»Es gibt nur ein Erfolgsmuster«: Wirtschaftsweise West, Memo-Gruppe und die DDR Anfang 1990
Anfang 1990 forderten die »Wirtschaftsweisen« West ökonomische Reformen in der DDR – und sahen nur eine Variante. Die alternative Memo-Gruppe rückte etwas später mit einer treffsicheren Prognose über den »schlechteren, teureren und sozial gefährlicheren Weg der wirtschaftlichen Vereinigung« heraus.
Das Dokument trägt das Datum 20. Januar 1990, auf der ersten Seite finden sich die Namen von fünf Männern. In dem Papier gingen diese der Frage nach, »wie und unter welchen Voraussetzungen die Bundesrepublik den wirtschaftlichen Reformprozess in der DDR unterstützen« könne. Die »Wirtschaftsweisen« der Bundesrepublik formulierten in ihrem »Sondergutachten« natürlich nicht ohne politisches Wollen: Formen und Ausmaß der Unterstützung sah man »entscheidend vom wirtschaftspolitischen Kurs« abhängen, der in der DDR eingeschlagen werden würde.
»Noch sind die Weichen dort nicht gestellt«, befand der Sachverständigenrat – und notierte zugleich fordernd, wie dies seiner Ansicht nach zu geschehen habe: »Es gibt nur ein Erfolgsmuster für die Wirtschaftsreform: die offene marktwirtschaftliche Ordnung mit sozialer Absicherung«. Das war nicht bloß als Meinung formuliert, sondern als Bedingung – es gehe darum, welchen Kurs man in Ostberlin »einschlagen muss, damit Unterstützung« mobilisiert wird. »Der Abschied von der Planwirtschaft, die konsequente Hinwendung zur Marktwirtschaft muss gewollt sein«, so die West-Ökonomen weiter. Was als alternative Reformoptionen in der DDR diskutiert werde, sei teilweise »Uneinsichtigkeit« geschuldet, werde »schlimme Folgen« haben und garantiere einen »Misserfolg«.
Der 20. Januar 1990 war ein Samstag, kein normales Wochenende, ein solches hatte es seit dem Wendeherbst 1989 ohnehin nicht mehr gegeben. In Ostberlin wurde auf dem Platz der Akademie für freie und unabhängige Gewerkschaften demonstriert, ein paar hundert Meter weiter auf dem Alexanderplatz legt eine Bürgerinitiative »Deutsche Einheit« Unterschriftenlisten aus. In Leipzig gründet sich an diesem 20. Januar im »Gasthaus zur goldenen Krone« die rechtskonservative DSU. In Neubrandenburg demonstrieren Bauern aus Angst um ihre Existenz.
An jenem 20. Januar 1990 wurden auch die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage veröffentlicht, laut denen die Noch-DDR-Bürger den Ministerpräsidenten Hans Modrow mit Abstand als »wichtigsten Politiker« ansahen, auf Platz zwei der Umfrageliste rangierte Wirtschaftsministerin Christa Luft. Die Ökonomin hatte im späten Wendeherbst das wirtschaftspolitische Ruder übernommen und im November 1989 eine »Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform beim Ministerrat der DDR« eingerichtet. Der Leiter war Wolfram Krause, vormaliger Vizechef der Staatlichen Plankommission und in den späten 1970er Jahren aus politischen Gründen »in die Bezirksleitung der Berliner SED abgeschoben« – er knüpfte an NÖS-Reformüberlegungen der 1960er Jahre an, zusammen mit Wolfgang Heinrichs, dem Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften, hatte er bereits am 3. November eine grundlegende Skizze im »Neuen Deutschland« veröffentlicht – es ging um ein »Element der Erneuerung des Sozialismus«.
Die Dynamik der Ereignisse donnerten in jener Zeit freilich über alles und jeden hinweg. Anfang Dezember 1989 war der Runde Tisch erstmals zusammengetreten, eine Art erweiterte Regierung, hier fanden sich nun auch wichtige Kräfte der Bürgerbewegung und der Opposition im Gespräch mit einer aus SED-Reformen rekrutierten Administration, die ständige Veränderung zu steuern suchte – oft vergeblich. Mit der Öffnung der Grenzen Anfang November 1989 hatten sich auch maßgebliche Rahmenbedingungen für die Volkswirtschaft radikal verändert; die D-Mark wurde zur faktischen Zweitwährung, die ökonomischen Beziehungen zu den früheren Partnern im RGW geriet unter Druck, die Ausreisewelle hielt an, im Westen wurde über Zuzugsbegrenzungen diskutiert. »Chaos in der DDR«, titelte Anfang Februar 1990 der »Spiegel« – die Schlagzeile: »Flucht in die Einheit«.
