Wirtschaft
anders denken.

»Europäische Säule sozialer Rechte«: Der OXI-Überblick zum EU-Gipfel in Göteborg

17.11.2017
upyernoz, Lizenz: CC BY-SA 2.0

Die EU verspricht, mit einer »europäischen Säule« für die Bürger »neue und wirksamere Rechte« auf den Feldern Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion zu gewährleisten. Doch die Standards sind nicht rechtsverbindlich und viel zu unkonkret, kritisieren Gewerkschaften und linke Parteien. 

Die beim EU-Gipfel an diesem Freitag geplante Erklärung verspricht in 20 Punkten unter anderem ein Recht auf faire Löhne, auf einen geregelten Kündigungsschutz, Absicherung bei Arbeitslosigkeit sowie Gesundheitsversorgung und Pflege. Die Umsetzung obliegt aber den Mitgliedsstaaten. EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen wird mit den Worten zitiert: »Wir müssen dafür sorgen, dass die Säule lebendig wird.« Wie die EU dafür sorgen will, bleibt unklar.

Politisch geht es nicht zuletzt darum, die wachsende EU-Skepsis durch ein Einschwenken auf eine sozialere Linie zurückzudrängen. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker wolle »Populisten und EU-Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen«, so formuliert es die Deutsche Presse-Agentur. Vor allem mit Blick auf südeuropäische Länder, die von der Krise und der auf diese folgenden Politik am stärksten getroffen sind, laufe die »größte soziale Krise seit Generationen«, so Juncker mit Blick auf hohe Erwerbslosigkeit, grassierende Armut, schwache Wirtschaft.

Was genau hat die EU-Kommission aufgeschrieben? Es gibt 20 Punkte, angefangen vom »Recht auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form« über die Gewährleistung der Gleichstellung der Geschlechter, Chancengleichheit »unabhängig von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung« bis zum Recht »auf frühzeitige und bedarfsgerechte Unterstützung zur Verbesserung der Beschäftigungs- oder Selbständigkeitsaussichten«, sichere und anpassungsfähige Beschäftigung, »auf eine gerechte Entlohnung«, die einen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, wobei das nicht genauer bestimmt wird. Die komplette Liste der 20 Punkte findet sich hier.

Was sagen die Gewerkschaften?

Beim DGB gibt man zu, die Gewerkschaften stünden »im Dilemma«. Einerseits sei die Europäische Säule sozialer Rechte – kurz: ESSR – in ihrer aktuellen Form weder »der große Wurf«, noch bringe sie »substanzielle Verbesserungen für die Arbeits- und Lebensbedingungen« der europäischen  Beschäftigten. »Nichtsdestotrotz hat die ESSR nach jahrelangem sozialpolitischem Stillstand auf EU-Ebene die soziale Dimension wieder auf die politische Agenda gehoben und wird im Rahmen der Debatte um die Zukunft der EU diskutiert«, heißt es beim Gewerkschaftsdachverband. »Das Dilemma für die Gewerkschaften in Europa besteht auch darin, dass die soziale Dimension politisch für die nächste absehbare Zeit komplett tot wäre, würde die ESSR nicht verabschiedet.«

Bei der ESSR handelt es sich nach Ansicht des DGB »letztlich um eine Zusammenfassung des bestehenden Rechts mit einigen grundlegenden Prinzipien aus Sicht der Europäischen Kommission«. Einige Elemente seien sogar »sehr bedenklich oder sogar gefährlich«, so etwa der »Flexicurity-Ansatz« in dem Papier der EU-Kommission. »Insofern ist es nur der allerkleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Europäische Kommission festlegen wollte und/oder konnte.«

