Wirtschaft
anders denken.

Gelingt der Umbau?

11.05.2024
Aus einem Portemonnaie ragt eine Rubelnote (die Währung von Russland) heraus.Foto: Evgeny GoTown.ruAuswirkungen der Sanktionen bekämpft Russland monetär.

Im Mai 2022 prognostizierte die Zentralbank, dass der strukturelle Umbau der Wirtschaft vielleicht zwei Jahre in Anspruch nehmen würde: Diese schon damals angesichts der politischen und sozialen Verhältnisse in Russland unwahrscheinliche Prognose hat sich natürlich nicht bestätigt.

Sollte sie ernst gemeint gewesen sein, hätte sie auch die realen weltwirtschaftlichen Realitäten ignoriert. Genauso wenig bestätigten sich Befürchtungen, bzw. Hoffnungen bezüglich eines wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands in Folge der Sanktionen und der wachsenden Belastungen durch den von Russland ausgehenden Krieg. Wenn nun wiederum aus der russländischen Emigration derartige Erwartungen belebt werden, steht dahinter eher eine propagandistische Intention. Sie sollen der Kombination von Aufrüstung der Ukraine, der militaristisch orientierten Restrukturierung der Volkswirtschaften der EU und Sanktionen eine wirtschaftspolitische Legitimation geben und jeder Initiative zur Lösung des Konfliktes jenseits des Militärischen den Boden entziehen.

Die Zahlen deuten weder auf einen Zusammenbruch noch auf eine besondere Dynamik hin. Das Wachstum, vor allem von der Rüstung getrieben, soll zwischen ein und zwei Prozent liegen, auch wenn in Folge der Importsubstitution andere Zweige der verarbeitenden Industrie höhere Zuwachsraten haben sollen. Selbst wenn es gelingen sollte, die Wirtschaftsleistung stärker zu steigern, bleibt sie weit hinter den Notwendigkeiten einer schnellen Modernisierung des Produktionsapparates zurück. Zwar gab es Anfang des Jahres eine ungewöhnliche Steigerung der Industrieproduktion (Putin sprach von 4,6 Prozent), aber dies wird von den Expert:innen nicht als Wende in der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen – es herrscht die Tendenz zur Stagnation vor. Undeutlich ist auch das Bild bezüglich der Investitionstätigkeit. Die Investitionen wuchsen im vergangenen Jahr um 9,8 Prozent, erreichen aber immer noch nicht die 2018 beschlossene Marke von 25 Prozent des BIP (derzeit 22,4 Prozent). Auch ist nicht klar, wie viel vom Rüstungssektor absorbiert wird, also nur beschränkt für den wirtschaftlichen Umbau wirksam wird.

Auch zwei Jahre nach Beginn des Krieges und nach einem reichlichen Jahr der wirtschaftlichen Neuorientierung Russlands lässt sich so nicht sicher sagen, ob das Land zu Stabilität und einem eigenen Entwicklungsweg finden wird oder nicht. Natürlich ist die militärische Seite einer der Unsicherheitsfaktoren. Sieht man davon ab, bietet sich trotzdem weiter ein widersprüchliches Bild. Die relative Stabilität des Landes beruht nicht auf »ökonomischen Anabolika«, wie der oben zitierte Lipsits meint, sondern auf einem, wenn auch fragilen Gleichgewicht von Marktmacht als Rohstoffexporteur, anhaltender, wenn auch langsamer Umstrukturierung der Wirtschaft und sozialen Zugeständnissen im Rahmen eines immer konservativeren und repressiveren politischen und sozial-kulturellen Systems. Putin wurde deshalb wiedergewählt, weil er als Garant dieses Gleichgewichtes betrachtet wird, nicht, weil er Krieg führt. Es stellt sich aber die Frage, ob das von Putin geprägte Modell hinreichende Potenziale hat, um im Wettlauf zwischen Kriegsverlauf, innerem Umbau, der Ermüdung der Gesellschaft angesichts der Fülle ungelöster Probleme und der Perfektionierung des westlichen Sanktionssystems zu bestehen.

