Wirtschaft
anders denken.

»Europa« im Zangengriff einer Polarisierung? 

09.05.2019

Populäre Erklärungsmodelle für das veränderte (Wahl-)Verhalten in Europa gehen von dichotomen Spaltungen in »Verlierer« und »Gewinner« aus – und passen so in ein ökonomistisches Gesellschaftsbild, in dem man entweder gewinnt oder verliert. Wie die komplexen europäischen Verhältnisse einfach erklärt werden, damit sich wenig ändert.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019 gelten in weiten Teilen der deutschen politischen Öffentlichkeit als europäische »Schicksalswahl«. Befürchtet wird ein starker Stimmenzuwachs für EU- und Euro-skeptische Parteien vor allem im rechten, nationalistischen Parteispektrum und, vor allem, eine neue Qualität in der politischen Fähigkeit dieser Parteien zur Fraktionsbildung im Europäischen Parlament, also zur politischen Formierung. Sie könnten nach der Wahl zur dritt- oder gar zweitstärksten Fraktion im Europäischen Parlament aufsteigen und allein dadurch die konservative, liberale und sozialdemokratische Parteienformation zu einer engeren Zusammenarbeit nötigen, wodurch deren Unterscheidbarkeit weiter schwinde und rechte und linke Populisten noch klarer als die eigentliche europäische Opposition sich profilieren könnten. Die »Populisten« erhielten so die Chance, sich als die eigentliche Oppositionskraft weiter zu profilieren. Vielfach wird dabei nicht nur die Gefahr von rechts beschworen, sondern von der Bedrohung durch »Populisten von rechts und von links« gesprochen. 

In der Tat handelt es sich um die ersten europaweiten Wahlen in einer veränderten Weltlage. Die globalen Zeichen stehen auf verschärfte Konkurrenz regionaler Machtblöcke, vor Augen geführt durch die protektionistische Wende in der US-Handelspolitik. Die Außenpolitik der USA bricht demonstrativ mit dem »Sicherheitsversprechen« der Nachkriegsära und wird zumindest in Deutschland nur noch von jedem achten Befragten positiv beurteilt. Erstmals will ein Mitgliedsland die EU wieder verlassen. Die verschiedenen finanzpolitischen Rettungspolitiken – der Banken, des Euro, vor allem des griechischen Staatshaushalt – und die Politiken gegenüber den inner- und außereuropäischen Migrationsbewegungen haben die Fähigkeit der europäischen Nationalstaaten zu kooperativen und solidarischen Bewältigungsschritten enorm zurückgeworfen. Immerhin konnte die Gefahr eines »Brexit-Dominos« in den nationalen Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich sowie dann in den anschließenden Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien vorerst gebannt werden. 

»Europa ist die Antwort« ist keine befriedigende Antwort

Das politische Szenario einer dramatischen Schwächung, gar eines Zerfalls der EU hat in vielen europäischen Staaten zu einem höheren Interesse an »Europa« und an den bevorstehenden Wahlen beitragen. Seit dem britischen Votum für den Austritt aus der EU28 spricht sich eine wachsende Zahl von Befragten für die Mitgliedschaft des Heimatlandes in der EU aus, ohne dass allerdings die Werte für die Zufriedenheit mit der EU, wie sie sich den Befragten zum jeweiligen Zeitpunkt darstellte, gleichfalls anstiegen. Die Mitgliedschaft in der EU zu wünschen und die gegenwärtige politische Ausrichtung der EU vorbehaltlos zu unterstützen, sind zwei doch recht verschiedene Sachen. Eine große Mehrheit der deutschen Befragten wünscht sich auf einer Reihe von Politikfeldern eine engere Kooperation aller (!) Mitgliedsländer, durchaus im Wissen um die Heterogenität. Auf diese Einschätzung der großen Mehrheit, »dass gemeinsame Anstrengungen auf vielen Gebieten mehr Nutzen versprechen als stärker national ausgerichtete Politik, nimmt der öffentliche politische Diskurs erstaunlich wenig Bezug«2. Auf die über Jahre aufgehäufte Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger, dass wirksame Antworten auf Migration, Klimawandel, Digitalisierung und Globalisierung zwar europäische Kooperation erforderten, die EU aber immer mehr an Kooperationswilligkeit und -fähigkeit verloren hat, sind Wahlkämpfe unter Slogans wie »Unser (!) Europa« oder »Europa ist die Antwort« eben keine befriedigende Antwort. 

