Wirtschaft
anders denken.

Einbruch der Realität in die Abstraktion

01.12.2022
Auf einer Leiter stehen Fachkräfte und gehen Richtung HimmelFoto: sol

Ein neues Einwanderungsgesetz soll die Not lindern und Fachkräfte auf den deutschen Arbeitsmarkt bringen. Aus OXI 11/22.

Eine neue, späte Liebe bahnt sich auf dem Arbeitsmarkt an. Sie gilt dem Arbeiter, dem verschwundenen Wesen. Ihm werden plötzlich heiße Tränen nachgeweint. Es ist wie im richtigen Liebesleben: Was man an der alten Beziehung hatte, wird erst deutlich, sobald sie vorbei ist. Konservative Blätter entpuppen sich neuerdings als die Liebhaber des verflossenen Proletariats. »Arbeitermangel treibt Firmen in die Pleite«, titelt eines dieser Blätter. Der Verbandschef des Baugewerbes rechnet mit Insolvenzen wegen des Mangels an Handwerkern. »Und diese Erkenntnis darf nicht erst eintreten, wenn Horden von Akademikern plötzlich jahrelang warten müssen, bis sie ihr Dach repariert, ihren Hof gepflastert oder ihr Haus gebaut bekommen, da muss jetzt schnell etwas passieren«, schimpft er. Land unter also im Hoch- und im Tiefbau. Und auch in der Gastronomie, am Flughafen, in den Kindergärten, den Pflegeheimen und beim Transportgewerbe fehlen die Arbeitskräfte. Allein das mittelgroße Wiesbaden sucht 100 Busfahrer für den Nahverkehr.

Die Minister Heil und Faeser versprechen nun Abhilfe. Ein neues Einwanderungsgesetz soll die Not lindern. Nur wer im Trüben fischen will, kann gegen ein solches Gesetz etwas haben. Für dieses Fischen rüstet sich wieder die AfD. Wo die politische Debatte verschmutzt ist, sieht sie sich chancenreich. Wie darauf reagieren? Antipopulistische Politik hat den Slogan »If they go low, we go high« erfunden. Im politischen Esperanto einer klugen Linken sollte diese Strategie sehr beachtet werden. Sie lebt vom Verweis auf Fakten, nicht von Rhetorik. Das von der Ampelregierung geplante Gesetz sollte auf semantische Überhöhung verzichten. Es geht ja nicht nur um Fachkräfte. Sehr gesucht sind die, die in der Sprache der Gewerkschaften als Angelernte bezeichnet werden. Entsprechende Stellen zu besetzen gibt der Beschäftigtenpool einer Angestelltengesellschaft nicht her. Wer in ihr sozialisiert ist, dem gilt körperliche Arbeit als nicht gesellschaftsfähig.

Das von der alten Großen Koalition beschlossene Fachkräfte-Einwanderungsgesetz hat die Erwartungen nicht erfüllt. Das neue Gesetz will daher nachbessern. Die von außerhalb der EU kommen, sollen hier arbeiten können, wenn sie die Kriterien eines Punktekatalogs erfüllen: Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, kein fortgeschrittenes Alter, Fachkräfte eben. Zur Kehrtwende des Gesetzgebers hat die Dramatik einzelner Branchen geführt. Allein dem Gastgewerbe (mit 1,8 Millionen Beschäftigten bald doppelt so groß wie die Automobilindustrie) fehlen 350.000 Servicekräfte. Corona, schlechte Bezahlung, lange Arbeitszeiten, dazu stressige Chefs und Gäste haben die Reihen gelichtet.

