Wirtschaft
anders denken.

Utopisches Potenzial heben

Weder reine Verpflichtung noch Zwang und auch nicht allein von Eigennutz gesteuert – ein Gespräch über die Gabe als Alltagspraxis mit Andreas Exner. Aus OXI 12/21.

03.01.2022
Andreas Exner hat Ökologie und Politikwissenschaften studiert und leitet das Zentrum für nachhaltige Gesellschaftstransformation der Universität Graz operativ. Seine Schwerpunkte sind alternatives Wirtschaften, sozialökologische Transformation und Stadtentwicklung.

Sie haben ein Buch über das ökonomische Prinzip der Gabe geschrieben – eine schöne Utopie. Aber was hat das mit der Realität zu tun?

Die Gabe ist eine analytische Kategorie, die Marcel Mauss Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Ihm ging es darum menschliche Praxis zu verstehen. Die Gabe ist bei ihm nicht eingeschränkt auf das, was wir heute meist als Ökonomie bezeichnen. Er interessierte sich generell für die Konstruktion und Reproduktion sozialer Beziehungen. Und legt damit auch Grundsteine für eine alternative Theorie, die die Ökonomie als Teil sozialer Beziehungen begreift. Da gibt es eine interessante Verbindung zu bekannteren Theoretikern wie dem Historiker Karl Polanyi. Der stellt auch darauf ab, dass sich das Wirtschaften in einer sozial eingebetteten Form vollzieht. Insoweit die Wirtschaft die Form der modernen Marktwirtschaft annimmt, die wir heute als Ökonomie schlechthin verstehen, wird sie aus sozialen Beziehungen entbettet. Hier wird ein sehr spezifisches Verständnis von Ökonomie unterstellt. Andere Formen der Ökonomie werden ausgegrenzt und abgewertet, weil das Begriffsinstrumentarium der herrschenden ökonomischen Theorie dafür nicht hinreicht.

»Geben ist seliger denn Nehmen.« Diesen Spruch haben Sie bestimmt schon häufig gehört.

Ja, den kenne ich. Allerdings legt er ein eingeschränktes Verständnis der Gabe nahe. Die Gabe selbst folgt nicht einer reinen Verpflichtung, keinem Zwang und ist auch nicht allein von Eigennutz gesteuert, sondern beinhaltet Freude. Und sie enthält ein Moment der Spontaneität. Sie ist allerdings nicht deckungsgleich mit einem christlichen Verständnis von Nächstenliebe. Das Geben dient nämlich unter anderem auch dem Eigennutz.

Was ist die Gabe?

Die Gabe vollzieht sich in einem Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern. Diesen gesamten Zyklus beschreibt Mauss als Gabe, also nicht nur den Moment des Gebens im herkömmlichen Sinne. Das ist nur der erste Akt. Im Unterschied zum Tausch, bei dem es eine strikte Kopplung zwischen Geben und dem Erwidern gibt, beinhaltet die Gabe immer auch ein Moment der Freiwilligkeit.

Im Kapitalismus wird getauscht, in der Solidarischen Ökonomie gegeben. Ist die Gabe etwas Utopisches?

Die Gabe ist grundsätzlich ein analytischer Begriff, der eine politische Implikation hat. Mauss war politisch aktiv in der Genossenschaftsbewegung und hat versucht, mit diesem neuen analytischen Blick auf das Wirtschaften auch eine bestimmte politische Perspektive voranzubringen. Ökonomische Theorien beschreiben niemals nur etwas, was existiert, sondern haben immer auch einen performativen Effekt. Sie formieren unseren Blick und lenken ihn. In diesem Kontext Wirtschaft und Gesellschaft durch die Brille der Gabe zu betrachten, hebt die Bedeutung sozialer Beziehungen im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsweise hervor. Insofern ist das Utopische der Gabe nicht so zu verstehen, dass sie völlig jenseits des Kapitalismus ist, also im Hier und Jetzt unerreichbar wäre. Die Gabe ist eine Alltagspraxis. Die Kategorie der Gabe kann dazu dienen, ihr utopisches Potenzial zu heben und sichtbar zu machen, was oft ausgeblendet wird. Das heißt nicht, dass diese Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise schon irgendwo als entwickelte Solidarische Ökonomie existieren würde. Die Gabe verweist auf Bestehendes und zugleich auf eine Utopie.

Die Neoklassik vernachlässigt das Soziale. Kommt die Gabe dort vor?

Das ist keine Kategorie, die von der Neoklassik als solche in den Blick genommen wird. Die Neoklassik stellt das Individuum als rational Nutzen und Kosten abwägend dar. Das steht der Kategorie der Gabe diametral entgegen. Die Neoklassik verkürzt Praktiken der Gabe auf den Tausch. Es ist der performative Effekt ökonomischer Theorien, dass ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit für die Wirklichkeit selbst genommen wird. Dabei spielen auch ökonomische Interessen eine Rolle.