Ankündigungen eilen der Realität voraus

In seiner Rede zur Lage der Nation Ende Februar setzte Putin seine »Politik der Ankündigungen« fort. Bereits seit vielen Jahren laufen derartige öffentliche Auftritte des Präsidenten nach dem gleichen Schema ab: Betonung der Erfolge, dann Aufträge an die Regierung, die dann einige Zeit später ein Konzept für deren Umsetzung vorlegt. Die Abrechnung der Ergebnisse in der Breite der Projekte gerät dabei weitgehend aus den Augen der Öffentlichkeit und wurde in der Vergangenheit gelegentlich durch kritische Berichte des Rechnungshofes thematisiert. Dieses Verfahren verschiebt die Verantwortung vom Präsidenten in den Regierungsapparat bzw. in die Regionen und verschafft ihm eine gewisse Immunität gegen Misserfolge.

Wie auch in den früheren Reden formulierte Putin Ziele und Aufgaben, die durchaus nachvollziehbar und logisch sind. Tatsächlich war die Rede in Bezug auf die Wirtschaft unspektakulär. Eine Analyse der Reaktionen der Expert:innengemeinschaft in Russland auf die jüngste Rede hebt die Themen »Unterstützung der Regionen, von Familien und Kriegsteilnehmer:innen« hervor. Sie betonen auch die abschließenden Bemerkungen zu den »Eliten« und zum Verhältnis zu den westlichen Staaten. Als ein Element der Wahlpropaganda lag ihr Schwerpunkt vor allem auf dem sozialen Aspekt. Ein Kommentator der Rede meint, dass in ihrem Zentrum »der Mensch« gestanden habe. Putin sei vor allem auf die Forderungen und Wünsche eingegangen, die aus dem Volk heraus formuliert würden. An dieser Einschätzung ist durchaus etwas dran. Freilich nutzte er diese Gelegenheit, um sein konservatives Verständnis des Sozialen zu propagieren – etwa durch das neue Nationale Projekt der Familienförderung, das das Modell einer großen Familie mit vielen Kindern befördern soll. Das verknüpft sich aber auch mit ökonomischen Aspekten. Gemeinsam mit den Nationalen Projekt »Kader« und »Jugend« ist die Familienförderung auf die Lösung des Arbeitskraftproblems gerichtet, das von Unternehmen immer mehr als hinderlich für deren Entwicklung betrachtet wird.

Allerdings waren auch Momente enthalten, die im Ausland weniger Beachtung fanden, aber von möglicherweise größerer Tragweite sind. So stellte er erstens die Aufgabe, die Rüstungsproduktion stärker mit der Entwicklung der industriellen Produktion insgesamt zu verbinden, sie in die Volkswirtschaft zu integrieren. Damit wird die im Herbst 2022 getroffene Entscheidung gegen ein Kriegswirtschaftsregime bestätigt. Um den Jahreswechsel 2022/2023 verfügte die Ukraine noch über ein Übergewicht hinsichtlich der Bewaffnung in der Kriegszone, das von Russland erst im 1. Halbjahr 2023 ausgeglichen wurde. Offensichtlich ist es Russland gelungen, in diesem Bereich der Wirtschaft trotzdem (oder dadurch?) eine bemerkenswerte Flexibilität bezüglich der sich verändernden Bedingungen des Krieges zu sichern. Immerhin muss die russländische Armee in die Lage versetzt werden, sich mit modernster Waffen- und Aufklärungstechnik aus verschiedenen Ländern auseinanderzusetzen. Der »Stresstest« für die russländische Rüstungsindustrie, so der Analytiker Ruslan Puchov, sei noch lange nicht zu Ende. Es wird scheinbar angestrebt, diese Dynamik in andere Wirtschaftsbereiche zu übertragen und gleichzeitig durch Stärkung der ökonomisch-technischen Souveränität die Rüstungsproduktion zu modernisieren. Wir beobachten hier eine Gleichartigkeit in den wirtschaftspolitischen Entscheidungen aller Seiten, wie sie etwa in Deutschland unter dem Etikett der »Stärkung der Wehrtüchtigkeit« unternommen werden.

