Wirtschaft
anders denken.

»Hüterin der gemeinsamen Währung, nicht des sozialen Friedens«

Die EZB unterscheidet sich fundamental von klassischen Zentralbanken. Aus OXI 9/22.

29.09.2022
Benjamin Braun vor unscharfem Hintergrund
Benjamin Braun ist Politikwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und beschäftigt sich dort mit internationaler politischer Ökonomie. Seine Forschungsschwerpunkte liegt auf Zentralbanken und der politischen Ökonomie des Asset-Manager-Kapitalismus.

Was ist eine Zentralbank, Herr Braun?

In Deutschland heißt es immer »die Notenbank«. »Die Währungshüterin« ist ein anderer beliebter Begriff. Aber das sind nicht die besten Beschreibungen einer modernen Zentralbank. Denn die ist immer viel mehr als das. Sie ist die zentrale Institution im Finanzsystem, und der Finanzsektor wiederum stellt den zentralen Sektor im Kapitalismus dar. Die Zentralbank spielt also nicht nur eine bedeutende Rolle für die Geldpolitik, sondern für den Kapitalismus, unsere Wirtschaftsform.

Was macht eine Zentralbank?

Sie legt nicht nur den kurzfristigen Zinssatz fest, mit dem man Geldpolitik mit dem Ziel der Inflationssteuerung betreibt, wie man das vielleicht im Lehrbuch lernt. Zentralbanken sind auch immer Lender of Last Resort im Falle einer Finanzkrise. Seit der letzten Finanzkrise sind sie auch Market Maker of Last Resort. Mit verschiedenen Instrumenten kauft und verkauft die Zentralbank Wertpapiere aller Art, um das Finanzsystem zu stabilisieren und auch, um die Wirtschaft makroökonomisch in einer Krise zu stimulieren. Das wurde in den letzten Jahren als Quantitative Easing bezeichnet. Durch diese Interventionen hat die Zentralbank beträchtliche Macht über die Organisation des Finanzsystems und über die Menge und Ausrichtung der Kreditschöpfung.

Was hat Karl Polanyi damit zu tun? Der fällt einem nicht unbedingt als Erstes ein, wenn man über Zentralbanken redet.

Polanyis Hauptwerk »Die große Transformation« beginnt mit einer Beschreibung des Goldstandards, also des internationalen Währungsregimes im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das war ein sehr striktes Währungsregime mit dem Ziel der Wechselkursstabilität. Nationalstaaten, die sich am internationalen Goldstandardsystem beteiligten, mussten ihre gesamte Wirtschaftspolitik an diesem Ziel ausrichten.

Interessanterweise sieht Polanyi die Rolle der Zentralbank darin ähnlich zur Rolle der Gewerkschaften. Er spricht von sogenannten fiktionalen Gütern – Land, Kapital und Arbeit. Die große Transformation, die Polanyi beschreibt, ist die Vermarktlichung und Kommodifizierung von Arbeit und Kapital. Arbeit bleibt dabei jedoch ein »fiktionales« Gut, da sie eben von Menschen erbracht wird, die selbst keine Güter sind. Die Bewegung gegen diesen Kommodifizierungsdruck fand ihren institutionellen Ausdruck in der Bildung von Gewerkschaften, die als gesellschaftliche Kraft gegen diese Kommodifizierung der Arbeit kämpften. Ähnlich sieht Polanyi die Rolle der Zentralbanken: eine technokratische Bewegung gegen die Kommodifizierung des Geldes unter dem internationalen Goldstandard-Regime. Er beschreibt die Rolle der Zentralbanken damals als Puffer zwischen dem Anpassungsdruck, den der Goldstandard auf nationale Volkswirtschaften ausübte, und dem politischen Imperativ, soziale Not abzumildern.

Heute haben wir keinen Goldstandard mehr.

Ich würde nicht so weit gehen, dass wir Polanyis Theorie unmittelbar auf die Gegenwart anwenden können. Doch seine analytische Perspektive auf den Goldstandard lässt sich auch auf die Gegenwart übertragen, um zu zeigen, worin die Spezifika der EZB als Zentralbank bestehen.

Was macht die EZB besonders?

Der Euro schreibt die nationalen Wechselkurse für immer fest. Jedes Land, das seine eigene Währung aufgibt, um der Eurozone beizutreten, tritt mit einem fixen Wechselkurs bei. Das Wechselkursregime des Euro ist aus der Sicht einzelner Länder noch strikter als der Goldstandard. Denn bei dem gab es die Möglichkeit einer Anpassung des Wechselkurses, und auch der Austritt aus dem Goldstandard war einfacher als der aus dem Euro. Die Parallele zwischen Goldstandard und dem Euro ist das Regime fixer Wechselkurse.

