Wirtschaft
anders denken.

»Frische hohe Stufe der sich entfaltenden Revolution«: Der ökonomische Kurs in Nordkorea

12.06.2018
Sven Unbehauen , Lizenz: CC BY-SA 3.0Pjöngjang

Die Bilder vom Handschlag zwischen Donald Trump und Kim Jong-un werden in die Geschichte eingehen. Das Treffen in Singapur zeugt vor allem vom Wandel in Nordkorea, der von einer wirtschaftlichen Öffnung begleitet ist. Folgt Pjöngjang auf dem chinesischen Pfad Richtung eines »modernen Staatskapitalismus«?

Zunächst einmal: Es ist gar nicht so einfach, belastbare Angaben über die wirtschaftliche Lage in Nordkorea zu machen. Der Sender ntv formuliert es so: Während in Singapur auch »über eine mögliche Wiedereinbindung des asiatischen Landes in die Weltwirtschaft verhandelt« wird, wozu eine Lösung der Sanktionsfrage nötig wäre, »ist über die Entwicklung oder auch nur die ungefähre Größe der koreanischen Wirtschaft praktisch nichts bekannt«. So fehle es an Daten zum Außenhandel, zum Bruttoinlandsprodukt – und das schon seit den 1960er Jahren. Was in Pjöngjang veröffentlicht werde, sind prozentuale Veränderungen der Einnahmen und Ausgaben des Staatshaushaltes, aus denen man einiges ableiten kann. Über die wachsende Rolle privatwirtschaftlicher Aktivitäten erfährt man daraus aber nicht viel.

Nach westlichen Schätzungen wächst Nordkoreas Wirtschaft Jahr für Jahr um drei bis vier Prozent. Für 2016 rechnete die südkoreanische Zentralbank mit einem Plus von 3,9 Prozent auf umgerechnet knapp 29 Milliarden US-Dollar. Pro Kopf liegt das BIP im Norden bei 1.800 Dollar, in Südkorea beträgt es mehr als das Zwanzigfache. Das CIA-Factbook berichtet für 2015 ein BIP-Volumen Nordkoreas von rund 40 Milliarden US-Dollar. Die Zahlen werden oft mit Blick auf die über das Land verhängten Sanktionen interpretiert – es wird also die Frage gestellt, wie so ein Wachstum trotz der Sanktionen zustande kommt.

Hier rückt meist China ins Spiel – eine Analyse von Aberdeen Standard Investments rechnete unlängst vor, dass »Nordkoreas Defizit im Handel mit China sprunghaft auf 1,9 Milliarden Dollar gestiegen« sei, wie »ntv« schreibt. Dies wäre »ein Anstieg um mehr als 140 Prozent gegenüber dem Vorjahr«; die nordkoreanischen Exporte sind wegen der verschärften Sanktionen eingebrochen, die Einfuhren aus China wuchsen demnach deutlich auf 3,6 Milliarden US-Dollar. Dazu ntv: »Doch wie bezahlt das von der Weltwirtschaft weitgehend abgeschnittene Nordkorea für diese Einfuhren?« Immer wieder liest man lange Geschichten über die Versuche des Landes, an Devisen zu gelangen.

Was aber steckt noch hinter der Entwicklung? Im April befasste sich das Zentralkomitee der Koreanischen Arbeiterpartei mit »Revolutionsaufgaben, um den sozialistischen Aufbau weiter zu beschleunigen, was erforderlich ist, um eine frische hohe Stufe der sich entfaltenden Revolution zu erreichen«. Kim Jong-un wurde mit den Worten zitiert, »lasst uns weiter den Fortschritt unserer Revolution beschleunigen, indem wir alle unsere Anstrengungen in den sozialistischen wirtschaftlichen Aufbau stecken«.

Solche Sätze werden meist als Zeichen des wirtschaftlichen Öffnungskurses interpretiert. Zwar ist nicht von den im Westen immer gern erwarteten »Reformen« die Rede, aber eine Änderung der nordkoreanischen Doktrin ist unverkennbar. Nach dem Tod seines Vaters Ende 2011 hat Kim Jong-un die »Songun« genannte Politik, die so viel wie »die Armee zuerst« bedeutet, durch einen »Byungjin« genannten Kurs ersetzt, der auf eine parallelen Entwicklung der Wirtschaft und des militärischen Apparats setzte. Inzwischen rückt, und dafür steht auch der offiziell verkündete Abschied von bestimmten Rüstungsprogrammen, die wirtschaftliche Entwicklung ganz im Zentrum der Anstrengungen Pjöngjangs.

