Gesundheitspolitische Brandherde
Karl Lauterbach ist nach langem Warten mit viel medial forciertem Füßeapplaus Gesundheitsminister geworden. Aber was haben wir zu erwarten?
Die Fähigkeit, sich unbeliebt zu machen, besitzt er im Übermaß. Besonders wenn es darum geht, eigene Positionen zu stützen, greift er schon mal zum falschen Besteck. Im Februar etwa prophezeite Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) »400 bis 500 Corona-Tote täglich«, sollten die Grundrechtseinschränkungen zu früh fallen. Ihm blies steifer Wind ins Gesicht, von Politikern ebenso wie von Ethikrat Stephan Rixen. Er male »Bedrohungsszenarien« an die Wand und verunsichere die Bevölkerung, so der Vorwurf.
Es war aber gerade die medial forcierte Abstimmung mit den Füßen eben dieser Bevölkerung, die den Professor in eine Position hievte, auf die er immer schielte. Als langjähriger Berater der sozialdemokratischen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die den 2001 von der Union in die SPD gewechselten Gesundheitsökonomen in die Politik gebracht hatte, musste er mitansehen, wie vier Gesundheitsminister – die meisten ohne fachliche Voraussetzungen – an ihm vorbeizogen. Ihr flüsterte er das System der Fallpauschalen der Krankenhausversorgung ein, die sog. DRGs. Das hatte er aus den USA mitgebracht, aus Harvard, zuerst in Australien praktiziert. Patient:innenen werden nicht mehr in ihrer konkreten Krankheitslast wahrgenommen, sondern nur noch als formalisierte Kennziffer und entsprechend abrechnet: Beinbruch, Blinddarm, Kopf-OP: In so und so vielen Tagen seid ihr wieder gesund. Weniger Liegetage bedeuten Profit für die Klinik, mehr Verlust. An diesem Paradigmenwechsel krankt das Gesundheitssystem bis heute.
Als Lauterbach den Posten als gesundheitspolitischer Sprecher seiner Partei verlor, war es einige Zeit still um ihn geworden – bis ihm Corona die Chance seines Lebens bot. Mit stets erhobenem Zeigefinger seine Expertise viral in sämtliche Talkrunden der Republik streuend, ist er zu dem Gesicht der Pandemie reüssiert. Und obwohl ihm seine Exzentrik und Besserwisserei früher politisch eher abträglich waren, ging sein Stern auf, vielleicht, weil das Publikum in ihm während der nicht enden wollenden Infektionswellen einen sah, der Orientierung gab im Gezänk der Expert:innen. Dass er ebenso Irrtümern aufgesessen ist wie die Kolleg:innen, schien keine Rolle zu spielen.
Bekanntlich zögerte Kanzler Olaf Scholz lange, bevor er den in der Fraktion nicht sehr beliebten Parteikollegen ins Kabinett berief, begleitet von vorausgestreuten medialen Lorbeeren, auf denen eigentlich jeder Gesundheitsminister, der eine noch grassierende Seuche zu bewältigen hat, ausrutschen müsste. Und es ließ sich auch nicht wirklich gut an für Lauterbach, der Hang des Professors zu einsamen Gängen und Entscheidungen hilft nicht in einer Situation, in der regelmäßig 16 Landesfürst:innen mit höchst eigenen Plänen und Ambitionen zu moderieren sind. Ganz abgesehen von den Lobbygruppen, die regelmäßig um das Ministerium in der Berliner Friedrichstraße schleichen.
Zunächst aber musste Lauterbach erklären, weshalb er sich (und seine Fraktion) plötzlich zu Fans der allgemeinen Impfpflicht machte und dann doch keinen Regierungsentwurf dazu vorlegte. Das hat ihm viel Häme seitens der Union eingebracht, die nicht ganz zu Unrecht vermutet, dass die Regierung keine eigene Mehrheit zustande bekäme. Dann grätschten ihm der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler und das Paul-Ehrlich-Institut dazwischen mit dem selbstherrlichen Dekret, die Dauer der Immunität von Genesenen zu halbieren. Die Freiheitsverfechter von der FDP fanden das gar nicht gut. Das fängt der Gesundheitsminister nun mühsam wieder ein und beschneidet mit einem Streich die Kompetenzen des RKI. Dazu kamen im Januar die Verwirrung um Impfstofflieferungen und das verfehlte Ziel bei der Impfquote, im Februar wurden die PCR-Tests rationiert, obwohl sich dann herausstellte, dass die Ressourcen gar nicht so knapp sind wie angenommen.
Am brisantesten dürfte für den Minister in den kommenden Wochen allerdings der Start der Impfpflicht für die Beschäftigten in Pflegeberufen werden. Das im Dezember angesichts der gefährlichen Delta-Virusvariante schnell zusammengeschusterte und verabschiedete Gesetz hat nicht nur handwerkliche Mängel, sondern es sollte ein Probelauf für die allgemeine Impfpflicht werden. Diese Erklärung war notwendig, um die Pflegekräfte, die sich nicht zu Unrecht diskriminiert fühlten und fühlen, zu besänftigen. Doch offenbar haben die Macher:innen des Gesetzes nur wenig Gedanken an die Durchführung, die den Ländern obliegt, verschwendet. Kaum war das Gesetz durch den Bundesrat gebracht, setzte eine bislang nicht mehr abreißende Kritik ein.