DGB-Chef Reiner Hoffmann schrieb dieser Tage in der »Frankfurter Allgemeinen«, ei­ne »fei­er­li­che Pro­kla­ma­ti­on« werde »nicht aus­rei­chen, die EU wie­der auf Kurs zu brin­gen. Die Men­schen müs­sen in ih­rem all­täg­li­chen Le­ben spü­ren, dass das Wohl­fahrts­ver­spre­chen der EU prak­ti­sche Aus­wir­kun­gen hat«. Die Säule müsse also »rechts­ver­bind­lich sein und mit ei­nem kla­ren so­zi­al­po­li­ti­schen Ak­ti­ons­pro­gramm un­ter­füt­tert wer­den«. Hoffmann stellt sich hier eine soziale Roadmap vor, anhand »die Leute nachvollziehen« könnten, »ob ihre Löhne wieder steigen, die Tarifbindung wieder zunimmt, So­zi­al­leis­tun­gen wie­der Si­cher­heit und Schutz in Zei­ten ra­san­ter Ver­än­de­run­gen ge­ben, Ar­beits­lo­sig­keit deut­lich ab­nimmt und Ar­beits­plät­ze wie­der si­che­rer wer­den«. Langfristige und grundlegende Verbesserungen seien aus Sicht des DGB »nur mit einer sozialen Fortschrittsklausel zu erreichen«; diese könnte aber nur durchgesetzt werden, wenn es zu primärrechtlichen Änderungen der EU kommt. Dann würde eine »soziale Fortschrittsklausel eine der Kernforderungen« sein, die die Gewerkschaften aufstellen.

Zweifel auch beim gewerkschaftsnahen WSI

Anke Hassel und Daniel Seikel vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut WSI wiesen darauf hin, dass »aus deutscher Sicht vor allem das flankierende Maßnahmenpaket zur ESSR« interessant sei. »Die dazugehörigen Richtlinienentwürfe sehen ein Recht auf Elternzeit für Väter und Mütter mit einem Elterngeld mindestens auf Höhe des Krankengeldes ebenso vor wie das Recht, aus einer befristeten Teilzeitbeschäftigung auf eine Vollzeitstelle zurückzukehren.«

Zwar habe die EU-Kommission mit der ESSR signalisier, »dass sie die Bedeutung der sozialen Dimension der EU erkannt hat und die bestehenden sozialen Probleme angehen will. Aber ist die ESSR geeignet, den Schutz sozialer Rechte in der EU zu verbessern? Dies darf aus zwei Gründen bezweifelt werden«, so Hassel und Seikel: »Erstens dürfte die ESSR für Länder wie Deutschland kaum Verbesserungen des Sozialschutzbestandes bringen. Dafür sind die Grundsätze zu allgemein formuliert und überdies in den nationalen Kontexten bereits weitgehend verwirklicht. Anders könnte dies für Länder wie Spanien oder Italien aussehen, deren rudimentäre Grundsicherungssysteme den Anforderungen möglicherweise nicht genügen. Zweitens formuliert die ESSR individuelle Anspruchsrechte der europäischen Bürger, die diese von den Mitgliedstaaten gerichtlich einklagen können sollen. Dieser Ansatz geht allerdings an einem zentralen Problem vorbei: Der Unterwanderung kollektiver Rechte von Arbeitnehmern durch europäische Institutionen selbst.« Dies geschehe auf zwei Ebenen. »Erstens hat der Europäische Gerichtshof den europäischen Marktfreiheiten in der Vergangenheit immer wieder einen Vorrang vor sozialen Grundrechten eingeräumt.« Und zweitens hätten »europäische Organe aktiv daran mitgewirkt, in den sogenannten Troika-Ländern soziale Rechte abzubauen. Sozialleistungen wurden gekürzt, Tarifvertragssysteme dezentralisiert, Mindestlöhne und Gehälter im öffentlichen Dienst eingefroren oder gesenkt. Diese Maßnahmen waren im Hinblick auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Krisenländer katastrophal.«

