Wirtschaft
anders denken.

Nie neutrale Staatsausgaben

Aktuelle Fiskalregeln verhindern eine neue deutsche Finanzpolitik.

15.04.2022
Porträt von Philippe Sigel-GlöcknerFoto: Annika Nagel Photography
Philippa Sigl-Glöckner ist Geschäftsführerin und Mitgründerin der makroökonomischen Denkfabrik Dezernat Zukunft. Ihr Fokus liegt auf Fiskalpolitik, die sie als Mitarbeiterin im deutschen und liberianischen Finanzministerium kennenlernen durfte.

Frau Sigl-Glöckner, was ist Finanzpolitik?

Das ist alles, was mit staatlichem Geldausgeben und Geldeinnehmen zu tun hat. So wie wir heute unsere Politik organisieren, beansprucht der Staat die meisten Güter und Leistungen nicht einfach per Gesetz, sondern kauft sie. In Deutschland belaufen sich die Staatsausgaben normalerweise auf etwas weniger als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der öffentliche Haushalt ist einer der größten Hebel, die der Staat zur Verfügung hat.

Was bedeutet Finanzpolitik für die Wirtschaft?

Sie ist mindestens in drei Dimensionen für die Wirtschaft relevant. Erstens, direkt: Wenn der Staat bereit ist, für alle einen täglichen Corona Schnelltest zu finanzieren, macht an jeder Ecke ein Testzentrum auf. Zweitens, gesamtwirtschaftlich: Wenn der Staat mehr ausgibt als er einnimmt, schafft er zusätzliche Nachfrage, Unternehmen können viel verkaufen und der Arbeitsmarkt brummt. Zuletzt spielen Deutschlands Staatsanleihen auf dem internationalen Finanzmarkt als die sichere Anlage in Euro eine wichtige Rolle.

Finanzpolitik hat folglich immer eine Lenkungswirkung.

Staatliche Ausgaben sind nie „neutral“, es wird ja ein bestimmtes Gut oder eine Leistung zu bestimmten Bedingungen gekauft. Sobald der Staat zum Beispiel für Löhne verantwortlich ist, setzt er hier ein Niveau. Daher sollte immer die Frage gestellt werden: Stimmt die Finanzpolitik mit den anderweitig politisch gesetzten Zielen überein?

Stimmt die Finanzpolitik in der Bundesrepublik mit Ihren Zielen überein?

Meine Ziele sind nochmal eine andere Frage. Aber unabhängig davon gibt es ja in Deutschland einen breiten Konsens zu einigen politischen Themen. So werden zum Beispiel die allermeisten zustimmen, dass Leute, die einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leisten, anständig bezahlt werden sollten. Mit Blick auf Staatsbeamt:innen setzt die Finanzpolitik das um, mit Blick auf Erzieher:innen eher weniger.

Also ist die Finanzpolitik nicht von Grund auf falsch?

Da müsste man natürlich sagen, was mit „von Grund auf“ gemeint ist. Reden wir über den großen Rahmen, der die deutsche Finanzpolitik bestimmt – unsere Fiskalregel – würde ich nicht verneinen, dass diese ziemlich aus der Zeit gefallen ist.

Sie sprechen über die Schuldenbremse.

Genau. Deren Grundidee ist wie folgt: Der Staat soll zwar nicht unnötig Schulden machen, aber trotzdem die Finanzpolitik nutzen können, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Wenn die Wirtschaft schwach ist und niemand kauft, soll der Staat kaufen. Wenn die Wirtschaft heiß läuft und alle kaufen, soll der Staat sich zurückhalten, damit es keine Inflation gibt. Das klingt erstmal nach einer guten Idee.

Aber die Ausführung ist schlecht?

