Wirtschaft
anders denken.

Ökonomie der Entwicklung: ein Handbuch gegen destruktive Ignoranz

27.04.2018
Entwicklungstheorien

Das »Handbook of Alternative Theories of Economic Development« ist ein inspirierender Einstieg in Entwicklungstheorien abseits der Lehrinhalte der Wirtschaftswissenschaften. Es bietet Grundlagen und Ansätze zum Weiterdenken. Gelesen von der Initiative »Was ist Ökonomie«.

In einer Zeit, in der sich entwicklungsökonomische Forschung weitestgehend mit mikroökonomischen Lösungen zur symptomatischen Armutsbekämpfung begnügt, ist der Sammelband »Handbook of Alternative Theories of Economic Development« ein lang ersehnter frischer Wind. Die Herausgeber_innen Erik Reinert (Talinn University of Technology, Estland), Jayati Ghosh (Jawarhalal Nehru University, Indien) und Rainer Kattel (Talinn University of Technology, Estland) suchen nach alternativen Konzepten und sprachlicher und geografischer Vielfalt im akademischen Diskurs. Nicht zuletzt stellen sie die Frage, die aktuell von einem Großteil der Disziplin ignorant umschifft wird: »Cui bono?« (Wem nützt es?).

Der Ausgangspunkt ist, wie auch bei früheren Arbeiten der Editor_innen, eine Kritik an neoklassischen ökonomischen Theorien. Als Grundlage neoklassischer Entwicklungsökonomik sehen sie David Ricardos Konzept des relativen Kostenvorteils. Ricardo zufolge können sich zwei Länder beim Handel miteinander zum gegenseitigen Vorteil spezialisieren: Das arme Land auf die Güter, in denen es relativ weniger Produktionsnachteile hat.

Fazit dieses Modells ist, dass freier Handel beide Länder reicher macht. Die Editor_innen argumentieren, dass die logische Konsequenz einer nach diesem Prinzip gestalteten Welthandelsordnung ein sich verfestigendes Ungleichgewicht sei. Demzufolge spezialisieren sich reiche Länder auf Aktivitäten mit hoher Wertschöpfung (Industrie) und arme Länder auf solche mit geringer Wertschöpfung (Ressourcen, Agrikultur). Ihnen zufolge war diese ›Arbeitsteilung‹ bereits die Ultima Ratio jahrhundertelanger kolonialer Wirtschaftspolitik. Um die Realität zu beschreiben, so die Editor_innen, sind solche neoklassischen Theorien heute größtenteils nutzlos und ermöglichen, in Allianz mit politischen Eliten, die kontinuierliche Bereicherung industrialisierter Länder und des Finanzsektors – auch nach dem Ende der Kolonialzeit.

Diese »destruktive Ignoranz«, die durch das Auslassen realer historischer Entwicklungserfahrungen aus der ökonomischen Lehre entsteht, soll der Sammelband angehen. Dazu stellt er dem akademischen Ist-Zustand eine große Anzahl alternativer Erklärungsversuche gegenüber.

Der erste und längste Teil des Handbuchs befasst sich mit theoretischer, politischer und empirischer Geschichte der Entwicklungsökonomie in verschiedenen Teilen der Welt. Während erste Arbeiten auf die Deutsche Historische Schule und frühe Vertreter einer aufholenden Entwicklungspolitik fokussieren, behandeln die folgenden Beiträge unter anderem muslimische, asiatische, ottomanische, lateinamerikanische und afrikanische Perspektiven auf Entwicklung. Es werden Einblicke in nicht europäische, nicht englische und nicht neoklassische Denkschulen gegeben. Dies steht in einem deutlichen Kontrast zu der Legendenbildung aktueller wirtschaftswissenschaftlicher Textbücher. Diesen zufolge wurde »die VWL« von Ricardo und Smith erfunden, von britischen und amerikanischen Ökonomen weiterentwickelt und führte schließlich in den 1980er Jahren geradlinig zum neoklassischen Wachstumsmodell.

Mögliche analytische Zugänge, um heutige Phänomene ökonomischer Entwicklung zu begreifen, werden im zweiten Teil vorgestellt. Kein mathematischer Werkzeugkasten bestimmt hier, welcher Analyserahmen möglich und ergo richtig ist – ein von den Editor_innen zurecht kritisierter Ansatz neoklassischer Wissenschaftler_innen. Stattdessen wird in ein breites Spektrum verschiedenster theoretischer Zugänge wie marxistischer, feministischer, regulationstheoretischer und viele weitere eingeführt.

Der dritte Teil schließlich bietet Einblicke in eine Vielzahl entwicklungsökonomischer Problemfelder. Er stellt weder Anspruch an Kohärenz noch an Vollständigkeit und ist am ehesten als Inspirationsquelle für interessierte Leser_innen geeignet, die über den eigenen intellektuellen Tellerrand schauen wollen.

Reinert, Ghosh und Kattel halten, was sie versprechen: Das »Handbook of Alternative Theories of Economic Development« ist ein inspirierender Einstieg in Entwicklungstheorien abseits des Mainstreams und öffnet den Diskursraum. Wäre uns ein solcher Band zum Studienbeginn vorgestellt worden, hätten wir Fragen der ökonomischen Entwicklung als die komplexen, widersprüchlichen und politisch aufgeladenen Problemfelder verstanden, die sie sind, und nicht als trockene Nebenbedingungen in einem naiven mathematischen Maximierungsproblem.

Der eklektische Strauß an Beiträgen aus aller Welt ist in dieser Form bisher einzigartig. Wer auf eine inhaltliche Synthese gehofft hat, wird jedoch enttäuscht sein. Vielmehr bleibt es Aufgabe weiterer wissenschaftlicher und praktischer Auseinandersetzung, die Ideen zu verknüpfen und im globalen Austausch neue politökonomische Antworten auf Probleme unserer Zeit zu finden.

Reinert Erik S, Ghosh, Jayati and Kattel Rainer (Hrsg.): Handbook of Alternative Theories of Economic Development. Edward Elgar, Cheltenham 2016

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Februar2018-Ausgabe von OXI.

Geschrieben von:

Was ist Ökonomie

studentische Initiative

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