Dahinter mag auch ein Gesichtspunkt stehen, der mit der im Rahmen der Nationalen Projekte vorangetriebenen Investitionstätigkeit zusammenhängt. Eine Analyse des Innovationsgehaltes der getätigten Investitionen kommt zu dem Ergebnis, dass ein großer Teil der innovativen Produkte sich aus gezielter staatlicher Unterstützung erklärt. Die Förderung führe dazu, dass die Unternehmen weniger marktorientiert und weniger innovativ bei der Entwicklung von Technologien seien. Produkt- und Verfahrensinnovation fallen also auseinander. Unternehmen außerhalb dieses Bereiches, die sich vor allem auf traditionelle Absatzmärkte stützen, wollten hingegen keine Risiken eingehen und setzten ihre Ressourcen daher nicht für die Suche nach neuen Lösungen ein. Das wiederum hängt sicher mit dem nach wie vor hohen Leitzins (17 Prozent) und den damit gegebenen hohen Kreditkosten zusammen.

Ein zweiter wichtiger Punkt war die Ankündigung von Veränderungen im Steuersystem, die Einführung einer progressiven Einkommensteuer. Mitte März wurden die Grundlinien Steuerpolitik generell bestätigt. Das Steuersystem soll stärker genutzt werden, um unternehmerisches Handeln zu stimulieren. Dahinter steht nicht nur die Frage, wie ein möglicherweise langdauernder Krieg langfristig finanziert werden kann. Der Umbau der Wirtschaft, die Modernisierung der Infrastruktur, die bereits im vergangenen Jahr auf dem St. Petersburger Wirtschaftsforum verkündete Absicht, die soziale Komponente zu stärken und die Notwendigkeiten der Veränderung der Stellung Russlands in der internationalen Arbeitsteilung gebieten gleichfalls die Modernisierung des Steuersystems. Wenn nun aus den Emigrantenkreisen behauptet wird, dass »Putin das Geld ausgeht«, wird dabei tunlichst unterschlagen, dass bereits seit Monaten an Veränderungen der Finanzierungsgrundlagen gearbeitet wird – und dass Haushaltsdefizite nicht automatisch Ressourcendefizite sind. Neben dem Übergang der jetzt praktizierten flat tax (13 bzw. ab einem Jahreseinkommen von fünf Mio. Rubel 15 Prozent) zu einer Form progressiver Einkommensteuer wird im Moment die effektivere Heranziehung der Ersparnisse der Bevölkerung und die weitere Privatisierung staatlicher Unternehmen genutzt. Auch nutzen die Unternehmen zunehmend das Instrument der Anleihen, um ihre Finanzierung jenseits der Kreditlinien zu sichern.

Mit der Einrichtung neuer Sonderwirtschaftszonen und der Orientierung der Regionen auf ein »investitonsfreundliches« Klima und die wiederholte Ankündigung der Entlastung der Unternehmen von Berichtspflichten und administrativem Druck soll die Finanzierungsbasis des Staates durch nichtfiskalische Mittel gestärkt werden. An Geldmangel wird Russland nicht scheitern.

In den Debatten um die Zukunft der Steuerpolitik werden aber auch die ungelösten sozialen und regionalen Probleme deutlich.

Eine Analyse der regionalen Verteilung der aus dem erhöhten Einkommensteuersatz von 15 Prozent (statt 13), der von besonders hohen Einkommen (über 5 Mio. Rubel bzw. knapp 50.000 Euro im Jahr) erhoben wird, resultierenden Mehreinnahmen zeigt, dass Moskau mit 49 Prozent daran beteiligt ist, es folgen St. Petersburg mit 9 und das Moskauer Gebiet mit 3 Prozent. In Moskau wiederum stammen 4,3 Prozent der Einkommensteuereinnahmen aus diesem erhöhten Satz, was noch einmal auf die extreme Konzentration der hohen Einkommen verweist. Zum Vergleich: Das durchschnittliche monatliche Arbeitseinkommen lag im vergangenen Jahr laut Rosstat bei 73.709 Rubel, also etwa 740 Euro. Die höchsten Löhne mit über 150 Tsd. Rubel im Monat werden in Tschukotka (zu erklären aus den harten Lebensbedingungen in der Region) gezahlt. Die ersten Überlegungen zur Steuerreform sehen nun vor, dass bereits ab einem Jahresarbeitseinkommen von einer Mio. Rubel (entsprechend etwa 83 Tsd. Rubel im Monat) die erhöhte Steuerlast anfallen soll. Angesichts der hohen Inflation und der gegenwärtig zu beobachtenden Tendenz der Erhöhung der Nominallöhne in Folge des Arbeitskräftemangels könnte das bereits für Durchschnittsverdiener:innen eine Erhöhung der Steuerlast bedeuten. Das trifft erst recht auf hochqualifizierte Spezialist:innen zu (die »Mittelklasse«), die in dem verfolgten Wirtschaftskonzept eine zentrale Rolle spielen. So wird die Steuerpolitik einige Umverteilungsprobleme lösen, aber auch neue hervorbringen.

