Wirtschaft
anders denken.

Das erschöpfte Selbst in der Wellness-Oase

30.11.2016
99 verschiedenfarbige EmoticonsGrafik: WüllnerRational auf den Kern reduziert: Die Welt der Gefühle.

In der Dezember-Ausgabe geht OXI dem Verhältnis von Wirtschaft und Gefühlen auf den Grund.

Wie die katholische Kirche unter dem Deckmantel der Keuschheit mit Sex so ähnlich geht die Wirtschaft hinter einer Fassade der Rationalität mit Gefühlen um: Sie werden eingesperrt und missbraucht.

Betriebs- und Volkswirte, Unternehmer und Manager präsentieren ihr Handeln als unbezweifelbares Resultat aus Vernunft, kühler Kalkulation und technischem Verstand. Mit Emotionen habe Ökonomie so wenig zu tun wie ein Naturgesetz mit Moral. Sich von Neid- und Angstgefühlen leiten und Ressentiments freien Lauf zu lassen, wird den politischen Opponenten nachgesagt, die mehr Gerechtigkeit, Naturschutz, soziale Sicherheit und Lebensqualität für alle durchsetzen wollen. Überhaupt: Alle Unvernunft ist in der Politik angesiedelt. Die klarsichtige Urteilskraft sitzt in den Vorstandsetagen der Wirtschaft, also zum Beispiel bei Volkswagen, der Deutschen Bank, Eon, Lidl und der Telekom.

Tatsächlich nimmt sich die Wirtschaft – hinter dieser Kulisse: Wir sind rational, die Politiker irrational – jede Freiheit, Stimmung zu machen. Auf den sieben Seiten des Titelthemas »Wir kennen nur Sieger!« über Gefühle und Geschäfte beleuchtet die Dezember-Ausgabe von OXI, wie um wirtschaftlicher Erfolge willen Gefühle unterdrückt und ausgeschlachtet, ignoriert und mobilisiert werden. Ein kollektives Wohlgefühl kann nicht aufkommen, solange »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« (Eva Illouz) so behandelt werden. »Das erschöpfte Selbst« (Alain Ehrenberg) wird zum Symbol der Arbeitsgesellschaft. Wo im Alltag das Wohlbefinden fehlt, überbieten sich die Wellness-Oasen mit ihren Einladungen. Die Frage ist allerdings auch berechtigt: Wird das Problem bewusst größer gemacht, weil zu viele an den Lösungen verdienen wollen? Konkret: Ohne Zweifel hat die Pharmaindustrie ein Interesse daran, dass sich die Diagnosen psychischer Pathologien ausweiten, die sich mit Psychopharmaka behandeln lassen.

Die Wirtschaft nimmt sich jede Freiheit, Stimmung zu machen und auf Emotionen zu setzen.

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Aufregend sind die aktuellen Entwicklungen, weil beides auf eine neue höhere Stufe getrieben wird: die Tendenz zur Rationalisierung ebenso wie die zur Emotionalisierung. Mit Hilfe scheinbar wertneutraler Algorithmen werden bisherige Ungewissheiten angeblich in Berechenbarkeiten verwandelt: Der Computer weiß alles früher und besser als der Mensch, der ihn in Hand- und Hosentaschen mit sich herumträgt. Andererseits werden Arbeitskraft und Kaufkraft, Beschäftigte und Kunden, vom Human-Resource-Management und von Werbegurus tiefer denn je in Stimmungsbäder getaucht: die Wirklichkeitsräume sind mit melodramatischem Kuschelrock beschallt, in rosafarbener Coolness grundiert und mit Selfies in Siegerposen tapeziert.

Denken und Fühlen strikt zu trennen, um das Eine wie das Andere getrennt ökonomisch ausbeuten zu können, das gehört zu den Spezialitäten der westlichen Welt. Aber diese Trennung ist künstlich. Um zu leben, zu erleben und zu handeln, braucht es Kopf und Bauch. Für den Widerstand gegen diese Ökonomisierung braucht es auch beides. Mehr zu diesem Aspekt und anderen Themen im Blatt. Die Dezember-Ausgabe von OXI erreicht am 3. Dezember die Abonnenten und am 6. Dezember die Kiosk-Kundschaft.

Geschrieben von:

Hans-Jürgen Arlt

Professor für strategische Organisationskommunikation

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