Wirtschaft
anders denken.

Ökonomie im Lager

15.05.2020
Ein Mann sitzt vor einem improvisierten Marktstand und verkauft KräuterFoto: Free-Photos auf PixabayAuch im Flüchtlingslager entstehen Märkte

Unter restriktiven Bedingungen entstehen besondere Formen des Wirtschaftens, so auch in Flüchtlingslagern. Für Geflüchtete geht es ums Überleben. Lassen Sie uns über Ökonomie reden…

Das Flüchtlingslager Buduburam liegt in Ghana. Es wurde 1990 vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) eröffnet, um Menschen aus dem Nachbarstaat Liberia aufzunehmen, die vor dem Bürgerkrieg fliehen mussten, der dort mit nur knapp drei Jahren Unterbrechung von 1989 bis 2003 herrschte. In dieser Zeit lebten an die 40.000 Geflüchtete in Buduburam. Einer von ihnen war Mustapha, der als Neunjähriger dort ankam, nachdem Rebellen in Liberia seine Eltern und seine Schwester getötet hatten. Mit Mustapha sprach Sigrun Matthiesen.

Woher bekamen du und die anderen Menschen in Buduburam etwas zu essen?

Die NGOs haben die Nahrungsmittel ins Lager gebracht und in einem großen Küchenzelt Mahlzeiten zubereitet. Dort musste man sich in die Schlage stellen. Morgens gab es Milchtee und Brot, und nachmittags Reis oder so etwas. Manchmal gab es drei Mahlzeiten am Tag, aber oft nur zwei und wenn die Lebensmittel knapp waren, auch nur eine. An den meisten Tagen reichten die Lebensmittel nicht, ich hatte oft Hunger. Die Stärksten überleben, weil sie sich die besten Plätze in der Schlange sichern können und sich eben auch mehrmals anstellen.

Als Waisenkind gehörtest du vermutlich nicht zu den Stärksten. Gab es Situationen, in denen du Angst hattest, zu verhungern?

Oh ja, du siehst all die andren Leute die Essensausgabe stürmen, alle rennen und dann geht es wirklich nur nach dem Recht des Stärkeren. Wenn du stolperst, trampeln sie über dich hinweg. Und selbst wenn du heil ankommst, als kleines Kind stehst du ewig an und nichts bewegt sich und du weißt, wenn du endlich an die Reihe kommst, wird nichts mehr übrig sein. Das war sehr beängstigend.

Was konnten die Leute im Camp versuchen, um ihre Ernährungssituation zu verbessern? Konnte man etwas anbauen, oder ein Huhn halten?

Am Anfang, als alle in Zelten lebten, nicht. Später leben dann viele in Hütten aus Holz, und die Zahl der Bewohner ging zurück, es gab also mehr Platz. Dann fingen manche an, Mais und Yams und ein paar Tomaten anzubauen. Aber nur zur Selbstversorgung, jeder sorgt für sich und seine Familie.

Gab es im Lager zusätzliche Nahrungsmittel zu kaufen, vorausgesetzt, man hatte Geld?

Zu Anfang nicht, weil niemand Arbeit hatte, verfügte auch niemand über Geld. Wenn die Lebensmittel der NGO nicht ausreichten, sind wir Kinder zu den Märkten gelaufen, die es außerhalb des Camps gab. Dort haben wir die überreifen Bananen und andere Sachen genommen, die übrig blieben. Das haben wir oft gemacht.

Konnte man etwas eintauschen und dafür Lebensmittel bekommen?

Selten, weil jeder erst mal versuchte zu überleben, so gut es ging. Manchmal kamen Leute von außerhalb ins Camp und suchten Arbeitskräfte für kleine Jobs. Mit dem Geld konnte man sich dann auf den Märkten etwas zu essen kaufen. Später, als mehr Leute außerhalb arbeiteten, entstanden auch im Lager kleine »Märkte«. Wer außerhalb Arbeit fand, sparte etwas von dem Geld und eröffnete im Lager seinen eigenen kleinen Marktstand. Die meisten verkauften Gemüse. Andere brachten Kleider von draußen rein, es war ein bisschen wie die Flohmärkte hier.

Welches Produkt war besonders begehrt?

Ein Essen, das »Gari« heißt und in vielen afrikanischen Ländern sehr beliebt ist. Es wird aus Cassava-Mehl hergestellt, so ähnlich wie Polenta, nur dass es fermentiert ist und deshalb einen säuerlichen Geschmack hat. Das Cassava-Mehl läßt sich gut lagern, und je mehr Wasser man dazugibt, umso mehr Gari kann man produzieren. So lässt sich schon ein Gewinn erwirtschaften.