Es müsse »folglich bezweifelt werden, dass individuelle soziale Rechte, die gegenüber den Mitgliedstaaten und nicht gegenüber der EU einforderbar sein sollen, dagegen etwas ausrichten können.« Tatsächlich seien »kollektive soziale Rechte bereits heute durch bindendes europäisches Recht – die europäische Grundrechtecharta – geschützt. Jedoch haben diese Schutzbestimmungen europäische Organe nicht davon abgehalten, soziale Grundrechte zu umgehen oder gar direkt zu verletzen. Das Problem ist demnach nicht (nur) ein mangelhafter Sozialschutz in den EU-Mitgliedstaaten, sondern die Verletzung sozialer Rechte durch europäische Politik und Verfahren.«

Die IG Metall begrüßte die ESSR-Initiative im Grundsatz. »Wir wollen eine starke europäische Säule sozialer Rechte«, sagte Vorstandsmitglied Wolfgang Lemb. Die Säule könne die Errichtung eines sozialeren Europas unterstützen, indem es allen Playern auf europäischer Ebene als Orientierung dient: Den Mitgliedstaaten, den Sozialpartnern sowie dem EU-Parlament und der Kommission selbst. Man brauche aber auch »einen Aktionsplan«, damit es »nicht bei einer reinen Symbolpolitik bleibt, müssen schönen Worten auch entsprechende Taten folgen«, so Lemb.

Was sagt die Unternehmerlobby?

Als die ESSR Ende April vorgestellt wurde, machte die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände direkt Front: Es handele sich um »ein Dokument des Aktionismus und der bürokratischen Selbstüberschätzung«, so der frühere CDU-Abgeordnete und BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. »Wieder einmal macht die EU Versprechungen, die nur auf nationaler Ebene sinnvoll realisiert werden können.« Gute, das ist für die Arbeitgeberverbände »aktivierende Sozialpolitik« sei zwar »für den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaften ist notwendig, aber ihre Ausgestaltung liegt in der Verantwortung des einzelnen Mitgliedstaates«.

Bei einer Beratung der ESSR im Bundestag sagte Kampeter, »eine weitere Verrechtlichung der Spielräume, die eine lebendige Sozialpartnerschaft ausfüllen können, ist kontraproduktiv«. Er warf der EU-Kommission eine »Überinterpretation der Verträge« vor und sprach von dem Versuch, Souveränität auf die europäische Ebene zu transferieren. »Springen Sie nicht der Kommission bei, sondern verfolgen Sie vernünftige subsidiäre Ansätze.«

Der Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, Michael Eilfort, sagte bei der parlamentarischen Beratung, die vorrangige sozialpolitische Kompetenz liege bei den Mitgliedstaaten. Die Autonomie kleinerer Einheiten sei einer zentral administrierten und regulierten europäischen Sozialpolitik vorzuziehen, da es regional unterschiedliche Präferenzen gebe. Außerdem könnten EU-weit einheitlich geregelte soziale Leistungen die Wettbewerbsfähigkeit wirtschaftlich schwächerer Regionen beeinträchtigen und sie ökonomisch überfordern.

Wer kritisiert die ESSR noch?

Der Kölner Politikwissenschaftler Martin Höpner vom Max-Planck-Institut meint, »für den Mangel an sozialpolitischen Visionen ist die Kommission in der gegenwärtigen Lage nicht zu kritisieren. Weitaus mehr kritische Aufmerksamkeit als bisher aber verdient die von der Kommission gewählte Umgehungsstrategie: der angestrebte Weg über die Definition von mehr europäischen Individualrechten«. Man solle der EU-Kommission durchaus »abnehmen, dass sie der europäischen Öffentlichkeit sehr gern eine Anzahl visionärer politischer Vorhaben vorgelegt hätte«. Das Problem aber sei, »dass es das soziale Harmonisierungsprojekt, das auf Bulgarien oder Lettland ebenso passen würde wie auf Österreich oder Italien, das in all diesen Ländern Nutzen stiften würde und zudem auch noch mehrheitsfähig, wenn nicht gar konsensfähig wäre, derzeit einfach nicht gibt«.