Es gibt zwei Herausforderungen: Erstens, um eine Begrenzung der Verschuldung so ausgestalten zu können, müssen wir schätzen, wie ausgelastet die Wirtschaft ist. Das steht nirgends geschrieben. Zweitens, es kann zu einem Zielkonflikt kommen: Was, wenn die Wirtschaft jedes Jahr unterausgelastet ist? Stabilisieren wir dann fortwährend und häufen Schulden an oder lassen wir die Wirtschaft schwächeln und begrenzen die Schulden?

Hier hat man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und eine clevere Annahme getroffen: Nämlich, dass die Wirtschaft im Durchschnitt vollausgelastet ist. Wenn man diese Annahme trifft, braucht die Wirtschaft im Durchschnitt keine Stabilisierung durch die Finanzpolitik, die Schulden wachsen nicht. Das Problem dabei: Die Annahme ist falsch.

Ökonom:innen haben doch viel Methoden, um solche Outputs zu schätzen.

Bisher hat es niemand geschafft. Wir wissen nicht annähernd, wo die Vollauslastung der Wirtschaft liegt, ja, ob es überhaupt eine fixe Zahl dafür gibt, oder sich die Kapazität der Wirtschaft ständig verändert. Die bisherigen Schätzmethoden liegen jedenfalls oft ziemlich daneben. Dann kann man doch keine Regelung, die auf einer solchen Schätzung aufbaut, in das Grundgesetz schreiben.

Was wäre Ihr Reformvorschlag?

Wir schlagen in unserem Papier vor, die Methodik zur Schätzung der wirtschaftlichen Kapazität anzupassen und sich von der Annahme zu verabschieden, dass die Wirtschaft in der Vergangenheit durchschnittlich vollausgelastet war. Frauen zum Beispiel sind heute häufiger erwerbstätig, aber deswegen ist die Wirtschaft doch nicht überausgelastet…

Wie wollen Sie die Vollauslastung schätzen?

Wir schlagen vor basierend auf empirischen Daten und politischen Zielen zu überlegen, was ein sinnvolles Maß an Vollauslastung sein könnte. Ein Beispiel: Anstatt zu sagen, die Wirtschaft ist voll ausgelastet, wenn die Leute so viel arbeiten wie früher, könnte man annehmen, dass die Wirtschaft ausgelastet ist, wenn die Unterschiede in der Erwerbstätigkeit zwischen Männern und Frauen denen in Skandinavien entsprechen.

Das klingt kleinteilig.

Ja, es sind kleine Anpassungen, und auch diese werden keine perfekte Potenzialschätzung hervorbringen. Unsere Methode hat aber zwei Vorteile: Sie steht im Einklang mit politischen Zielen wie Gleichberechtigung und einem hohen Beschäftigungsniveau. Und sie sorgt für nachhaltigere Staatsfinanzen als die gegenwärtige Schätzung, da sie darauf abzielt, dass tatsächlich alle, die können und wollen, arbeiten. Das bringt Steuern und spart Sozialausgaben.

Muss man nicht genereller an die Schuldenbremse ran, um wieder politisch über Ausgaben zu entscheiden?

Unser Vorschlag würde die politische Verhandlung stärken: Es gäbe keinen Automatismus mehr, der Vollauslastung auf Basis der Vergangenheit definiert. Die Politik müsste sich aktiv überlegen, wer idealerweise eigentlich wie viel arbeiten sollte. Aber klar: Die Schuldenbremse ist aus demokratischer Sicht problematisch. Die Haushaltshoheit gehört in das Parlament und nicht die Rechenstube schlauer Statistiker. Ich finde es trotzdem wichtig über kleine Schritte mit großer Wirkung nachzudenken.

Wohin gehen die Schritte?

Das muss die Politik definieren. Eine gute Finanzpolitik ist eine, die mit den politisch gesetzten Zielen übereinstimmt und gleichzeitig noch finanziell aufgeht.

Weiterlesen:
Philippa Sigl-Glöckner, Max Krahé, Pola Schneemelcher, Florian Schuster, Viola Hilbert, Henrika Meyer (2021): Eine neue deutsche Finanzpolitik.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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