Wirtschaft
anders denken.

Von Zögern bis Zinswende

12.10.2022
Eine Euro-Münze in Nahaufnahme. Man sieht den Euro-Schriftzug vor einer Karte von Europa.Foto: Immo Wegmann on Unsplash Eine Geldpolitik für die ganze Eurozone? Das kann bezweifelt werden.

Das Verhalten der EZB sagt viel über zeitgenössische Geldpolitik und ihre aktuellen Herausforderungen aus. Eine Chronik der Zinswende zum Schwerpunkt »Geld« von OXI 10/22.

Viel zu lange habe die Europäische Zentralbank (EZB) gezögert, die Zinsen endlich wieder zu erhöhen, so die allgemeine Erzählung. Mit dem Quantitative Easing, also dem Ankauf von Anleihen, habe die Notenbank ihr Ziel – die Preisstabilität – aus den Augen verloren und wirtschaftspolitisch motiviert statt neutral gehandelt. Erst jetzt, mit den massiv steigenden Inflationszahlen im Nachgang der ersten Wellen der Corona-Pandemie und der Energiekrise, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, hat sie sich besonnen und die Zinswende angekündigt. Doch die Lage ist komplizierter: Zinserhöhungen sind möglicherweise gar nicht das geeignete Mittel, um die gegenwärtigen Preissteigerungen zielgenau zu bekämpfen und die internationale Geldpolitik befindet sich im Wandel wie sich am Verhalten der EZB beispielhaft zeigt.

4. Mai

»Jetzt reicht es nicht mehr zu reden, wir müssen handeln«, bricht Isabel Schnabel im »Handelsblatt«-Interview die Lanze für eine Zinserhöhung der EZB. Das Mitglied im Direktorium der Zentralbank teilt damit hart gegen die geldpolitische Strategie des Forward Guidance aus. Diese basiert auf der Kommunikation der Erwartungen der Notenbank, eben dem Reden über die Zukunft. So sollen Markterwartungen über den zukünftigen Zinssatz beeinflusst werden, was besonders an der Nullzinsgrenze relevant ist. Doch jetzt soll gehandelt werden. Die EZB solle im Juli die Zinsen erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, so Schnabel, die lange die Preissteigerungen weniger kritisch sah.

Das geldpolitische Umfeld, in dem diese Einschätzung gefällt wird, ist auf den ersten Blick klar. Die Inflation im Euroraum beträgt im April 7,5 Prozent. Die amerikanische FED hatte bereits im März angefangen die Zinsen zu erhöhen und im Mai mit einem Prozent nochmal kräftig nachgelegt. Dort lag die Inflationsrate bei 8,5 Prozent. Mit einer Erhöhung des Leitzinses werden die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen eingeschränkt und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gedrosselt. Das bremst Preissteigerungen.

Auch der ehemalige Wirtschaftsweise Peter Bofinger plädiert in einem Kommentar Anfang Mai für dieses traditionelle Mittel der Zentralbanken, um das Preisniveau zu steuern. Er empfiehlt jedoch Vorsicht bei den Anleihenkaufprogrammen, mit denen die Zentralbanken des Eurosystems Anleihen erwerben und so die Zinsen über die ganze Zinskurve senken. Kauft die Notenbank Staatsanleihen mit einer Laufzeit, senkt sie die Zinsen in eben jenem Zeitraum – also ferner in der Zukunft als mit ihren Tendergeschäften. Sie können hiermit auch in der Nullzinsfalle weiter Geldpolitik betreiben und bestimmte Anleihen stabilisieren. Bei diesem Instrument solle die EZB flexibel bleiben, fordert Bofinger.

Doch genau diese Anleihenkäufe möchte die EZB nun schon vor der Zinserhöhung aussetzen, kündigt Schnabel Anfang Mai dem »Handelsblatt« an. Kritiker:innen sehen darin Potenzial für eine neue Eurokrise. Die Zinswende wird eingeläutet – ihre möglichen Opfer bibbern.

17. Mai

Die Diskussion um die Höhe der Zinserhöhung ist eröffnet. Einige fordern einen halben Prozentpunkt, andere halten einen Viertelpunkt für realistisch. In einer Stellungnahme fasst das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) das Dilemma der EZB treffend zusammen: »Folgt sie ihren Regeln und erhöht ebenfalls die Zinsen, um die Inflation in Richtung des Zielwerts von 2 Prozent zu drücken, droht sie die Wirtschaft in der Eurozone in eine Rezession zu stürzen.« Mit der Drosselung der Nachfrage über den Zins bremst die EZB nämlich nicht nur die Preissteigerung, sondern auch das Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig ist die Zinserhöhung auch nicht zielgenau. Die derzeitige Inflation resultiert aus den Nachwehen des angebotsseitigen Corona-Schocks und vor allem den steigenden Energiepreisen – auch dieser von der Angebotsseite ausgelöst. Dem kann die Zentralbank über die Nachfrage zwar auf breiter Front entgegentreten, trifft jedoch kaum die Ursachen. Die Energiepreise auf dem Weltmarkt könne die EZB nur bedingt beeinflussen, resümiert das IW.