Das war einerseits nicht falsch, das bisherige Geflecht der Wirtschaftsbeziehungen der DDR-Ökonomie drohte in jener Zeit vollends zu zu zerreißen. 250.000 Arbeitsstellen waren nach Informationen am Runden Tisch nicht besetzt; Rohstoffe und Vorprodukte fehlten, an wirtschaftspolitische Gestaltung war kaum noch zu denken. Andererseits war »Flucht in die Einheit« für viele im Osten nicht das Ziel, alternative Wirtschaftskonzepte wurden diskutiert, die Hoffnung auf »dritte Wege« war noch nicht implodiert, noch wurde hier und da an die Möglichkeit etwa marktsozialistischer Modelle mit gemischten Eigentumsformen, bei denen das der Gemeinschaft im Vordergrund stehen sollte, geglaubt.
Doch wie sollte das unter diesen Bedingungen ausformuliert, umgesetzt werden? Auf die Frage, was in dieser Situation noch möglich sei, zitierte der »Spiegel« einen »erfahrenen Wirtschaftsplaner« aus der DDR mit den Worten: »Wir könnten Verhandlungen aufnehmen über unsere bedingungslose Kapitulation.«
Mit Datum vom 20. Januar 1990 hatten die »Wirtschaftsweisen« im Westen diese Option sozusagen von der anderen Seite her formuliert: Sollte das Ziel deutsche Einheit bestehen, solle alles in Bewegung gesetzt werden, »in geeigneten Institutionen den Übergang zur Einheit von Staats- und Wirtschaftsraum vorzubereiten«. In einem »wiedervereinigten Deutschland« werde die Aufgabe, »den wirtschaftlichen Rückstand im Gebiet der heutigen DDR abzubauen«, eine ganz andere und vor allem »entscheidend erleichtert, weil für beide Gebiete dann dieselbe Wirtschaftsverfassung gültig ist«. Erst dann würden »Beschränkungen des Zustroms von Kapital, technologischem Wissen und anderen Schlüsselfaktoren« fortfallen.
»Einen energischen Tonfall« hat Marcus Böick bei den Wirtschaftsweisen« später in einem Artikel über die »Konzeptionen des Marktes beim Wirtschaftsumbau in Ostdeutschland nach 1989« ausgemacht. »Die Ökonomen skizzierten eine sich im Wettbewerb selbst regulierende Marktordnung als idealen, ja idealisierten Endzustand des postsozialistischen Transformationsprozesses. Grundsätzlich gingen die Gutachter dabei auf das Marktprinzip als entscheidendes ›Erfolgsrezept der westlichen Industrieländer‹ ein«.
Die Zeit der Zurückhaltung mit eigenen wirtschaftlichen Reformvorschlägen in Richtung DDR war im Westen mit dem Plädoyer der fünf Bonner »Wirtschaftsweisen« vorbei, so Böick, der in dem »Sondergutachten« den »Auftakt einer aus gesamtdeutscher Perspektive geführten Debatte« sieht. »In fast dozierendem Tonfall« hätte der Sachverständigenrat auf seinem Modell der Reformen beharrt, das Marktprinzip wurde »als universelles, alternativloses wie erfolgreiches ökonomisches Organisations- und (Selbst-)Steuerungsprinzip« gemalt, als »ein idealer Endzustand«. Drei Wochen nach der Veröffentlichung des Gutachtens, Anfang Februar 1990, »schlug die Bundesregierung der DDR-Regierung den unverzüglichen Beginn von Verhandlungen zu einer ›Währungsunion mit Wirtschaftsreform‹ vor«.