Höpner führt das auf die »Heterogenität der in der EU vertretenen Wirtschafts- und Sozialsysteme« zurück und sieht auch in der »tiefen Nord-Süd-Spaltung, unter der die EU seit dem Eintritt in die Eurokrise leidet«, eine weitere Ursache. So habe zum Beispiel ein Projekt der schrittweisen Vereinheitlichung der Arbeitslosenversicherungen, das als Vorstufe zur Errichtung einer europäischen Arbeitslosenversicherung dienen könnte, »unter den gegenwärtigen Bedingungen von vornherein keine Chance auf Verwirklichung«. Es sei deshalb auch von der EU-Kommission nicht in Angriff genommen worden.

Höpner verweist zudem auf ein Paradox: So könne »ein Mehr an europäischen sozialen Rechten die soziale Praxis unter Druck setzen, statt sie zu schützen. Was auf den ersten Blick wie ein Ringen um mehr Sozialpolitik aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Waffe in der Auseinandersetzung um das Recht auf Letztentscheidung bei Rechtskollisionen im europäischen Mehrebenensystem«. Wer das soziale Defizit der EU bekämpfen wolle, müsse »es aber an seinen Wurzeln packen. Erstens erfordert ein sozialeres Europa einen Stopp des europäischen Spar-, Lohnsenkungs- und Deregulierungswettlaufs. Der Schlüssel hierfür liegt in der makroökonomischen Politik und insbesondere im Wechselkursregime, nicht in der Anzahl europäisch definierter sozialer Individualrechte. Zweitens kann es ein sozialeres Europa nur geben, wenn sensible Bereiche marktkorrigierender Politik vor dem Zugriff der europäischen Grundfreiheiten geschützt werden. Und drittens ist auch mehr gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene auszuloten, das im sozialpolitischen Bereich derzeit aber vor allem als Koordinierung zwischen ähnlichen Ländern denkbar ist.«

Linkspartei und Attac: sozialer Anstrich für unsoziale Politik

Es sei zwar »höchste Zeit« für eine solche »Soziale Säule«, denn bislang habe sich die EU »kaum um die soziale Dimension und das in den Europäischen Verträgen genannte und auf Sonntagsreden gern zitierte Ziel des sozialen Fortschritts gekümmert«, heißt es bei der Linkspartei – »die entsprechenden Passagen in den Verträgen« hätten bisher »faktisch keine Bedeutung«. Die ESSR laufe aber letztlich »vor allem auf neue Indikatoren und Lippenbekenntnisse hinaus. Man redet, koordiniert, vergleicht und misst. Man ändert aber wenig. Verbindliche, harte und sanktionsbewehrte Regeln bleiben der Wirtschafts- und Finanzpolitik vorbehalten. Die Überordnung ökonomischer über soziale Interessen bleibt somit unangetastet. Ganz offenkundig geht es in erster Linie darum, der neoliberalen EU-Politik einen sozialen Anstrich zu geben.«

Ähnlich argumentiert das globalisierungskritische Bündnis Attac. »Als soziales Europa konstruiert die Kommission eine Problemstellung und ein Lösungsangebot, in dem Sozialabbau zur Sozialpolitik verklärt wird«, heißt es in einer Kritik. Es bestehe dabei keinerlei Anspruch, die Menschen vor den Härten des Marktes zu schützen. »Was sie erwarten können ist bestenfalls, besser auf ein Leben als Marktmensch, als Ware auf dem Arbeitsmarkt, vorbereitet zu werden.« Letztlich laufe der ESSR-Ansatz darauf hinaus, »die Idee des sozialen Europas so zu gestalten, dass sie umstandslos in das neoliberale Europa eingebunden werden kann. Jedoch, was neoliberal ist, kann nicht sozial sein. Neoliberale Politik unterwirft die Menschen den Märkten und den mächtigen Playern. Soziale Politik verdient ihren Namen nur, wenn sie darauf abzielt, Menschen vor den Märkten und jenen, die sie dominieren, zu schützen, wenn sie also anti-neoliberal ist.«

Geschrieben von:

OXI Redaktion

Hinweis

Guter Journalismus ist nicht umsonst…

Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.

Zahlungsmethode

Betrag