Hindernisse der Modernisierung

Anfang April hat die Regierung nun eine Konkretisierung der aus der Präsidentenbotschaft abzuleitenden Aufgaben vorgelegt. Insgesamt sollen sich die Mehrausgaben auf sechs Billionen Ruben belaufen, dabei 3,7 Billionen für Ausgaben im Bereich der Sozialpolitik und 2,2 Billionen für die Anpassung der Wirtschaft an die »neuen Bedingungen«. Eine Analyse des Papiers in der Wirtschaftszeitung Kommersant charakterisiert die Vorhaben als Versuch, über Investitionen und Sozialausgaben gleichermaßen sowohl die umzubauenden Bereiche als auch die weniger importabhängigen Zweige (wie die Baumaterialienindustrie und den Agrar-Industrie-Komplex) zu stimulieren. Allerdings wird auch bezweifelt, dass die gestellten Ziele realistisch sind. Kommersant rechnet in seiner Analyse mit einem Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent pro Jahr bis 2030. Auch wird auf die enormen Probleme bei der Realisierung der im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder aufgelegten Nationalen Projekte verwiesen. Zudem sind die Probleme des Transportwesens, vor allem der Eisenbahnen noch weit von einer Lösung entfernt. Die Probleme in diesem Bereich treffen vor allem die Landwirtschaft, die ihre Produkte nicht reibungslos auf den Markt bringen kann.

Ein Beispiel für die sachliche und zeitliche Dimension des Problems ist das Schicksal des Baikal-Schaltkreises, mit dem Russland von westlichen Zulieferungen in der Computerbranche unabhängig werden will. Nachdem der Versuch, die Produktion in einem taiwanesischen Unternehmen zu platzieren am Sanktionsregime scheiterte, wird er nun in Russland selbst produziert. Allerdings ist dies mit enormen Ausschussquoten verbunden. Das ist nicht ungewöhnlich, da die Beherrschung des technologischen Prozesses nach der Deindustrialisierung der 1990er kompliziert ist. Vor allem ist bemerkenswert, dass diese Herausforderung angenommen wurde. Es deutet aber auch darauf hin, dass der Aufwand der Importablösung viel höher sein wird, als erwartet.

Eine tatsächliche Bedrohung des Wandels liegt freilich auf einem anderen Gebiet, an der Schnittstelle von Sozialem und Ökonomie. Ein Schwachpunkt bleiben Wohnung und kommunale Infrastruktur. In den letzten Monaten kam es in zunehmendem Maße zu Ausfällen in der Wärmeversorgung. Gleichzeitig häufen sich die Klagen über den Zustand des Wohnungsbestandes.

Russland als global orientierte Ökonomie?

Für die weitere Entwicklung des Landes ist die Schaffung von Wegen der Einbindung in den Weltmarkt von größter Bedeutung. Die Führung wollte nie eine autarke, sondern eine souveräne Ökonomie. Zentral bleibt die Frage, ob der Ukrainekrieg als ein Ausdruck des Widerstandes gegen die Hegemonie von EU, USA, Japan und Australien zu einer Neustrukturierung der internationalen Arbeitsteilung führt, oder ob es den traditionell die Weltwirtschaft dominierenden Mächte gelingt, diesen Widerstand zu unterdrücken und die aufstrebenden Regionalmächte wie Brasilien, Saudi-Arabien usw. in ihr System zu integrieren. Letzteres wäre die eigentliche Niederlage Russlands – und um diese Art von Niederlage bzw. ihre Verhinderung geht es dem »Westen« und Russland.