Etwa zur selben Zeit bogen in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die Diskussionen um die Endfassung ihres »Memorandums 1990« auf die Zielgerade – in bewegten Zeiten. »Nie zuvor seit Ende der vierziger Jahre waren die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven der Bundesrepublik so unübersichtlich wie im Frühjahr 1990«, heißt es in der Druckfassung. »Im deutsch-deutschen Umbruch: Vorrang für sozialen und ökologischen Umbau«, so war die damals schon traditionelle Wortmeldung kritischer ÖkonomInnen und GewerkschafterInnen – die Aussagen im »Memorandum 1990« wurden von über 800 ExpertInnen unterstützt – überschrieben.
Man sah die »deutsch-deutsche Unübersichtlichkeit« zwar vorläufig noch als offen an: »Mehr Risiken oder mehr Chancen?«, so lautete die Frage, mit welcher der Teil über die Folgen der Wende im Osten überschrieben war. Allerdings gaben die alternativen ÖkonomInnen auch schon gleich eine eher pessimistische Antwort: Die Politik der Bundesregierung und der großen Parteien habe die Krise im Osten »dazu instrumentalisiert, einen enormen Druck für die schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu den Bedingungen der Bundesrepublik zu entfalten«. Daraus folge gewollte »Labilisierung«, wirtschaftliche Hilfe »diene als Hebel zur Erzwingung von Systemreformen. Diese lassen kaum Spielraum für Selbstbestimmung und Eigenständigkeit.
Zwar sahen die AutorInnen des »Memorandums 1990« auch »materielle Grundlagen für eine relativ zügige Modernisierung der DDR-Wirtschaft«, der »konsumtive und investive Nachfragestau« stelle »eine wirtschaftlich günstige Voraussetzung« dar. Doch »zum anderen sind Risiken unübersehbar, die mit dem starken Produktivitäts- und Lohngefälle gegenüber der BRD sowie der mangelnden Währungskonvertibilität verbunden sind und durch einen unter Zeitdruck durchgeführten ökonomischen Umbau vervielfacht würden. Der Preis hierfür in Form massiver Einkommenseinbußen und Arbeitslosigkeit wäre sehr hoch.«
Eine schnell umgesetzte Währungsunion »würde darüber hinaus – und das mag ihre Attraktivität von Seiten mancher Kräfte in der BRD ausmachen – einen Akt der Übernahme der DDR darstellen, da bundesdeutsche Unternehmen sich im Windschatten der Währungsunion schnell und billig die besten Stücke des Produktivkapitals in der DDR aufkaufen könnten.«
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sah zugleich »die Perspektiven und Risiken der Entwicklung in der BRD mit denen der DDR verbunden« – dies allerdings auf widersprüchliche Weise.
Wo man einerseits prognostizierte, dass nur eine schnelle Verbesserung der materiellen Lage im Osten den Strom der Übersiedler in den Westen stoppen könne, was wiederum als notwendig im Sinne der Möglichkeiten der Kommunen der BRD und für die Chancen zur dortigen Verringerung der Arbeitslosigkeit angesehen wurde; so sah man andererseits »ein schrittweises Vorgehen bei der Modernisierung« in der DDR als Bedingung an, einen »ökologisch und sozial verträglichen Auf- und Umbau der DDR- Wirtschaft« in Gang zu bringen, der dann »auch in der BRD nachhaltige Nachfragewirkungen entfalten« und zu strukturellen Änderungen, etwa was die »destabilisierenden Ausfuhrüberschüsse« der BRD-Ökonomie »zu Lasten der anderen EG-Partner« anging.
Einerseits sollte es also schnell gehen müssen, andererseits brauchte es für alternative politische Gestaltung mehr Zeit. Den Zielkonflikt löste dann die schnelle Dynamik der Entwicklung auf.
