Wirtschaft
anders denken.

»Beide Überlebensfragen zusammendenken«

Der Historiker und Ökonom Frank Fehlberg über Ethik und sozialökologische Transformation. Aus OXI 9/22.

10.09.2022
Frank Fehlberg, Jahrgang 1981, in Leipzig lebend, ist promovierter Historiker und promovierter Ökonom. Er ist im Vorstand von »Economists for Future« und Mitglied der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft. Ab September 2022 ist er Studienleiter für Arbeit und Wirtschaft sowie Referent für den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt an der Evangelischen Akademie Thüringen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die ökonomische Ideengeschichte, insbesondere die Sozialökonomik von Karl Rodbertus bis Max Weber.

Wir beide kennen uns schon länger, aus dem Forschungsseminar an der Universität Leipzig und aus dem Umfeld der Pluralen Ökonomik. Letzteres möchte ich gerne zum Anlass nehmen, um dich ganz allgemein zu fragen, wie es dich zu »Economists for Future« (E4F) verschlagen hat.

Im »Netzwerk Plurale Ökonomik« sind in den letzten Jahren vermehrt moralische Positionierungen als »politisch« und damit als »parteiisch« und »nicht-wissenschaftlich« etikettiert worden. Das ist bei einer anspruchsvollen Wissenschaftsethik als Garant des Pluralismus teilweise nachvollziehbar. Aber eine Selbstbeschränkung im Bereich der Wirtschaftsethik engt den Horizont des Möglichen als Referenzrahmen des Gegenwärtigen enorm ein. Das führt dazu, dass das »Netzwerk« in Fragen unserer Zeit wie Corona- und Klimakrise oder bei der gesamtgesellschaftlichen Sorgearbeit kaum sichtbar ist – im Gegensatz zu Mainstream-Ökonom:innen. Wer die Erwägung und Bewertung zukünftiger Wirklichkeiten als nicht-wissenschaftlich abwertet, überlässt letztlich wieder denjenigen das Feld, welche nur die Gegenwart verlängern wollen oder knallhart Interessen vertreten. Allerdings werden die Stimmen derjenigen Pluralos lauter, die das ähnlich sehen. Mit einigen davon habe ich E4F gegründet.

Du hast sozusagen den wissenschaftlichen Pluralismus auf Platz 2 verbannt?

Ich finde es schwer, meinen Werten eine statische Rangfolge zu geben. Als Anhänger der Sozialökonomik begreife ich das Prinzip des erkenntnistheoretischen Pluralismus nur breiter, etwa in Anlehnung an den indischen Historiker Dipesh Chakrabarty (»Provincializing Europe«, 2000). Er hält unserem westlich-dominanten Entwicklungs- und Wachstumssystem eine kultur- und naturgebundene »Pluralität der Zukünfte« (Wolfgang Knöbl) entgegen. Ich habe kein Problem, mich als ethischen Ökonomen und damit als Erwägenden solcher Zukünfte zu bezeichnen. Das mag einerseits an meiner DDR-Sozialisierung in einem protestantischen Pfarrhaus liegen. Aber vor allem haben mich persönliche Erfahrungen nach »Agenda 2010« und Finanzkrise 2007 sensibilisiert. Ich gehe nicht davon aus, dass die Wirtschaftswissenschaft nur universell gültige Konzepte und Naturvorgänge beschreibt und dann deren Zukünfte anhand von Zahlenreihen berechnen kann. Deshalb sind systemfunktionale ökonomische Prognosen auch schon oft gescheitert.

Nun gibt es seit Oktober 2021 den Verein »Economists for Future«. Kannst du kurz skizzieren, was eure Ziele sind?

Wir wollen einen Beitrag sowohl für die Plurale Ökonomik als auch für eine zukunftsfähige Wirtschaft leisten. E4F beackert zwei wesentliche Felder, die für uns wissenschaftlich und handlungsethisch von zentraler Bedeutung sind: Das ist zum einen die soziale Frage, die sich in Form von globalisierten Klassen- und Verteilungskonflikten stellt. Wenn für diese Konflikte Lösungen auf sich warten lassen, bleibt die Bewahrung der Lebensfreundlichkeit unseres Planeten – die ökologische Frage – weiterhin außen vor. Wir wollen beide Überlebensfragen zusammendenken und uns wissenschaftsbasiert um die Mitgestaltung einer menschen- und umweltgerechten Wirtschaftsordnung bemühen. Globalisierte menschliche Wirtschaft ist keine Aneinanderreihung von Einzelhaushalten, sondern ein gemeinsamer sozialer Oikos.

