Gebaute Geschichte, programmierte Gesellschaften
Infrastrukturen sind Beschleuniger kapitalistischer Entwicklung, sie ordnen Räume und legitimieren Herrschaft. Und mitunter dienen sie auch dazu, dass Geschichte nicht gemacht wird: »eine erfolgreiche antirevolutionäre Strategie«. Anmerkungen zu einem Unterbau, der mehr ist als das »Adernsystem der Ökonomie«.
Im Jahr 1952 wurde bei einer Nato-Tagung eine Studie über Mobilmachung vorgestellt. Ein Reporter der »Frankfurter Allgemeinen« wurde auf ein Wort darin aufmerksam: »Infrastruktur«. Der Begriff müsse »für deutsche Ohren bizarr und unverständlich« klingen, man möge das Wort doch bitte stets übersetzen. Was also sind »Infrastrukturen«?
Im übertragenden Sinne handelt es sich um einen Unterbau, ob nur für eine einzelne Stadt, ein militärisches System oder die ganze Welt. Doch damit wäre der Kern der Sache nicht ganz getroffen. Denn Infrastrukturen sind mehr als »alle langlebigen Einrichtungen materieller oder institutioneller Art, die das Funktionieren einer arbeitsteiligen Volkswirtschaft begünstigen«, wie das ein Internetlexikon definiert.
Dirk van Laak hat jetzt eine Geschichte der Infrastruktur vorgelegt, die zwar auch auf einer recht engen Definition gründet. Der Leipziger Historiker fasst »alles Stabile, das notwendig ist, um Mobilität und einen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen zu ermöglichen«, unter den Begriff der Infrastruktur. Sein Buch hilft aber, den Blick darüber hinaus zu öffnen.
»Lebensadern« und »Organe« eines »Gesellschaftskörpers«
Ein anderes Angebot hat schon vor einiger Zeit Jürgen Osterhammel formuliert – nämlich, über Netzwerke zu reden. Man dürfe allerdings diese Metapher, so der Globalhistoriker, nicht im Sinne zweidimensionaler Strukturierungen des ebenen Raumes begreifen, weil sonst Hierarchien aus dem Blick gerieten. Es gibt wichtigere und unwichtigere Netzknoten, es gibt die vom Netz Ausgeschlossenen, die Profiteure und so fort.
Osterhammel spricht von »Gebilden von einer ›mittleren‹ Konsistenz: weder einmalige und zufällige Beziehungen« noch organisatorisch für alle Zeiten unveränderlich und festgefügt. Die dahinterstehende Anschauungsform, die den Blick auf Infrastrukturen ergänzt, ist nicht zufällig eine des 19. Jahrhunderts. Zurückgehend auf William Harvey, der schon im 17. Jahrhundert den Körper als Zirkulationssystem entdeckte, wurde die Idee im 18. Jahrhundert unter anderem von François Quesnay auf Wirtschaft und Gesellschaft übertragen: Netzwerke und Infrastrukturen lassen sich in diesem Bild als »Lebensadern« und »Organe« eines »Gesellschaftskörpers« betrachten.
Netze und Infrastrukturen hat es natürlich auch schon vorher in der Geschichte gegeben. Doch mit dem aufkommenden Kapitalismus erhalten sie eine neue, eine noch wichtigere Rolle – als »gebaute Herrschaft«, als »Adernsystem der Ökonomie«, als Beschleuniger von Raumordnungen, die Gebiete zu »Nationen« zusammenknüpften, als globale Vereinheitlicher und Gestaltungskräfte, die Individuen kontrollieren und konditionieren.
Dynamiken, die über sie selbst hinausweisen
Van Laak spricht von der »kollektiven Programmierung einer Gesellschaft«, und beschreibt dabei einen zentralen Punkt: Infrastrukturen entfalten Dynamiken, die über sie selbst hinausweisen. Ein Beispiel: Die Verbreitung von Elektrizitätsnetzwerken machte in einer Phase kapitalistischer Entwicklung, die wir Fordismus nennen, aufgrund gewachsener Nachfragepotenziale immer größerer Bevölkerungsschichten den Kühlschrank zum »Normalapparat« in den Haushalten. Dies wiederum ließ Großeinkäufe mit Automobilen als »passend« erscheinen, was mit dem Ausbau von Straßen- und Handelsinfrastruktur einherging, mit Kühlketten und neuen Konsumkulturen, die von regionalen Kreisläufen abgekoppelt waren. Infrastrukturen trugen so zur Individualisierung von Kaufentscheidungen bei, die mit Bedürfnissen einhergingen, welche dann wiederum zu ihrer Befriedigung neue Infrastrukturen verlangten.
Doch das ist nur eine Seite der »Gesellschaftlichkeit« von Infrastrukturen. Die zunächst noch »travaux publics« genannten »öffentlichen Arbeiten« und ihre Materialisierung in Bauten, Kanälen, Schienen sind konstitutiver Bestandteil staatlicher Politik. Im 19. Jahrhundert wurden Ministerien eingerichtet, die sich vornehmlich Infrastrukturen widmeten.