Wie entsteht durch die Gabe ein soziales Geflecht?

Sie ist die Grundform sozialer Beziehungen. Im gleichen Zug mit dem Gefühl der Dankbarkeit, wenn ich etwas bekomme, entsteht mit der Gabe auch ein Verhältnis der Schuld, und damit ein Drang, zu erwidern. Die Schuld drängt zum Ausgleich des Gegebenen, und sie führt im besten Fall dazu, dass sich die Dynamik wiederholt. Der Mensch, dessen Gabe erwidert worden ist, tendiert dann dazu, erneut zu geben. Diese Interaktion von Individuen lässt Beziehungen entstehen. Der Tausch hingegen endet mit der Transaktion. Es bleibt keine Schuld zurück. Im äquivalenten Tausch wird im gleichen Wert die temporäre Schuld mit Geld abgegolten und verschwindet damit. Es entsteht keine soziale Beziehung.

Ist es das, was Polanyi Reziprozität nennt?

Die Formen des sozial eingebetteten Wirtschaftens, die Polanyi beschreibt, lassen sich als Gabepraktiken interpretieren. Das betrifft auch die Reziprozität. Polanyi bezeichnet sie als eine Praktik, die sich zwischen symmetrischen sozialen Einheiten vollzieht. Er hat eine enge Definition. Mit Mauss könnten wir aber sagen, dass Reziprozität den gesamten Gabezyklus bezeichnet.

»In der Gabe wird niemand je quitt«, schreiben Sie. Führt dieses Schuldverhältnis, das darin steckt, nicht zu einem Zwang?

Die Gabe bedeutet nicht per se, dass Interaktionen auf Augenhöhe stattfinden. Sie impliziert keine soziale Gleichheit oder Herrschaftsfreiheit. Eine Gabepraktik, die sich im Rahmen sozialer Ungleichheit vollzieht, führt dazu, dass sich Ungleichheitsverhältnisse reproduzieren oder zuspitzen. Es gibt aber eine zweite Form der Gabe, die in Verhältnissen sozialer Gleichheit dominiert und wo dieses Schuldverhältnis nicht notwendigerweise mit einer herrschaftsförmigen Abhängigkeit einhergeht. Sie ist die Grundform menschlicher Beziehung und bietet deshalb einen Ansatzpunkt für das, was soziale Bewegungen Solidarische Ökonomien nennen. Ein Wirtschaften, das in soziale Beziehungen eingebettet ist.

Ist die Gabe eine marxistische Perspektive?

Marx behandelt fast ausschließlich die kapitalistische Produktionsweise, hat also einen ganz anderen Schwerpunkt. Die Gabe kommt bei ihm eher peripher zur Sprache, wenn es um die kommunistische Perspektive geht. Marx hat beispielsweise die Genossenschaft als eine Grundform eines anderen Wirtschaftens als einen wichtigen Ansatzpunkt zur Veränderung und Überwindung des Kapitalismus betrachtet. Vor allem im Frühsozialismus vor Marx finden wir viele Anknüpfungspunkte zu einer Perspektive der Gabe als einer alternativen Wirtschaftsform. Das ist in gewisser Weise die radikalere Opposition zum Kapitalismus als in den nachfolgenden kommunistischen Bewegungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist kein Zufall, dass sich die Formen Solidarischer Ökonomie direkt oder indirekt auf frühsozialistische Ideen und Organisationsformen beziehen. Dazu gehört wesentlich die Genossenschaft. Die Idee des freiwilligen Zusammenschlusses, der Assoziation von Menschen, um ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse zu verbessern, mit dem Ziel, die gesamte Gesellschaft zu transformieren.

Diese frühsozialistische Orientierung am Gedanken der Assoziation ist auch etwas, was die katholische Soziallehre, mit der ich mich in dem Buch viel beschäftige, inspiriert hat. Vor allem ab dem Zweiten Vatikanischen Konzil im 20. Jahrhundert hat diese Lehre grundlegende Praxisformen der Gabe im Sinne einer Solidarischen Ökonomie ins Zentrum gestellt.

Ein alternatives, ökonomisches Gefüge zu finden, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, schreiben Sie, sei die größte Herausforderung unserer Zeit. Wie steht es um die Suche und wer sucht?