Es rächt sich das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft als Wissensgesellschaft. Die seltsame Spezies Arbeiter scheint es kaum noch zu geben. Vielleicht wäre sie noch in Chinas Fabriken zu sichten, aber in Deutschland, versichern dessen Soziologen, stünde der Begriff nur noch fürs 19. Jahrhundert. Von Hegel stammt der Satz: »Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen heißt Wirklichkeit zerstören.« Aber in Deutschland braucht es keine idealistische Philosophie, sondern MINT-Fächer. Alle sollen irgendwas mit Naturwissenschaft studieren oder BWLer werden; das ist das eingebläute Credo. Infolge dieses Credos fehlen die Lehrlinge für die handwerklich-industriellen Berufe und erst recht die Arbeitskräfte für die gering qualifizierten Jobs. Die »gesellschaftliche Statuswahrnehmung« sei das Problem, so ein Forschungsdirektor am Bundesinstitut für berufliche Bildung.

Laut reiner Lehre soll es diese Jobs eigentlich gar nicht mehr geben. Die Industrie habe doch längst das Level 4.0 erreicht. Das sind so die modernen Märchen. Auf Befragungen ihrer Betriebsräte fußende Studien der IG Metall zeigen ein ganz anderes Bild. Selbst in den avancierten Industrien ist man weit von einer integrierten, cyberphysikalischen Produktionsweise entfernt. Noch der auf sein Ingenieursniveau so stolze Maschinen- und Anlagenbau weist bis zu zehn Prozent unqualifizierte, stupide Arbeiten (zum Beispiel als Teileeinleger) aus. Und die per Berufsausbildung qualifizierten Facharbeiter:innen sind nicht die letzten Mohikaner:innen, sondern die Ersten bei der Überwachung der digitalisierten Fertigungsstraßen, von denen die Elektroautos rollen sollen.

Da die deutsche Angestelltengesellschaft nur ins Büro und ins Homeoffice drängt, soll die Migration das Problem mit den fehlenden Azubis und den körperlich belastenden Jobs lösen. Den Engpass beim hochqualifizierten Personal gibt es auch, aber ihm gegenzusteuern, fehlen die gesetzlichen Mittel. Die sind nämlich schon ausgereizt. Für Akademiker ist das deutsche Einwanderungsrecht äußerst großzügig. Aber wer will schon ins Saxony Valley, near Dresden, wenn das Silicon Valley, near San Francisco, als Arbeitsplatz winkt. Zudem ist in Kalifornien die verkehrte Hautfarbe kaum ein Problem, aber durchaus in Sachsen. Einem in Dresden angesiedelten großen Chiphersteller fällt es schwer, Entwickler aus dem Ausland anzuwerben: »Wir müssen ihm erklären, dass die Region Dresden sicher ist, dass Kinder alleine zur Schule gehen können und man durch das Tragen eines Kopftuches nicht ausgegrenzt wird«, sagt der Sprecher von Globalfoundries.

Die deutsche Ökonomie befindet sich im Vorfeld der Rezession und mitten in der sogenannten digitalen Transformation. Ein Gutachten des Habeckschen Wirtschaftsministerium rechnet mit einem Mismatch auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Durch die Überalterung der Berufstätigen werde der Fachkräfte-Mangel anhalten, aber die Zahl der Arbeitslosen könne durchaus steigen. Arbeitslosigkeit drohe dem, dessen Ausbildung keine Passform mit den angebotenen Jobs aufweist.

Es ist der Algorithmus, der den Daumen hebt und senkt. Er ersetzt Tätigkeiten im Backoffice der Industriebetriebe und vor allem bei Banken und Versicherungen. Die Taz weiß von einem »Job-Futuromat« der Bundesagentur für Arbeit zu berichten. Dort lässt sich ablesen, welche Tätigkeit durch Digitalisierung wegfallen wird. Wer in der Pflege arbeitet, kann durchatmen; nur 25 Prozent seines Arbeitsspektrums sind ersetzbar. Bei den Post- und Paketboten liegt die Quote bei 50 Prozent. Das Orakel von Nürnberg erfasst auch die Banken. Was Bankkaufleute täglich so tun, wird zu 88 Prozent einmal das Werk von Algorithmen sein. In der alten, von Siegfried Kracauer beschrieben Angestelltengesellschaft hatte der Bankangestellte die Krone auf; in der neuen gilt er als Auslaufmodell.