Die Reaktionen auf das Handeln der EZB fallen schon nach kurzer Zeit kritisch aus – aus allen politischen Lagern. Von rechts greift man auf alte Argumente zurück und bemüht monetaristische Kritik. Bernd Lucke, Wirtschaftsprofessor und fast vergessener Mitgründer der AfD, schreibt im Cicero, Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, sei »offensichtlich von allen guten Geistern verlassen«. Obwohl sie nun die Zinsen erhöhen möchte, soll die EZB weiter Anleihen kaufen und somit die Geldmenge ausweiten, lautet der Vorwurf. Er bemüht eine breit widerlegte, auf Milton Friedman zurückgehende Inflationstheorie. Nach dieser hängt die Inflation direkt mit der vorhandenen Geldmenge zusammen. Wird sie größer, ist eine Einheit Geld weniger wert, die Preise steigen. Somit solle die Zentralbank – ganz technokratisch – allein die Geldmenge steuern, mehr nicht.

Doch auch links der Mitte ist man unzufrieden. In der »Jungen Welt« wirft Finanzjournalist Lucas Zeise der EZB vor, sinnlos in die Rezession hineinzubremsen. Das jedoch ist ein Problem der politischen Ausgestaltung. Das Mandat der EZB legt Preisstabilität als ihr Ziel fest, nicht Unterstützung zur Vollbeschäftigung wie beispielsweise in den USA. Dieses Mandat hat die EZB bereits in den vergangenen Jahren breit ausgedehnt. Soll sie noch mehr tun, müsste man ihre politische Grundlage reformieren.

9. Juni

Wie erwartet kündigt der EZB-Rat in seiner regelmäßigen Sitzung eine Zinserhöhung um einen Viertelprozent im Juli an. Zum Ersten dieses Monates sollen zudem die Anleihenkäufe eingestellt werden.

15. Juni

Die amerikanische FED erhöht die Zinsen um 0,75 Prozent. In den USA liegt die Inflation mit 8,6 Prozent noch rund ein Prozent über der im Euroraum. Zudem ist die Kerninflation – die Preissteigerung exklusive Lebensmittel- und Energiepreisen – höher als in Europa wo diese bei 4,3 Prozent liegt. Ein Hinweis darauf, dass die amerikanischen Probleme anders liegen als in Europa. Der Arbeitsmarkt dort ist straffer, das Angebot der Arbeitskraft ist kleiner als die Nachfrage und auch gesamtwirtschaftlich liegen Probleme eher auf der Nachfrageseite.

Gleichzeitig beruft der EZB-Rat eine Sondersitzung ein. Mit der Ankündigung die Anleihenkaufprogramme einzustellen, schnellen die Zinsen der Staatsanleihen südeuropäischer Staaten, besonders Italiens, in die Höhe. Zeitweise beträgt der Unterschied zwischen deutschen und italienischen Anleihen 2,5 Prozent. Bereits in den vergangenen zehn Monaten waren ihre Zinsen kontinuierlich gestiegen. Das bringt die betroffenen Staaten in Finanzierungsschwierigkeiten, da sie sich weiter verschulden müssen, um Anleihen zu bedienen. Die EZB kündigt daraufhin an, besonders höher verschuldete Euro-Länder mit der Reinvestition der Erträge aus vergangenen Käufen zu stützen. Zudem will sie ein neues Instrument schaffen, um derartige »Spreads«, also das Auseinanderdriften der Anleihen von Mitgliedsstaaten, anzugehen.

Schon vor seiner Einführung hagelt es an einem solchen Instrument harsche Kritik. Es würde verschuldete Länder dazu verleiten, die Staatsausgaben exzessiv auszuweiten. Doch: »Gerade im Falle Italiens ist der Vorwurf hanebüchen«, erwidert Ökonom Philipp Heimberger im »Handelsblatt«. Die Sparmaßnahmen des Landes überschritten die Deutschlands bei weitem. Mangelnde fiskalpolitische Disziplin seien nicht die Ursache für das Auseinanderdriften der Eurozone, sondern eine »unvollständige Euro-Zonen-Architektur«. Die Zentralbank müsse andauernd ihr enges politisches Mandat zurechtbiegen, um eine Geldpolitik zu betreiben, die auf den Zusammenhalt der Währungsunion gerichtet ist. »Bei fortwährendem Stress an den Finanzmärkten ist Preisstabilität nicht erreichbar.«

Außerdem müsste die EZB idealerweise gar nicht wirklich die Anleihen kaufen, allein die Ankündigung reiche aus, entwarnt Heimberger. Funktioniert Forward Guidance also doch noch?

