Wirtschaft
anders denken.

Angesagte Wende, verkündeter Aufbruch

16.12.2021
Läufer knien an der Startlinie eine TartanbahnFoto: e_stamm auf Pixabay

Hat die neue Regierung genügend Kraft für die gesellschaftliche Transformation und Fortschritt? Ein Vorabdruck aus OXI 1/22.

Der Aufbruch, den die für Deutschland erstmalige Ampelkoalition für sich in Anspruch nimmt, wurde nun schon mehrfach ausdrücklich analog gesetzt zu Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen« aus dem Jahr 1969. Dem liegt freilich ein großer Irrtum zugrunde: hinter der Formel »Mehr Demokratie wagen« stand eine eindeutige Richtung – die der Abkehr von dem autoritären und reaktionären Staats- und Gesellschaftsverständnis, das die westliche Bundesrepublik Deutschland die ersten beiden Jahrzehnte nach ihrer Gründung geprägt hatte. (Dass diese Richtung u. a. durch die Berufsverbote in den nachfolgenden Jahren konterkariert wurde, steht auf einem anderen Blatt.) Mit ihrem Buch »Die Zukunft des Fortschritts: der Sozialismus und die Krise des Industrialismus« hatten Johano Strasser und Klaus Traube hingegen schon 1981 dargelegt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen sich umstandslos positiv bewertet von Fortschritt reden ließ. Angesichts der heutigen sozialen Verwerfungen, ökologischer Krisen und Katastrophen sowie des weltweiten Verfalls von Demokratie und steigender Kriegsgefahren den allzu häufig mit technischem Fortschritt verbundenen Fortschrittsbegriff zur Zusammenfassung eigener Zukunftsvisionen zu verwenden, kommt völlig naiv daher.

Diese (insofern scheinbare) Naivität hat freilich Gründe: die Vorstellungen der FDP und ihrer Klientel einerseits, der Grünen Partei und der sie wählenden bzw. unterstützenden Menschen andererseits darüber, was unter gesellschaftlichem Fortschritt zu verstehen ist, gehen weit auseinander, bis zum direkten Antagonismus in einigen wichtigen Fragen. Dabei kann man sich auch beim Koalitionsvertrag des Eindrucks nicht erwehren, den eine Bochumer Grüne bei der Tagung des grünen Parteirats zum vorherigen Sondierungspapier formulierte: das Ganze sieht so aus, als ob die FDP die Wahlen gewonnen hätte. Wohlgemerkt: mit 11,5 Prozent gegenüber 14,8 Prozent der Grünen und 25,7 Prozent der SPD (SPD und Grüne also mit nicht viel weniger als viermal so viel Stimmen wie die FDP).

Zu Recht wird in Medien durchaus unterschiedlicher Provenienz seit Bekanntwerden des Vertragstextes darauf hingewiesen, dass trotz Erhöhung des Mindestlohns von einem Kurswechsel hin zu sozialer Gerechtigkeit nicht die Rede sein kann. Der französische Ökonom Thomas Piketty zählt den Wiederanstieg sozio-ökonomischer Ungleichheiten in den meisten Ländern der Erde seit den 1980er Jahren zu den beunruhigendsten Umwälzungen, mit denen die Welt im 21. Jahrhundert konfrontiert ist. In meinem Buch habe ich dazu geschrieben: »Über Jahrzehnte hat in den kapitalistischen (über kolonialistische Plünderungen und Vernichtungskriege reich gewordenen und dann frühindustrialisierten) Ländern im 20. Jahrhundert ein System progressiver Steuern auf Einkommen, Erbschaften sowie Eigentum und Vermögen eine bedeutsame Rolle dabei gespielt, diese Gesellschaften gerechter zu machen. Ganz offenbar haben diese Steuersätze nicht zur Vernichtung des Kapitalismus geführt, sondern gingen im Gegenteil mit wirtschaftlicher Prosperität einher, nicht nur in den USA, auch in den anderen Ländern.«

Diese Politik ist seit nun vier Jahrzehnten in ihr Gegenteil verkehrt worden. Soziale Verwerfungen sind nicht zuletzt auf steuerpolitischem Wege verschärft worden, einschließlich der Expansion von Steueroasen und einem Steuersenkungswettbewerb selbst in der EU. Dass sich mehr als 40 Prozent hier von 11,5 Prozent haben erpressen lassen, kann man kaum scharf genug kritisieren. Zumal die marktradikale Ideologie, es gebe eine lineare Kopplung zwischen Leistung einerseits, Einkommen und Vermögen andererseits, noch nie so abwegig war wie heute. In Deutschland wird inzwischen in jeder Minute eine halbe Million Euro vererbt. Wenn Susanne Klatten und ihr Bruder Stefan Quandt von BMW eine jährliche Dividende von 1 Mrd. € einstreichen, so aus keinem anderen Grund als der Gnade der Geburt im richtigen Mutterleib (von der Art der Geschäfte, mit denen dieses Vermögen aufgebaut wurde, ganz abgesehen). (…)

Der vollständige Text erscheint in der Januar-Ausgabe von OXI am 14.01.

Prof. Dr. Reinhard Pfriem ist Wirtschaftswissenschaftler; Initiator und Mitbegründer des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung, lehrte und forschte bis zu seiner Pensionierung 2017 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und leitete von 2009 bis 2016 die »Spiekerooger Klimagespräche«. 2021 erschien beim Metropolis Verlag sein Buch »Die Neuerfindung des Unternehmertums. Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution«.

Geschrieben von:

Reinhard Pfriem

Wirtschaftswissenschaftler

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