Auf eurer Website schreibt ihr, dass Wirtschaft ein gestaltbarer sozialer Prozess sei. Ihr legt euch sogar normativ fest darauf, dass »Wirtschaft« der Für- und Daseinsvorsorge, dem »guten Leben« dienen soll. »Wertmaßstäbe« sollen verändert werden. Welche Bedeutung messt ihr also der wirtschaftsethischen bzw. normativen Expertise zu? Welche Rolle spielt Ethik bei der sozial-ökologischen Transformation?

Die Transformation findet auch ohne unser Zutun statt. Damit sie aber möglichst ohne großes Leid für Mensch und Natur stattfindet, können und müssen wir etwas tun. Ohne einen moralischen Kompass, der sich an ethischen Grundsätzen orientiert, ist die aktive Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation nicht möglich. Das »gute Leben für alle« ist für uns nicht die isolierte Selbstverwirklichung des Einzelnen in einer Gesellschaft der Einzelnen, sondern das friedliche, auskömmliche und nachhaltige Miteinanderleben. Der Bezug auf die fürsorgeorientierte Mitmenschlichkeit unseres Daseins spricht fundamentale und kulturübergreifende Vorstellungen von lebenswerter Gemeinschaftlichkeit an. Die planetare Natur begreifen wir ähnlich gemeinschaftlich als den unabdingbaren Existenzzusammenhang alles Lebendigen. Ich denke, diese ethisch-anthropologische und eben oikologische Auffassung von Wirtschaft liegt den Daseinsvorsorge-Positionen von E4F zugrunde.

Kannst du ein konkretes Beispiel zur praktischen Umsetzung eurer ethischen Orientierung geben?

Ein Hauptangriffspunkt des wirtschaftsethischen Diskurses bleibt der Wachstums- und Wohlstandsbegriff. Dem vermeintlich eingängigen Wachstumskonzept einer Quelle steter Wohlstandsmehrung konnte bis jetzt kaum ein Gegenentwurf den Rang ablaufen. Neben dem wachstumsgenerierenden Profitmotiv des kapitalistischen Wirtschaftens liegt das wohl vor allem daran, dass eine hinreichend konsensuale Neufassung des Wohlstandsbegriffs noch nicht weit genug gediehen ist. Dazu wollen wir zum Beispiel mit der Implementierung von Wertmaßstäben und Indikatoren beitragen. Ohne die Einbettung ökonomischer Möglichkeitserwägungen in die heute vielbeschworenen Narrative werden wir ebenfalls nicht auskommen – nur dass wir die Zukunft erzählen wollen, nicht die Vergangenheit.

Welche Zukunftsgeschichten bestimmen bei euch die Debatte?

Wir wollen in diesem heißen Diskursumfeld unsere Unabhängigkeit wahren und gehen undogmatisch und mit einem pluralen Verständnis an die Dinge heran. So nehmen wir u. a. alternative (Post-)Wachstumsszenarien für die Ablösung des Fossilkapitalismus und das Subsistenzprinzip als Wirtschaftsmotiv in den Blick. Die strukturelle Neubewertung der Sorgearbeit lässt sich nicht aus allgemeiner Wachstumskritik, sehr wohl aber aus einer ethisch begründeten Subsistenzstrategie der Menschheit ableiten.

Zu eurer Arbeit gehört auch eine Debatten-Reihe im Wirtschaftsmagazin »Makronom«. Mir ist aufgefallen, dass sich nur wenige Beiträge dezidiert mit (wirtschafts-)ethischen Fragen befassen. Warum ?

Über die grundsätzlichen Positionen hinaus, die wir für unsere Arbeit formuliert haben, ist unser Fokus seit Beginn der Reihe auf die Multiperspektivität ausgerichtet. Die verschiedenen Ausgaben der Debattenreihen verfolgen jeweils übergeordnete Themenkomplexe unter verschiedenen Aspekten. Tatsächlich ist die Wirtschaftsethik noch nicht dezidiert beleuchtet worden, sehr wohl taucht sie aber in Einzelbeiträgen regelmäßig auf. Die laufende vierte Ausgabe hat sich »Macht & Märkten« verschrieben und wartet mit Beiträgen zum notwendigen Wertewandel in der VWL oder zur »moralischen Ökonomie des Geldes« auf.