Und die Unterschiede?

Der Euro ist in einer anderen Dimension noch strikter als der Goldstandard. Unter diesem hatten die Nationalstaaten ihre eigenen, nationalen Zentralbanken. Diese konnten die Pufferrolle ausfüllen, indem sie den Anpassungsdruck auf nationale Volkswirtschaften abmilderten. Die nationalen Zentralbanken in der Eurozone hingegen sind subsumiert unter das europäische System der Zentralbanken. Die Institution, die Geldpolitik betreibt, ist die supranationale EZB. Diese musste die funktionalen Voraussetzungen für den Euro überhaupt erst schaffen, bevor sie ihn dann später unter allen Bedingungen bewahren musste. Sie ist also die Hüterin der gemeinsamen Währung, weniger die Hüterin des sozialen Friedens in den nationalen Volkswirtschaften, wie Polanyi noch meinte.

Ihre wichtigste Rolle ist es, sowohl das Finanzsystem als auch den Arbeitsmarkt an die funktionalen Voraussetzungen für eine Währungsunion anzupassen. In beiden Teilen der Wirtschaft, Finanzsystem und Arbeitsmarkt, nahm das in erster Linie die Form von strukturellen Reformen an. Reformen, die auf eine stärkere Vermarktlichung und Flexibilisierung ausgerichtet waren.

Welche Reformen meinen Sie?

Die EZB hat sich ab 1999 für die Arbeitsmarktliberalisierung eingesetzt, um einen liberalisierten Arbeitsmarkt nach dem Vorbild der angelsächsischen Länder zu schaffen. Ganz explizit mit dem Ziel, Unterschiede zwischen nationalen Arbeitsmarktinstitutionen und nationalen Wohlfahrtsinstitutionen abzubauen. Diese Unterschiede können dazu führen, dass Lohnentwicklungen und Inflationsdynamiken divergieren. Geldpolitische Instrumente können nur dann wie geplant funktionieren, wenn diese institutionellen Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitsmärkten nivelliert werden.

Hat die EZB damit konservative Wirtschaftspolitik durchgesetzt?

Sie hat sich in ihrer heikelsten Phase mit der Troika tatsächlich an der Durchsetzung von strukturellen Reformen beteiligt. Davor und auch zum Teil danach hat sie sich vor allem diskursiv für strukturelle Reformen eingesetzt, wenngleich mit beträchtlicher, auf Expertise beruhender Autorität. Wir können in unserer Forschung zwar nicht zeigen, dass das immer unmittelbar zu strukturellen Reformen geführt hat, man kann aber eindeutig sagen, dass die EZB relativ einseitig den Anpassungsdruck, der von der Währungsunion ausging, auf die Schultern der Arbeiterinnen und Arbeiter umverteilen wollte. Motivation dafür – insbesondere in den ersten Jahren der Währungsunion – war, dass die EZB eine strikte, restriktive Geldpolitik wahren wollte, um ihre Glaubwürdigkeit im Kampf gegen Inflation unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig war die Arbeitslosigkeit damals sehr hoch. Angebotsseitige Hindernisse für ein höheres Beschäftigungsniveau sollten aus dem Weg geräumt werden.

Was ist 2015 passiert?

Wir betrachten in unserem Artikel die Daten bis 2019, also die ersten 20 Jahre des Euro. Doch ab 2015 sehen wir ein auffälliges Schweigen der EZB über strukturelle Reformen. Über eineinhalb Jahrzehnte aggressive Rhetorik für diese Reformen nahm da ein Ende. Die deflationären Tendenzen traten immer stärker hervor und auch die EZB begann 2015 als letzte große Zentralbank ihr QuantitativeEasing-Programm. Deflation und deren Bekämpfung wurde zum Hauptproblem. Strukturelle Reformen hingegen wirken in der kurzen Frist – so damals die neue Sprachregelung der EZB – deflationär. Zudem war die EZB zunehmend in Kritik geraten, unter anderem im wichtigsten Forum für ihre demokratische Überwachung, dem Europäischen Parlament. Dort wurde explizit Kritik an ihrer Rolle in der Troika geübt und so dem Handeln der EZB die Legitimität genommen.

Zum Weiterlesen:

Braun, Benjamin; Di Carlo, Donato und Diessner, Sebastian: »Planning laissez-faire: Supranational central banking and structural reforms«, Zeitschr. für Politikwissenschaft 2022.

Braun, Benjamin; Di Carlo, Donato; Diessner, Sebastian und Düsterhöft Maximilian: »Between governability and legitimacy: The ECB and structural reforms?« 2022.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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