Konnten Kinder wie du sich an solchen Geschäften beteiligen?

Die meisten im Lager waren ja Frauen und wir Kinder oder Jugendlichen. Kleidung oder Spielsachen haben uns nicht interessiert, wir sind letztlich immer der Spur des Essens gefolgt: Wenn also beispielsweise jemand Sachen zum Markt brachte, haben wir angeboten, beim Tragen zu helfen. Dann bleibt man die ganze Zeit in seiner Nähe, damit er dich nicht vergisst und dir am Ende, wenn er seine Geschäfte erledigt hat, irgendwas zu essen gibt. Kein Geld, nur Nahrungsmittel. Deshalb haben ich und viele andere Jungs uns immer in der Nähe der Märkte aufgehalten. Ich erinnere mich auch an eine Frau, die Reis gekocht hat, um ihn an andere zu verkaufen. Das war auf einer offenen Feuerstelle und ich habe ihr geholfen, das Feuer in Gang zu halten, indem ich fächelte. Dafür durfte ich mir dann am Ende den angebrannten schwarzen Reis vom Topfboden kratzen. Den habe ich mir in die Tasche gesteckt und konnte drauf rumkauen, wenn es sonst nichts gab.

Haben die Organisatoren des Flüchtlingslagers versucht, diesen Kleinhandel in irgendeiner Form zu regulieren?

Nein, das haben die Leute unter sich ausgemacht. Den Organisatoren war das, glaube ich, sehr recht, die wussten ja, dass die offiziellen Nahrungsmittelzuteilungen nicht ausreichen. Da ist es nur gut, wenn die Leute auch selber für sich sorgen und einen Markt aufbauen.

Gab es Versuche, von den Nahrungsmittellieferungen etwas abzuzweigen und es dann zu verkaufen?

Oh ja, das kam ständig vor. Diejenigen die an der Auslieferung beteiligt sind, sorgen dafür, dass ungefähr drei von zehn Säcken mit Cassava-Mehl beiseitegeschafft werden. Das haben sie dann an Familienmitglieder weitergegeben, die es auf dem Markt verkaufen konnten. Wer Zugang zur Verteilung der Nahrungsmittel hat, ist in einer wirklich guten Position. Die NGOs haben zwar immer wieder versucht, das zu unterbinden, aber ohne Erfolg. Wenn die Lebensmittellieferung ankommt, herrscht ein derartiges Chaos, dass niemand den Überblick behalten kann. Und hinterher streitet es natürlich jeder ab, etwas genommen zu haben, das ihm nicht zusteht.

Was wurde außer Essen angeboten?

Sehr wenig, es gab jemanden, der Schuhe reparierte, sogar Flip-Flops. Und jemand anderen, der Kleidung flickte, denn alle mussten ihre Sachen ja sehr lange tragen. Die Männer konnten sich rasieren lassen, und die Frauen haben sich gegenseitig Frisuren geflochten. Für all das wurde anfangs in Nahrungsmitteln bezahlt, oder man tat sich gegenseitig einen Gefallen: Ich rasiere dich und du sagst mir Bescheid, wenn es das nächste Mal einen kleinen Job auf dem Bau gibt, so in der Art. Später, als mehr Leute ein bisschen Geld hatten, wurde natürlich zunehmend auch damit bezahlt.

Wo haben die Leute ihr Geld aufbewahrt?

Nah am Körper: Die Frauen machen eine Art unsichtbare Innentasche aus dem Stoff ihrer Röcke, die Männer schneiden den Hosenbund ein Stück auf. Wer ein bisschen mehr Geld hatte, verlieh auch kleine Summen. Mit so einem Kredit konnte man beispielsweise die erste Portion Cassava-Mehl kaufen, um dann Gari zu verkaufen und es von dem Gewinn zurückzuzahlen.

Hast du durch deine Erfahrungen in Buduburam etwas über Ökonomie gelernt?

Für mich bestand die beste Überlebenschance darin, anderen zu helfen und zu hoffen, dass sie dir ein bisschen Gari und Wasser dafür geben. Dann bist du okay. Ich glaube, ich versuche immer noch, mit wenig Nahrung auszukommen, auch wenn es aktuell natürlich gar keinen Mangel gibt. Ich weiß nicht, ob ich wirklich etwas über Ökonomie gelernt habe, aber ich habe gelernt zu wirtschaften. Wenn man etwas hat, sollte man immer ein bisschen zurücklegen für Zeiten, in denen es nichts gibt. Außerdem habe ich gelernt, dass man vom Geldverleih gut leben kann: Ich gebe dir einen Euro und du zahlst mir irgendwann einen Euro fünfzig zurück. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass ich versuche, Schulden zu vermeiden.

Geschrieben von:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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