Vor diesem Hintergrund haben sich drei große politische Grundhaltungen herausgebildet, die sich jeweils in unterschiedlichen Parteien wiederfinden: 

(1) Die EU-skeptischen und Euro-feindlichen Kräfte stellen nicht den (sofortigen) Austritt ihres Landes oder die Rückkehr zur nationalen Währung in den Mittelpunkt, sondern sie formulieren vorerst Bedingungen: keine weitere Abgabe von nationalen Souveränitätsrechten (gegen »Brüssel« bzw. einen neuen »europäischen Zentralismus«), die Re-Nationalisierung der europäischen Politik des Heimatlandes (»XY first«) und die Abwehr von Migration und »Überfremdung« (auch in Verbindung mit Terrorismus, Kriminalität usw.); die Fähigkeit zur Zusammenarbeit der nationalistischen Kräfte scheint auf der gemeinsamen Basis des »Elitenbashings« (»Brüssel – Geht‘s noch?«) gewachsen zu sein. In einigen Ländern scheint es für diese Politik Mehrheiten zu geben, in anderen sind sie wie in Deutschland mit dieser Haltung in der Minderheit. Selbst zahlreiche Anhänger der AfD sprechen sich gegen eine Renationalisierung der deutschen Politik aus. 

(2) Dieser politischen Haltung nahezu diametral gegenüber stehen Vorschläge, die angesichts der Krise der europäischen Institutionen auf eine disruptive Politik setzen, die die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit in einem großen Schritt nach vorn schließen wollen. Ihr politisch bedeutendster Protagonist ist der französische Präsident Macron; Unterstützung findet er bei Parteien und Regierungen vor allem in südeuropäischen Staaten. Auch linke Formationen stehen für eine inhaltlich aber anders gerichtete disruptive Politik der Neuordnung. Der weitere Ausbau der EU zu einer Solidar- und Transfergemeinschaft (mit eigener Steuerhoheit, mit europäischer Arbeitslosenversicherung) und einem europäischen Investitionsprogramm markieren die Konfliktlinie zu anderen politischen Kräften. Die (deutsche) Sozialdemokratie traut sich nicht, entschieden offen in dieser Richtung für sich zu werben. Diese Kräfte vereint wiederum die Not zu erklären, woher die Kraft, die Mehrheit für einen solchen Sprung kommen soll. 

(3) Für die politischen Kräfte der Kontinuität der kleinen Korrekturen in schwerer See stehen die Parteien der Europäischen Volkspartei, die deutsche Kanzlerin und ein lockerer Zusammenschluss von Regierungsvertretern der Niederlande und nordischer Staaten, unterstützt von Belgien und Österreich, die zwar eine Stärkung der europäischen Militärmacht und des Schutzes der Außengrenzen vor Migranten unterstützen würden, aber sich deutlich gegen ein »Euro-Budget« und für finanzund haushaltspolitische nationale Eigenverantwortung, nationale Haftung und solide Staatsfinanzen positionieren (vgl. FAZ vom 15.4.2019). Das größte Problem hier ist das Management der weitgehenden Erwartungen bezüglich dessen, was zur Lösung eines Problems notwendig wäre, und den bestenfalls möglichen kleinen Schritten. 

Muss die deutsche Politik sich ändern?