Dabei suggerierten die Planungen und Vorhaben meist eine technische Beherrschbarkeit sozialer Probleme – Motto: Dann bauen wir eben eine neue Straße. Infrastrukturen legitimierten auch bestimmte Formen bürokratischer Herrschaft – Motto: So etwas Großes, Teures, Komplexes kann nur ein großer staatlicher Apparat organisieren. Mit der Zeit wurden Infrastrukturen zu Systemen, zu deren hervorstechenden Eigenschaften es gehört, für selbstverständlich gehalten zu werden.
Gesellschaftliche Nebelmaschinen
Das machte aus ihnen aber auch gesellschaftliche Nebelmaschinen: Je fragloser sie einfach da sind, die Straßen, die Bauten, die sozialen Institutionen, desto weniger sind die gesellschaftlichen Interessenlagen und ökonomischen Widersprüche sichtbar, die ihrer Existenz zugrunde liegen. Eine Straße ist in dieser Perspektive nicht etwa deshalb kaputt, weil ein viel zu großer Teil der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion in private Hände fließt und damit für den Erhalt eben jener Infrastrukturen nicht mehr vorhanden ist, auf denen diese Reichtumsproduktion beruht. Sondern weil »die Bürokratie geschlampt« hat.
In Infrastrukturen steckt also nicht nur eine betonierte Variante der Legitimation von Macht, sondern auch ihr Gegenteil. Jeder Bürgermeister, der sich beim Durchschneiden von roten Bändern eines neuen Bauprojektes ablichten lässt, weiß auch, dass dessen Scheitern, jede Verzögerung, zu hohe Kosten und so fort auf ihn negativ zurückfallen können.
Mal folgen neue Infrastrukturen einem anderen Entwicklungsmoment: Die Urbanisierung hatte schon Riesenstädte »geschaffen«, bevor Wasserversorgung und Kanalisation zu funktionalen Netzen ausgebaut wurden. Mal gehen Infrastrukturen anderen Entwicklungen voraus und prägen diese: Kanäle, Schiffsverbindungen, Eisenbahnen waren die Voraussetzungen von dem, was als »Globalisierung« beschrieben ist, den immer neuen Schüben des »Zusammenrückens der Welt«.
Erwartung von Fortschritt und Wachstum
Es ging bei Infrastrukturen aber nie bloß darum, schnellere, größere, weitere Verbindungen in den »Netzen« zu schaffen, sondern immer auch um politische, gesellschaftliche Modelle. Karl Marx abwandelnd könnte man vielleicht sagen: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, drückt sich in einer ›ungeheuren‹ Ansammlung von Infrastrukturen aus.«
Mit Reichtum wäre hier vor allem dann die gesellschaftliche Substanz gemeint, die in Betonbauten und Drahtnetzwerken sozusagen kondensiert: zum Beispiel die Erwartung von Fortschritt und immerwährendem Wachstum, weshalb über Infrastrukturen in aller Regel in der Weise des »Ausbaus« gesprochen wird. Auch das instrumentelle Verhältnis zur Natur steckt in ihnen, wie van Laak gut beschreibt: Was immer sich als »natürliches Hindernis« darstellt, kann überbaut werden.
Infrastrukturen sind auch ein Abbild der bürgerlichen Rechtsgleichheit, die auf den ersten Blick allen gilt, auf den zweiten aber durch ökonomische Verhältnisse untergraben ist. Ob man sich die Maut leisten kann, die beim Befahren einer Straße anfällt, ob man ein Auto hat oder überhaupt damit fahren will, wird nicht von Infrastrukturen »entschieden«, aber die Entscheidung darüber prägt die sozialen Widersprüche ihrer Nutzung. Man mag in Infrastrukturen auch den demokratischen Anspruch moderner Gesellschaften erkennen, ein verabredetes Maß an gesellschaftlichen Ressourcen allen Bürgern zugänglich zu machen.
Eingelagerter Reichtum
»Der in Infrastrukturen eingelagerte Reichtum macht das Konzept Infrastruktur für die Politik interessant«, schreibt van Laak. »Infrastrukturbauten gelten als eine Demonstration der Macht und eines – wie immer definierten – Gemeinwohls.« Das wiederum hängt von Dispositiven der Macht und Prägungen der Ökonomie ab, von wirkmächtigen Ideen, denen wiederum gesellschaftliche Voraussetzungen zugrunde liegen. In Infrastrukturen ist, so könnte man mit van Laak sagen, Geschichte verbaut.
Und mitunter dienen Infrastrukturen auch dazu, dass Geschichte nicht gemacht wird. Jedenfalls nicht in einer Weise, die die gesellschaftlichen Verhältnisse generell in Frage stellt. »Die Bereitstellung moderner Infrastrukturen«, so van Laak, war stets auch »eine erfolgreiche antirevolutionäre Strategie. Denn statt (klassen-)kämpferisch mehr Verteilungsgerechtigkeit einzufordern, verhieß sie den potenziell nivellierten Anschluss an einen gesellschaftlichen Wohlstand.«
Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Verlag S. Fischer 2018, 368 S., 26 Euro.
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Verlag C. H. Beck 2009, 1.568 S., 49,90 Euro.
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