1. Juli

Die EZB stellt ihre Anleihenkaufprogramme ein.

21. Juli

Anders als angekündigt beschließt die EZB in ihrer ordentlichen den Leitzins nicht nur um 0,25 Prozent, sondern ab dem 27. Juli um ein halbes Prozent anzuheben. Es ist die erste Erhöhung seit elf Jahren.
Ökonom Volker Wieland erscheint damit ein »Hoffnungsschimmer«, sagt der ehemalige Wirtschaftsweise bei»tagesschau.de«. Allerdings komme die monetäre Straffung zu spät. Die Inflationserwartungen seien in den vergangenen Monaten so sehr angestiegen, dass die Zinsen weiter hinterherhinken. Annahmen über die Zukunft sind für die reale Inflation von großer Bedeutung. »Inflationserwartungen sind nämlich ein wichtiger Einflussfaktor für die Konsum- und Sparentscheidungen privater Haushalte und für die Investitionsentscheidungen von Unternehmen«, erklärt die Bundesbank. Sie beeinflussen die Lohn- und Preissetzung und müssen stabil und niedrig bleiben, um Preisstabilität zu ermöglichen.

Mit dem neu entwickelten Transmission Protection Instrument (TPI) möchte die EZB in Zukunft, wenn nötig, den entstehenden Spreads entgegenwirken. Im Rahmen des TPI kann die EZB – mit relativ lockeren Bedingungen – Anleihen von Staaten, deren Finanzierungsmöglichkeiten eingeschränkt sind, auf dem Sekundärmarkt erwerben und sie somit absichern. Damit gibt TPI den Finanzmärkten schon ohne wirklichen Einsatz Investitionssicherheit. Es zielt vor allem auf die südeuropäischen Länder. Erneut handelt sich die Zentralbank damit den Vorwurf ein, direkte Staatsfinanzierung zu betreiben. Begründet wird das Instrument jedoch damit, dass eine effektive Geldpolitik nur überall in Europa wirkt, wenn die Finanzmärkte keine Turbulenzen aufweisen.

Die Inflation beträgt im Juli derweil 8,9 Prozent – ein neuer Rekord.

29. August

»In diesem Umfeld müssen die Zentralbanken kraftvoll handeln«, sagt Isabel Schnabel auf der wichtigsten geldpolitischen Konferenz in Jackson Hole, Wyoming (USA). Die EZB-Direktorin spielt damit vor allem auf das Vertrauen in die EZB an, das sie durch die hohen Inflationsraten gefährdet sieht. Wenn Wirtschaftsakteur:innen die Ankündigungen der EZB nicht mehr glauben, würden beträchtliche Folgekosten drohen, so Schnabel.

Generell ist Vertrauen für die Effektivität der Geldpolitik höchst relevant. »Geld ist ein Vertrauensgut«, betonte die deutsche Ökonomin bereits 2020 in einer Rede. Nur bei Vertrauen in die Zentralbank können die bereits angesprochenen Inflationserwartungen gefestigt werden. Zudem führt schwindendes Vertrauen dazu, dass wirtschaftliche Akteur:innen nicht wie von ihnen erwartet auf Handeln der Zentralbank reagieren. Die Geldpolitik wird ineffektiver.

8. September

Wieder alle Augen auf die Sitzung der EZB: Diese wagt einen historischen Zinsschritt und erhöht sie um 75 Basispunkte auf 1,25 Prozent – eine so große Erhöhung beschloss die Zentralbank noch nie seit der Bargeld-Einführung des Euros 2002. Damit ist der Kurs der Frankfurter Notenbank klar: Sie zeigt Härte in der Geldpolitik und wählt den Zins als Instrument.

Das sehen viele kritisch. Und dafür muss man kein:e Linke:r sein: Robin Brooks, Chefökonom des Institute of International Finance und ehemaliger Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds, weist via Twitter darauf hin wie die Märkte auf die Zinserhöhung reagieren: Der Euro fällt weiterhin. Die Märkte schauen nicht auf das Handeln der EZB, sondern fokussieren die drohende tiefe Rezession, die die Eurozone »verschlingen« wird. Die Zinserhöhungen, so Brooks, würden dabei die Rezession nicht verhindern oder zumindest abfedern, sondern verschlimmern.

Der Winter wird kalt.

Geschrieben von:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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