Die »Süddeutsche Zeitung« schrieb dieses Jahr über die Ökonomie des Landes, »einerseits hat das Regime begonnen, Teile von ihr zu entstaatlichen – zuerst die Landwirtschaft. Andererseits ist die staatliche Versorgung mit der Hungersnot in den späten 1990er-Jahren zusammengebrochen; seither ist von unten eine Marktwirtschaft entstanden. Damit hat sich Nordkoreas Produktivität deutlich verbessert«. Davon profitiere vor allem »Nordkoreas Elite, etwa 25 Prozent der Bevölkerung, die meist in Pjöngjang lebt und über den Rest der Welt Bescheid weiß«. Und die »Frankfurter Allgemeine« schreibt, »die nordkoreanische Parteielite erfreut sich sehr am Lebensstil der Bourgeoisie samt Handy, Auto und schicken Wohnungen. Sie weiß wie niemand sonst, dass sich hinter der stalinistischen Fassade des Landes längst die Marktwirtschaft eingenistet hat«.

Ein zentraler Pfeiler der neuen Ökonomie ist der private Sektor, der »inzwischen ein Drittel bis die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet«, wie es unter Berufung auf südkoreanische Experten heißt. In der »Zeit« war 2017 von ersten Auswirkungen der »vorsichtigen Reformen« die Rede, die Kim Jong-un »angestoßen hat«. Der »privaten Initiative« sei »mehr Raum« gegeben worden, »die Bauern mussten nicht mehr die gesamte Ernte an den Staat abliefern, sondern dürfen seither zwei Drittel ihrer Erträge behalten und auf freien Märkten verkaufen«.

Die Zeitung zählte damals »440 von der Regierung genehmigte Bauernmärkte«, auf denen es nicht nur Lebensmittel gibt. »So wächst eine Klasse von Händlern und Kleinunternehmern heran. Donju nennen die Nordkoreaner sie, ›Geldbesitzer‹«. Von den rund 25 Millionen Nordkoreanern sollen dazu etwa 1,1 Millionen gehören. »Der großen Mehrheit geht es noch immer erbärmlich schlecht. Besonders außerhalb der Hauptstadt fristen die Menschen ein kümmerliches Leben.« Ein weiterer Aspekt der Wirtschaftspolitik sind die Sonderwirtschaftszonen, von denen einmal 19 geplant waren.

Politisch gedeutet wird die Entwicklung unterschiedlich. Mal heißt es, »Kim Jong-un hat diese Entwicklung nicht herbeigeführt. Anders als sein Vater hat er sie aber nicht mehr zurückgedrängt, sondern befördert« – Nordkorea nimmt in dieser Perspektive einen Trend eher hin, als ihn selbst zu bestimmen. Andere verweisen eher auf den Einfluss Chinas, Pe­king preise sich Nord­ko­rea »als Mo­dell für wirt­schaft­li­che Öff­nung an«, weil es davon« selbst auch profitieren würde.

In der »Frankfurter Allgemeinen« war unlängst von einer Reise einer nordkoreanischen Delegation in das chinesische Shenzhen die Rede: »Die Vorzeigemetropole steht wie keine andere für die Erfolge der Reform- und Öffnungspolitik der vergangenen vierzig Jahre«, es sei darum gegangen, »zu lernen«, auch von einer »Umsetzung des Konsenses« zwischen Chinas Staatschef Xi Jinping und Kim Jong-un wird gesprochen. Der südkoreanische Politikwissenschaftler Wang Sheng wird sogar mit den Worten zitiert, »es ist wie die Transformation Chinas in den siebziger und achtziger Jahren« – ein diplomatischer Frühling hätte »damals die Grundlage für die wirtschaftliche Öffnung Chinas gelegt«.

Was den einen als Öffnung gilt, wäre andererseits auch mit Blick auf neue Verwerfungen innerhalb Nordkoreas zu diskutieren. Die Förderung privater Wirtschaftsaktivität erinnert nicht nur an wirtschaftspolitische Reformprozesse in den nominalsozialistischen Staaten, sondern rückt auch wieder in den Blick, dass sich dabei neue Widerspruchsstrukturen zwischen sozialen Gruppen bilden – oder alte verfestigen. Eine neue Schicht staatskapitalistischer Profiteure könnte in die Fußstapfen einer bisher vor allem ihre bürokratische Macht ausspielenden Parteielite treten. Zugleich geht es um klassenpolitische Gegenreaktionen, denn auch ein Kurs der »Öffnung« wirkt woanders wie eine »Schließung«, dann nämlich, wenn wachsende Teile der Bevölkerung auch von dieser Entwicklung abgeschnitten bleiben. Hier liegt dann eine Herausforderung für die kritische Ökonomie – die allerdings ebenso mit den oben genannten Problemen der Informationslage zu kämpfen hat.

Foto: Sven Unbehauen / CC BY-SA 3.0

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