Kritik an Oliver Nachtweys »Abstiegsgesellschaft«, in der sich »statt einer wenigstens ansatzweise systematischen Klärung« des Begriffs der Klasse, so Thien, lediglich »Impressionistisches« finde.

Wie das begründet wird und worauf es hinausläuft, gehört zu einer Debatte, die schon sehr lange läuft. Ob zu ihrer Fortsetzung unbedingt der Begriff »neue Klassenpolitik« nötig ist, wäre noch zu klären.

Hans-Günter Thien: Die verlorene Klasse. ArbeiterInnen in Deutschland, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2018, 235 Seiten, 25 Euro.

Frank Engster: Die Klasse. Begriff und Gebrauch in der Gesellschaftskritik vor, bei und nach Marx, 67 Seiten, 3 Euro, Bezug über Helle Panke e.V.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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