Glaubt man den Unternehmensverbänden und ihrer Lobby, droht mit dem Gesetz eher Kleckern statt Klotzen. »Gezielte Einwanderung muss einer der wichtigsten Hebel sein, um massiven Wohlfahrtsverlusten entgegenzuwirken. Der Aufschlag der beiden Minister ist da noch viel zu verzagt. Um das wissenschaftlich ausgemachte Ziel von mindestens 400.000 Arbeitseinwanderern netto pro Jahr zu erreichen, müssen wir attraktiver werden im internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte.« So ein um die Koalitionsdisziplin unbesorgter FDPler, der uns an seiner Bruttoweisheit teilhaben lässt.

Ein Einwanderungsgesetz ist unabdingbar. Da die riesige Kluft zwischen den entwickelten Ländern des Nordens und denen des Südens zur Realität gehört, wird das Gesetz ungerechte Aspekte zeitigen. Diese können abmildert, aber nicht zum Verschwinden gebracht werden. Ein Land des Globalen Nordens bedient sich der Hilfs- und der Fachkräfte aus dem ausgepowerten Süden; da beißt keine Maus den Faden ab. Das Potenzial dieser Nationen, sich zu fortzuentwickeln, wird dadurch geschwächt. Vielleicht stellt sich der die Arbeitsmigration begleitende Effekt wieder ein: Finanzielle Mittel fließen in die Heimatländer zurück und ermöglichen dort ein besseres Leben. Auch das bessere Leben hier mit seinen erkämpften Standards darf durch das Gesetz nicht ins Rutschen kommen. Das betrifft den Lohn, die Länge des Arbeitstages und die Qualifizierung der Beschäftigten.

Ein zustimmungsfähiges Fachkräfte-Einwanderungsgesetz muss den Mindestlohn als Mindestschutz gewährleisten. Wo Tarifverträge gelten, dürfen diese nicht unterschritten werden. Der Gesetzgeber soll solche Verträge für Branchen mit Kleinbetrieben verbindlich machen, sofern eine Gewerkschaft dort keinen Fuß in die Tür bekommt. Das ist nicht ihr Versagen, sondern geht auf das Union-Bashing der Chefs zurück. Zuwanderung in die Leiharbeit muss weiterhin verboten bleiben. Sprachkurse sind obligatorisch zu organisieren. Sich im neuen Land verständigen zu können, ist ein Menschenrecht und nicht nur von den technischen Termini eines Jobs gefordert. Den Neuankömmlingen eine Berufsausbildung anzubieten sollte den Unternehmen abverlangt werden, liegt es doch auch in ihrem Interesse, ihre Leute qualifiziert zu wissen. Und für die Angeworbenen ist Weiterbildung essenziell. Die »Schnellbleiche«, das bloße Anlernen der Neuen, hat deren Rauswurf schon bei der nächsten Krise zur Folge.

Was die ganz Schlauen unter den Politikberatern ihren konservativen Auftraggebern ins Ohr flüstern, ist unerhört: Ein Land, das abgelehnte Asylbewerber zurücknimmt, soll als Belohnung das Recht bekommen, junge Arbeitskräfte nach Deutschland zu schicken. Die Migrationspolitik in der EU würde um eine obszöne Variante erweitert. Um die Festung Europa vor den Geflüchteten zu schützen, gibt Brüssel übrigens mehr Geld aus als für den Klimaschutz.

Peter Kern hat Philosophie, Politik, Theologie studiert und als politischer Sekretär bei der IG Metall gearbeitet. Von ihm erschien 2019 beim Verlag Westfälisches Dampfboot »Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie«.

Geschrieben von:

Peter Kern

Ehemaliger Gewerkschaftssekretär

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