Dass normative Fragen in den Beiträgen auftauchen, ist deutlich. Ich wollte aber auf einen anderen Punkt hinaus: Täuscht mein Eindruck, dass sich die Expertise zu wirtschaftsethischen Fragen in überschaubaren Grenzen hält? Ich meine das keineswegs despektierlich, sondern frage mich, ob hier in struktureller Hinsicht bzw. rein personell Know-how fehlt.

Ich verstehe dich so, dass dir noch so zahlreiche Verhaltens- oder Bereichsanalysen als Verkürzung eines umfassenderen Wirtschaftsethik-Verständnisses vorkommen. Da triffst du aus meiner persönlichen Sicht genau ins Schwarze. Es herrscht ein eklatanter Mangel an Wirtschaftssystem-Ethiker:innen. Ich glaube, ausgerechnet die vielbeschworene »Wertfreiheit« unserer Standard-VWL lässt jede nötige Distanz zum Forschungsobjekt vermissen. System-Ethiker:innen sollten kraft ihrer Ausbildung in der Lage sein, historische, gegenwärtige und zukünftige soziale Zustände nicht nur ethisch zu reflektieren, sondern im Sinne einer fortwährenden Gestaltung von Wirtschaftsverfassungen praktisch fruchtbar zu machen. Es wäre definitiv ein Projekt, mal eine »Transformative Ethik« oder die »Wirtschaftsethik der Zukunft« in den Mittelpunkt zu stellen.

Die wirtschaftsethische Perspektive ist das eine. Aber gibt es auch wissenschaftliche Konzepte, die diese ethische Perspektive einbinden können?

Ich denke, dass mit der Sozialökonomik ein Konzept existiert, welches das Zeug hat, die postklassisch dominierte VWL tatsächlich in ihren Fundamenten zu erschüttern, vielleicht auch abzulösen. Die Sozialökonomik konnte programmatische Entwürfe wie die Wirtschaftsstilforschung und die Soziale Marktwirtschaft hervorbringen, weil sie die Erkenntnisfelder von Geschichte, Theorie und Ethik plural und reflexiv zusammenführte. In diese Richtung sehe ich E4F gehen, wenn ich an den sozialen Oikos als Vorstellung anknüpfe.

Warum werden solche Konzepte in der Debatte zur sozial-ökologischen Transformation kaum diskutiert?

Im heterodoxen Wissenschaftsdiskurs ist die Ausrichtung auf ein anderes oder neues Disziplinmodell der Wirtschaftswissenschaft lange vernachlässigt worden. Da steht Wirtschaftstheorie im Vordergrund, nicht Wissenschaftstheorie, was schlimmstenfalls einfach in eins gesetzt wird. Auch in der Heterodoxie ist der typisch postklassische Dominanzanspruch in Form einer Mathematisierung der sozialen Wirklichkeit weit verbreitet. Statt gemeinsam auf die Institutionalisierung von Strukturen hinzuarbeiten, die dem Pluralismus im universitären Umfeld eine dauerhafte Basis bieten, stehen immer wieder Einzelrichtungen und persönliche Netzwerke im Vordergrund. Die Transformationsaufgabe wird damit zum Gegenstand verschiedener Denkschulen, die ihre jeweiligen Schablonen in Anschlag bringen – aber sie wird nicht zum Gegenstand einer transformativen Disziplin als solcher, wie es den Problemdimensionen einer wachen Sozial- und Wirtschaftswissenschaft angemessen wäre.

Was, denkst du, sollte sich ändern, um diesem Zustand abzuhelfen?

Es gibt neuere Entwicklungen, die mir Hoffnung machen. Insbesondere das »Netzwerk Plurale Ökonomik« verfügt mit der Plattform »Exploring Economics« und dem Zertifikatsprojekt für neue Studiengänge über strategische Ideen, die Chancen für den Einstieg in den institutionalisierten Pluralismus und die Formierung eines neuen Wissenschaftsmodells eröffnen. Durch Kooperationen etwa mit der »Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft« und uns, den »Economists for Future«, sehe ich Perspektiven, entscheidende Schritte voranzukommen. Um die sympathische, aber harmlose Denkschulen-nebeneinander-Logik und wohlmeinende Stiftungs- und Förderungsstrategien zu ergänzen, sollte vor allem eine langfristig ausgerichtete universitäts- und staatspolitische Allianz geschmiedet werden. Es ist entscheidend, den Pluralismus als ethisches Ökosystem von Vielfaltstoleranz und Gemeinschaftsorientierung weiterzuentwickeln.

Das Interview führte:

Sebastian Thieme

Wirtschaftsethiker

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