Die Suche begleitet die kapitalistische Wirtschaftsweise, seit sie im 19. Jahrhundert auf breiter Front durchgesetzt wurde. Diese Suchbewegung speist sich aus einer anderen Rationalität, die auf der Gabe beruht. Das hat viel zu tun mit dem, was ich als die bäuerliche Wirtschaftsweise bezeichne, die nicht einem Wachstumsparadigma folgt, sondern von den Bedürfnissen ausgeht. Märkte spielen eine untergeordnete Rolle, die moralische Orientierung an sozialer Gerechtigkeit ist zentral. Das wirtschaftliche Handeln ist grundsätzlich in soziale Beziehungen eingebettet. Diese Akteure haben im Verlauf ihrer langen Geschichte vielfältige Formen angenommen. Da sind Initiativen im Lebensmittelbereich entstanden, von Food Coops über Solidarische Landwirtschaften bis hin zu sogenannten Ernährungsräten. Es ist aber auch der große Sektor der traditionellen Genossenschaften, der eine ganze Bandbreite an verschiedenen Organisationsmodellen vereint. Die halten die Perspektive einer Solidarischen Ökonomie, die auf der Gabe beruht, offen.

Ist das immer direkt »links«?

Wenn wir dabei an politische Parteien denken, dann ist es schwer, einen Konnex herzustellen. Auch »linke« Parteien interessieren sich meist nicht für Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsweise – zumindest in Europa. Teilweise findet das Anknüpfungspunkte im Bereich der gewerkschaftlichen Debatten: Immer dann, wenn es um Wirtschaftsdemokratie geht, um das Aushandeln von Bedürfnissen. Was soll produziert werden, wie soll verteilt werden, wie können die Arbeitenden selbst auf Augenhöhe agieren? Da gibt es Ansatzpunkte. Stärker entwickelt sind diese Punkte in Ländern wie Italien, Spanien, Frankreich, Griechenland.

Sie ergänzen die zentrale Herausforderung um die menschliche Beziehung zur Natur. Was hat das mit der Gabe zu tun?

Im Kapitalismus wird die Natur als Ressourcenlager betrachtet mit den entsprechenden ökologischen Folgen. Bei einer Gabeperspektive geht es auch um eine Beziehung zur Natur, die über eine rein instrumentelle Nutzung der Ressourcen hinausgeht. Das kann die Form einer Rückführung von Stoffen annehmen, also geschlossenen materiellen Kreisläufen. Sie nimmt aber auch die Form einer symbolischen Beziehung zur Natur an, Verbundenheit, Wertschätzung auch von nichtmenschlichen Lebewesen, Anerkennung.

Wie kann man sich das Geben in einer Solidarischen Ökonomie praktisch vorstellen?

Zuerst einmal betrifft das Geben in dieser Perspektive das Geben von sozialer Anerkennung. Den Menschen als ein bedürftiges Wesen anzuerkennen, ist etwas, was dem Tausch grundsätzlich entgegensteht. Zudem drückt sich dieses Geben in verschiedenen Formen der Kooperation aus. Die hat in kapitalistischen Unternehmen ungeheure Ausmaße erreicht. Das sind soziale Beziehungen. Ohne die geht auch kapitalistisches Wirtschaften nicht.

Sehr viel stärker drückt sich das Geben aber in der Grundform Solidarischen Wirtschaftens in vier Prinzipien aus. Das erste ist das Förderprinzip: Von den Bedürfnissen der Menschen auszugehen, soziale Anerkennung zu geben. Das kann sich nur verwirklichen in Orientierung auf – zweitens – das Demokratieprinzip, also auf Augenhöhe Bedürfnisse artikulieren und aushandeln zu können. Das ist kein Akt des Tausches, sondern eine Praxis der Gabe. Des Weiteren geht es darum, Tauschvorgänge zurückzudrängen. Das wird in der Genossenschaftsliteratur als das Identitätsprinzip bezeichnet. Identität von zwei Funktionsbestimmungen, die der Markt, der Tausch normalerweise trennt: Kaufen und Verkaufen, Mieten und Vermieten, Bereitstellung von Kapital und Arbeit in einem Unternehmen. Solche Funktionen werden in der Genossenschaft zusammengeführt. All dies erfordert auch das andauernde Bemühen, die Menschen in einem produktiven Zusammenhang wahr- und ernst zu nehmen. Das ist ein wichtiges Prinzip, um Genossenschaft auch lebendig zu halten.

Wäre das auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine Moralisierung der Märkte?

Das ist ein Begriff, der thematisiert, dass diese strikte Trennung von Tausch, Interaktion am Markt und sozialer Gerechtigkeit oder ökologischer Gerechtigkeit in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr unterminiert worden ist. Das sieht man vor allem an Debatten über fairen Handel und ökologische Produktionsmethoden. Das ist ein gesellschaftlicher Trend, der einen Wunsch zum Ausdruck bringt, der sich aber immer wieder auch an der Marktwirtschaft bricht. Die Moralisierung der Märkte braucht andere Organisationsformen und muss sich ausrichten auf eine wirtschaftsdemokratische Perspektive. Die zunehmende Moralisierung von Kaufentscheidungen ist ein Anknüpfungspunkt, aber nicht hinreichend.

Andreas Exner: Ökonomien der Gabe. Frühsozialismus, Katholische Soziallehre und Solidarisches Wirtschaften, Verlag Mandelbaum eG, 2021.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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