Wirtschaft
anders denken.

Freiheit und Ausbeutung

30.08.2016
Zusammengelegte T-Shirts. Nahansicht.Foto: petfed / photocase.deIm gängigen Sprachgebrauch symbolisiert »Markt« Freiheit

Im gängigen Sprachgebrauch symbolisiert »Markt« Freiheit, während »Kapital« einen Beigeschmack von Ausbeutung hat. Wovon wird in Deutschland geredet, worüber wird geschwiegen im öffentlichen Diskurs der politischen Ökonomie? Eine Kritik in sieben Teilen.

Weder in der Wissenschaft, erst recht nicht in der Politik kann man sich darauf einigen, was von unserer Wirtschaft zu halten ist. Die Kontroversen über Zustand und Zukunft unserer Wirtschaftsweise verdichten sich in zwei Begriffen mit Variationen. »Marktwirtschaft« ist der eine, mitunter spezifiziert als »freie« oder »soziale« Marktwirtschaft. »Kapitalismus« lautet der andere, konkretisiert unter anderem als Früh- und Spät-, als Manchester- und Finanzkapitalismus.

Meint das eine, was das andere sagt? Spricht, wer über Marktwirtschaft redet, zugleich über den Kapitalismus, und meint, wer Kapitalismus sagt, damit die Marktwirtschaft? Von Marktwirtschaft wird überwiegend affirmativ, von Kapitalismus überwiegend ablehnend gesprochen. Wird Markt positiv aufgefasst, dann in der Regel auch Kapital. Ist Kapital negativ gemeint, dann oft auch Markt. Aber »Kapitalismus« kann die Wirtschaft auch im Brustton stolzer Überzeugung genannt werden, ganz nach Milton Friedmans Motto »the business of business is business«. Allgegenwärtig jedenfalls ist der Vorwurf, die Realität der Wirtschaft und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft würde nur selektiv wahrgenommen und einseitig dargestellt. Man hält sich wechselseitig »unterschlagene Wirklichkeiten« vor, positive oder negative.

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Auf eine solche Kritik braucht niemand stolz zu sein, sie funktioniert immer, weil jeder Gedanke, der gedacht, jeder Satz, der gesagt, selbst das dickste Buch, das geschrieben wird, nur selektiv sein können. Dass schon alles gesagt sei, nur noch nicht von jedem, ist eine hübsche Attacke auf WiederkäuerInnen, von einer sachlich zutreffenden Behauptung jedoch meilenweit entfernt. Läge die Wahrheit in der Vollständigkeit, gäbe es nur Unwahrheiten. Keine Mitteilung kann über irgendetwas informieren, ohne es zu verkürzen und zu vereinfachen. Man nehme einen schlichten Gegenstand, vielleicht einen Kaffeebecher, und beginne zu überlegen, was sich alles denken und sagen ließe über dessen Alter und Aussehen, ProduzentIn und BenutzerIn, Größe und Gewicht, über Eigentumsverhältnisse und Entsorgungsfragen, Herstellungsprozess, Material und Kosten, Transportwege und Vertriebsmodalitäten, seine Vergangenheit und seine Zukunft, Verwendungs- und Missbrauchsmöglichkeiten… Wer behauptet, die Beschreibung eines Kaffeebechers sei irgendwann vollständig, ist nur denkfaul. Aus praktischen Gründen, weil der Mensch handeln will und muss, nutzt man Unterscheidungen wie wichtig und unwichtig, wesentlich und unwesentlich, um ein Ende zu finden. Damit aber fängt der Streit an.

Läge die Wahrheit in der Vollständigkeit, gäbe es nur Unwahrheiten

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Das Wichtige, das Wesentliche an der modernen Wirtschaft, gar die Wahrheit über sie auszudrücken, ist ja gerade der Anspruch der beiden Bezeichnungen Marktwirtschaft beziehungsweise Kapitalismus. Nehmen wir sie beim Wort, sagt uns die eine, die Wirtschaft biete ihre Güter und Dienste auf Märkten an, während uns die andere darauf aufmerksam macht, dass in der Wirtschaft Kapital eingesetzt wird. Beides nicht zu bestreitende Tatsachen, was soll aufregend daran sein?

Die Begriffe Marktwirtschaft und Kapitalismus tragen Botschaften, funktionieren als Symbole, um die man sich scharen kann wie um eine Fahne. Die Bedeutung eines Wortes, das wissen wir seit Ludwig Wittgenstein, dem sicherlich bedeutendsten Sprachphilosophen, entsteht im Sprachgebrauch. Und im gängigen Gebrauch symbolisiert »Markt« Freiheit. Nicht mit derselben Dominanz, aber doch stets präsent, begleitet »Kapital« ein Beigeschmack von Ausbeutung. Zugleich haben wir es im Alltag mit Umdeutungen und Umwidmungen zu tun. Wir tragen unsere Haut zu Markte und bewegen uns auf dem Markt der Eitelkeiten, wir bekommen ein Startkapital, das uns vielleicht ein unbeschwertes Leben ermöglicht, aber auch verspielt werden kann. Markt und Kapital werden Adjektive zur Seite gestellt, die sie zu lebendigen Akteuren werden lassen, als atmeten sie die gleiche Luft wie wir und seien ähnlichen Gefährdungen ausgesetzt: scheu, labil, überhitzt, gesättigt, schnelllebig, frei, sozial, flüssig.

Muss »entwickeln« wachsen heißen?

Jenseits des Marktes habe Freiheit keine Heimat, versuchen uns die einen einzureden. Als seien Meinungs- und Pressefreiheit, freie politische Wahlen, die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft auf Märkte angewiesen. Kapital gehöre abgeschafft, erklären uns andere. Als bräuchte eine Wirtschaft, die sich entwickeln soll, keine investierbaren Überschüsse. Muss »entwickeln« wachsen heißen? Menschen hören nicht auf sich zu entwickeln, hat ihr Körper seine größte Ausdehnung erreicht. Von Grenzen des Wachstums reden doch nicht nur Träumerinnen, Spinner und Feinde des Wohlstands. Was verschweigt, wer verspricht, unseren Wohlstand zu verteidigen? Das Wort »Wohlstand« beinhaltet nicht ein Milligramm Selbsterkenntnis darüber, wie sehr dieses Wohl auf dem Elend anderer baut.

Kapital abzuschaffen, um der sozialen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, alles zu vermarkten, um die große Freiheit zu verbreiten – die Kinder, die dabei mit dem Bade ausgeschüttet werden, stehen frierend und hilflos herum. Dass unserer Gesellschaft keine attraktiven Alternativen einfallen zu Wachstumszwängen, Konsumwahn und sozialer Spaltung, dass nationalistische und rassistische Antworten so viel Zulauf finden, hat auch damit zu tun, wie realitätsfern und engstirnig über Marktwirtschaft und Kapitalismus gestritten wird.

 

Es folgt Teil 2: Kapital und die Verantwortung seiner Funktionäre.

Geschrieben von:

Hans-Jürgen Arlt

Professor für strategische Organisationskommunikation

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

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