Den beiden proeuropäischen Grundhaltungen gemein ist – zumindest in Deutschland, dem ökonomisch mächtigsten EU-Land – eine mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte Strategie der Vermeidung. Vermieden wird, die Hindernisse anzusprechen, die einer engeren Kooperation oder einem disruptiven Schritt im Wege stehen. Gesprochen werden müsste darüber, was die deutsche Politik in den vergangenen Jahren zu diesem Zustand beigetragen hat und was sie beitragen müsste, damit dieser Zustand überwunden werden kann. Damit ständen deutsche Positionen zur Debatte, auf die eine große Parteienkoalition die Bürgerinnen und Bürger eingeschworen hat: Austerität, Schuldenbremse, Währungsstabilität. Muss die deutsche Politik sich ändern, damit es in Europa im Sinne der gewünschten engeren Kooperation vorangeht? Oder müssen die anderen Staaten ihre Politik im deutschen Sinne ändern, damit Deutschland mehr Kooperation eingehen kann. Diese für die europäische Zukunft womöglich zentrale Frage wird im Wahlkampf nur zaghaft, etwa von der Partei DIE LINKE angesprochen. 

Tatsächlich könnte es sein, dass bei der Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger in den einzelnen europäischen Staaten solche und andere europapolitischen Überlegungen eine größere Rolle spielen als bei vorherigen Wahlen. Allerdings wird auch 2019 wieder gelten, was immer galt: Bei den Europawahlen geht es nie nur um Europa. Zumindest geht es immer auch um die Politik der nationalen Regierung »in Brüssel« bzw. auf der europäischen Bühne. Oft wird diese bei einzelnen Maßnahmen als zu »europafreundlich« angesehen und die Wahl einer eu-skeptischen oder nationalistischen Partei wäre dafür ein »Protest- und Denkzettel«. Genauso besagen die Erkenntnisse der Wahlforschung, das die EP-Wahlen genutzt werden, um Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung bezüglich ihrer nationalstaatlichen Politik auszudrücken. Schließlich kommt ein weiterer Aspekt hinzu: das einheitliche europäische Wahlrecht mit niedrigen oder fehlenden Sperrklauseln verschafft auch kleinen Parteien gute Erfolgsaussichten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass eine Stimme zur »verlorenen« Stimme wird, ist anders als bei höheren Sperrklauseln oder dem Mehrheitswahlrecht gering. Auch entfallen alle wahltaktischen Überlegungen bezüglich möglicher Koalitionsbildungen für eine Regierung weitgehend. Die EP-Wahlen haben also auch die Tendenz, ein »ehrlicheres« Ergebnis hinsichtlich der politischen Heterogenität eines Landes zu liefern als nationale Wahlen. 

Vielzahl regional und national geprägter Faktoren

Unter dem Strich bleibt, auf dem aktuellen Stand der empirischen Forschung zu Wahlentscheidungen, die Erkenntnis, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Wahlberechtigten in den 27 bzw. 28 Mitgliedsstaaten nach einem einheitlichen Muster oder Kriterienkatalog entscheiden, sondern dass eine Vielzahl regional und national geprägter Faktoren eine Rolle spielen werden. Weit überwiegend stellen sich nationale Parteien zur Wahl, europäische Parteifamilien sind nicht unmittelbar wählbar. Ein tieferes Verständnis des europäischen Wahlergebnisses wird nur unter starker Berücksichtigung nationalstaatlicher Besonderheiten erzielt werden können. 

Gleichwohl: Am Wahlabend und in den Tagen und Wochen danach wird das Bedürfnis nicht nur in der der politischen Öffentlichkeit groß sein, das Wahlergebnis, wie immer es auch ausfällt, in wenigen groben Linien zu erklären. Dafür bieten sich eine Reihe von Erklärungsmustern an. Oben wurden bereits drei politische Antworten auf die europäische Krise skizziert, die als Folie für eine Interpretation dienen könnten. 