Bereits in den vergangenen Jahren wurden Projekte wirtschaftlicher Zusammenarbeit jenseits von IWF, Weltbank usw. aktiv genutzt. Im Verhältnis zu BRICS und der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft bestimmt der Pragmatismus des angesichts des westlichen Sanktionssystems Machbaren die russländische Politik. Wie bereits im Zusammenhang mit der BRICS-Erweiterung im vergangenen Jahr klar wurde, wird kurzfristig kein eigenständiger antiwestlicher Block entstehen. Inzwischen wird in Russland prinzipiell in Frage gestellt, dass das BRICS jemals eine konkurrierende Struktur im Weltfinanzsystem schaffen wird. Der entscheidende Faktor für die Zukunft der weltwirtschaftlichen Stellung Russlands ist China. Allerdings werden die dabei neu entstehenden Abhängigkeiten vom dortigen Konjunkturverlauf kritisch diskutiert. Zudem ist China auch nicht immun gegen das westliche Sanktionsregime. Die global agierenden chinesischen Banken sind nur bedingt zuverlässige Partner, da auch sie Sanktionen im Falle von Geschäften mit russländischen Kunden vermeiden wollen. Dazu ist dieses Geschäft wiederum nicht bedeutend genug.

Jenseits des kurzfristigen Manövrierens zur Umgehung und Kompensierung von Sanktionen ist die außenwirtschaftliche Strategie Russlands auf lange Sicht orientiert. Insbesondere strebt sie eine Verknüpfung der Projekte der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Belt-and-Road-Initiative Chinas an. Vor allem im Verhältnis zu den zentralasiatischen Staaten wird eine schrittweise, sich entwickelnde Integration angestrebt (nakopitel’naja integracija). Sie soll ihren Schwerpunkt nicht in der schnellen Liberalisierung der Märkte haben, sondern in einer schrittweisen Entwicklung der nationalen Ökonomien bei Offenheit für die Zusammenarbeit auch mit anderen Partnern. Offen bliebe, ob und wann sich diese Zusammenarbeit zu einer höheren Stufe der Integration entwickeln, oder ob sie für lange Zeit eine Form des Kompromisses stabiler gegenseitiger Beziehungen bleiben würde. Ein wichtiger Effekt sei dabei das Wachsen des Vertrauens zwischen den Staaten im Zuge der Realisierung einer immer größeren Zahl gemeinsamer Projekte. Eine wichtige Voraussetzung sei die Aktivierung der Zusammenarbeit der Geschäftswelt der Partner, die Integration von unten.

Freilich droht an dieser Stelle die sozial-konservative Komponente der Herrschaftssicherung zu einer Blockade zu werden. Die auch in der russländischen Gesellschaft präsente Xenophobie hat sich nach dem Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle »Crocus City Hall« verstärkt. Der Druck der Behörden auf Migrant:innen aus den zentralasiatischen Nachbarstaaten, vor allem Tadschikistan, soll sich erhöht haben. Auch die Zahl der Angriffe auf Migrant:innen ist deutlich gewachsen. Auf einer Veranstaltung des Innenministeriums forderte Putin ein neues Herangehen an die Migrationspolitik unter Nutzung digitaler Technologien ohne Auswüchse, wie Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und andere negative Erscheinungen. Was dies bedeutet, ist angesichts der Praxis offen.

Alles in allem lässt sich konstatieren, dass der Zeitfaktor auf verschiedenen Ebenen zu einem zentralen Problem der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands wird: Wie schnell gelingt es, innere Akkumulationsquellen zu aktivieren, wie schnell können belastbare Ergebnisse der Importablösung erreicht werden, wie schnell können Partnerländer für stabile wirtschaftliche und finanziellen Kooperationen gewonnen werden, wie lange ist die soziale Stabilität zu gewährleisten? Nur ein Teil der Bedingungen ist dabei von der russländischen Führung selbst zu beeinflussen. Klar ist, dass aus wirtschaftlicher Sicht Russland weder Interesse hat noch über Ressourcen verfügt, um, wie die aktuelle Politik von EU und NATO unterstellt, irgendein Land der westlichen Bündnisse anzugreifen. Umfragen zeigen, dass weite Teile der russländischen Gesellschaft immer noch die schnelle Aufnahme von Friedensverhandlungen befürworten. Die militärische und auch ökonomische Patsituation bietet auch vor diesem Hintergrund immer noch die Chance, an den nun schon Monate zurückliegenden chinesischen Vorstoß zum Ausstieg aus der Eskalationsspirale aufzugreifen.

Geschrieben von:

Lutz Brangsch

Ökonom

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