Inzwischen bemühte sich die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik mit Erfolg, auch in der DDR einen ökonomisch ähnlich ausgerichteten Arbeitskreises zu bilden. Im März 1990 bereits konnte man die »Memoranden« und darüber hinausgehende Veröffentlichungen der Gruppe auch im Osten kaufen – für DDR-Mark. Im Mai 1990 erschien das Zirkular der Arbeitsgruppe, das »Memo-Forum« mit einem »Sondermemorandum«, in dem ein »Sozial-ökologisches Sofortprogramm« vorgeschlagen wurde, mit dem die »Risiken der deutsch-deutschen Währungsunion auffangen« werden sollten. Die Überlegungen waren bereits Ende April zusammen mit dem »Memorandum 1990« in Bonn der Presse vorgestellt worden. Der Dokumentation im »Memo-Forum« war darüber hinaus der Bericht einer Tagung in der DDR beigestellt worden, aus dem ein »Arbeitskreis: Perspektiven alternativer Wirtschafts- und Sozialpolitik« hervorging. Anfang März 1990 hatten sich in Berlin auf einem Treffen des bereits 1985 gegründeten Arbeitskreises »Junger Arbeitsökonomen der Hochschulen und Universitäten der DDR« über »die Perspektive und künftige Profilierung« unter »radikal veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen« verständigt.
Die Bilanz des Wendeherbstes und der Debatten fiel ernüchternd aus. »Von der Möglichkeit einer sozialistischen Alternative der DDR zur BRD, ja selbst von der Chance einer selbstbestimmten, marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftsordnung in der DDR kann seit spätestens Ende Dezember 1989 keine Rede mehr sein«, hieß es da. »Der Anschluss der DDR an die ökonomisch übermächtige BRD – ein anderer Begriff als Anschluss würde nur die politischen Tatsachen verschleiern – wird Realität werden, ist letztlich nur noch eine Frage des Tempos«, so die DDR-ÖkonomInnen. Enttäuschung sprach aus dem Hinweis, dass »die ›führenden‹ Wirtschaftswissenschaftler unseres Landes« nun so taten, als hätten sie »es schon immer gewusst, die Marktwirtschaft«, die »im Moment« noch »ökologisch und sozial verbrämt« werde, aber eben doch »eine kapitalistische Marktwirtschaft mit allen ihr innewohnenden Vorzügen aber auch Konsequenzen« bleibe, sei »das Allheilmittel für die wirtschaftliche und politische Krise der DDR.«
Die Kritik an einem Teil der früheren Eliten und ihrer neuen Rolle wurde auf den Begriff der »Wende-Wirtschaftswissenschaftler« gebracht, eine Kombination ähnlich des zu jener Zeit viel gebräuchlichen und wenig schmeichelhaften Wortes »Wendehals«. Aus »wirtschaftspolitischen Apologeten des alten Politbüros wurden binnen dreier Monate Apologeten und Interessenvertreter bundes- und DDR-deutscher Unternehmerverhände«, beklagte der Arbeitskreis – dort selbst wurde »eine an den Interessen der abhängig Beschäftigten orientierte Wirtschaftspolitik« angestrebt. »Ähnlichkeiten mit den Zielstellungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sind nicht zufällig sondern beabsichtigt, eine enge Zusammenarbeit wird angestrebt«, hieß es in einer Randbemerkung.
In ihrem Ende April vorgestellten Sondermemorandum hatte die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik alles darauf hindeuten gesehen, »dass der ökonomisch schlechtere, teurere und sozial gefährlichere Weg der wirtschaftlichen Vereinigung beschritten worden ist. Dabei kommt die Einführung der DM in die DDR einer Beendigung der wirtschaftlichen Souveränität der DDR gleich. Eine strukturell schwache, im wesentlichen noch planwirtschaftlich geprägte Wirtschaft wird mit einer Hartwährung ausgestattet und damit der uneingeschränkten Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt. Damit wurden die strukturellen Mängel der DDR-Wirtschaft schonungslos aufgedeckt. Ohne gegensteuernde Maßnahmen führt dies nicht nur zu einem Bankrott weitgehend maroder Betriebe, sondern Gefahr droht auch Unternehmen, die in einer längeren Übergangszeit die Chance zur Anpassung besessen hätten. Abrupt werden durch diesen Weg Zukunftsplanungen von Menschen durchkreuzt, Qualifikationen entwertet und eine, wenngleich oft nur bescheidene, soziale Sicherheit zerstört. Die Unterschiede im Lebensstandard zwischen der BRD und der DDR werden sich für weite Teile der Bevölkerung eher vertiefen.«
Dies erwies sich dann später als recht treffende Prognose.
Foto: Demonstration am 4. November 1989 in Berlin, Thomas Lehmann, Bundesarchiv, CC-BY-SA 3.0
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