Die Begriffe der EU-Skepsis und der Euro-Feindschaft bilden ebenfalls eine Interpretationsfolie. Bei der Teilung in »Skeptiker versus Befürworter« könnte man noch einen politisch-analytischen Rahmen vermuten, doch schnell findet man sich in eine politisch-ideologischen Arena wider, in der der Zangenangriff der Rechts- und Linkspopulisten und der von ihnen mobilisierten Ressentiments gegenüber den europäischen Institutionen und Eliten gebändigt werden soll. Skepsis kann viele Wurzeln haben. Rechte und linke Skeptiker verfolgen sehr unterschiedliche politische Zielstellungen und unter den Befürwortern finden sich ebenfalls zahlreiche Kritiker des Status Quo mit unterschiedlichen politischen Ambitionen. Das Verhältnis zu »EU« und »Euro« erscheint auch nur denen als probates Mittel der politischen Sortierung, die beides als Wert an sich, nicht aber als ein politisches Instrument zur Verfolgung politischer Ziele etwa ein besseres Leben für alle, weniger Ungleichheit und mehr soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, Frieden, Kooperation statt Konkurrenz – betrachten und nach der Tauglichkeit der Mittel fragen. 

Genötigt, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen

Das Feld der politischen Meinungen und Positionen wird dichotomisch strukturiert und geordnet, so dass Akteure genötigt sind, sich auf die eine oder andere Seite schlagen zu müssen. In einem weiteren Schritt wird die Dichotomie emotional und affektiv aufgeladen. Auf der Seite der »Skepsis« finden sich Begriffe wie »Sorgen«, »Unsicherheit«, »Pessimismus«, »Angst« und »Verlierer«, der Seite der »Befürworter« werden »Chancen«, »Risikobereitschaft«, »Offenheit«, »Optimismus«, »Zuversicht« und »Gewinner« zugeordnet. Neben den Emotionen, die die Begriffe jeweils selbst ansprechen, schwingt immer eine Meta-Botschaft mit: den »Verlierern« gehört die Vergangenheit, den »Gewinnern« die Zukunft. Und weiter: Die Verlierer wählten meist rückwärtsgewandte, populistische Parteien, die Gewinner Parteien, denen das wirtschaftliche Wohlergehen auch in der Zukunft besonders am Herzen liegt. Und schließlich: Die Gewinner werden von Heerscharen populistisch verführter Verlierer bedroht. 

Solche Erklärungsmodelle haben sich für das veränderte (Wahl-)Verhalten in vielen Politikbereichen mittlerweile eingebürgert. Sie passen in ein ökonomistisches Gesellschaftsbild, in dem man entweder gewinnt oder verliert. Sie bestätigen damit eine vorherrschende Sichtweise. Übersehen werden dabei die fließenden Übergänge, die Abstufungen, Unterschiede und Widersprüche, die sich eigentlich einer dichotomischen Ordnung entziehen bzw. die Ansatzpunkte für alternative Politikentwürfe sein könnten. 

Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament wird aus der Bertelsmann-Stiftung im Rahmen ihres Eupinions-Projektes seit einigen Jahren behauptet, solche Polarisierungen könnten europaweite Geltung beanspruchen. Europa zeige sich zunehmend gespalten in »Ängstliche« und »Zuversichtliche«, »Gewinner« und »Verlierer«. Um die Kritik dieser Studien geht es im folgenden. Es ist zugleich eine Kritik der damit in der politischen Debatte etablierten Welt-Teilungen, die zum Beispiel als gewichtiger betrachtet werden als die Unterschiede zwischen nordwesteuropäischen, südeuropäischen und osteuropäischen Gesellschaften. Die Kritik der Polarisierungsthese führt zum Blick auf (europäische) Heterogenität und Vielfalt, auf national geprägte politische Konstellationen und Widersprüche im Alltagsbewusstsein der Befragten, also zu einer deutlich komplexeren europäischen politischen Realität. 

Dieser Text ist die Einleitung zum neuesten Arbeitspapier von Horst Kahrs für das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die ganze Studie findet sich hier, ein Anhang der Grafiken zum Arbeitspapier steht hier zum Download bereit.

Geschrieben von:

Horst Kahrs

Sozialwissenschaftler, Referent des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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