Grundsätzlich geht es um Befugnisse, Kontrollen und Sanktionen: Wer darf nicht geimpfte Pflegekräfte vom Arbeiten abhalten, wer hat überhaupt Kapazitäten, dies zu kontrollieren und was passiert arbeitsrechtlich nach einem Betretungsverbot? Werden diejenigen, die die Corona-Last mitgetragen haben in der Pflege, beim Arbeitslosengeld gesperrt? Gar nicht zu reden davon, wer am Ende die Bußgelder verhängt und durchsetzt. Betreiber von Kliniken und insbesondere Pflegeheimen sind verunsichert, die ohnehin unterbesetzen, für die Kontrolle beauftragten Gesundheitsämter schlagen Alarm, weil ihnen die personellen Ressourcen fehlen, Arbeitsämter stochern im Nebel und die Justiz fürchtet überbordende Verfahren. Der oder die erste Pfleger:in, die in Erzwingungshaft landet, dürfte sich hoher Popularität gewiss sein.
Man muss das Kalkül der Union, auch in dieser Frage die Regierung herauszufordern, wie es der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) tut, gar nicht weiter auslegen, so durchsichtig ist es. Ob Pflegekräfte tatsächlich massenhaft abwandern, wenn die Impfpflicht kommt, ist umstritten. Die Daten sind widersprüchlich im Ausland, im Inland ist bislang wenig dazu bekannt. Aber es ist schon bemerkenswert, mit welch eisernem Schwert Karl Lauterbach am Zeitplan für die einrichtungsbezogene Impfpflicht festhält, gleichzeitig aber nur einen eingeschränkten Kreis von Pflegekräften, nämlich jene, die unmittelbar an der Corona-Front stehen, in den Genuss des Pflegebonus kommen lassen will.
Die »1.500€ Pflegebonus«, erklärte er im April 2020 via Twitter gegenüber seinem Vorgänger Jens Spahn (CDU), »ist Einmalzahlung. Besser wäre eine dauerhafte Lohnerhöhung in der Pflege im Vergleich zu anderen Berufsgruppen«. Gut gebrüllt, Löwe! Und nun gönnt er Sanitätern oder den Pflegenden in den mobilen Diensten, die von Corona durchaus auch »belastet« sind, diesen einmaligen Obolus nicht? Man möchte nicht in der Haut von Personalräten stecken, die mitentscheiden sollen, wer von diesem Manna bedacht wird!
»Schäbig« finden das viele Pflegekräfte, die sich im Netz ihrer Empörung Luft machen. Mehrere regionale Initiativen haben einen Brandbrief an Lauterbach verfasst. Christel Bienstein vom Deutschen Verband für Pflegeberufe erklärt, dass die Verteilung als ungerecht empfunden würde und zur Polarisierung unter den Beschäftigten führt. Auch Egon Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz warnt vor einer solchen, wie es Lauterbauch nennt, »differenzierten« Honorierung des Beitrags, die die Pflegenden erbringen. Christine Vogel vom Deutschen Pflegerat kritisiert, Pflegekräfte würden einfach »abgespeist«, und der Marburger Bund fordert nun auch einen Bonus für Ärzt:innen. Nach mehreren Verschiebungen will der Gesundheitsminister zeitnah ein Konzept vorlegen.
Aber egal wie dieses ausgestaltet ist, wird das weder die Einkommenssituation in der Pflege noch die dort herrschenden Arbeitsbedingungen ändern. Mit der Altenpflegerin Claudia Moll (SPD) hat Lauterbach den bis dahin amtierenden Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Andreas Westernfellhaus, abgelöst. Im sogenannten Corona-Expert:innenrat des Kabinetts sitzt sie aber so wenig wie irgendeine andere Vertreterin – es sind ja meist Frauen – aus der Pflege. Das lässt tief blicken. Moll immerhin fordert einen angemessenen Tariflohn von 4.000 Euro für Altenpfleger:innen und 30 Tage Urlaub, denn der Mindesturlaub vieler Beschäftigter in diesem Bereich sei »eine Schweinerei«, wie sie in einem Interview sagt.
Das Kräftemessen dürfte also erst beginnen, wenn klar wird, wie viele Pflegekräfte wegen der Impfpflicht oder aus anderen Gründen ihrem Beruf den Rücken kehren. Und wenn die vorgeschriebene Tarifbindung der Arbeitgeber:innen in der Branche evaluiert wird, nachdem vergangenes Jahr ein einheitlicher flächendeckender Tarifvertrag wieder einmal gescheitert ist. Wird der Gesundheitsminister oder sein Parteikollege, Arbeitsminister Hubertus Heil, dann Einrichtungen sanktionieren oder gar schließen, wenn sie weiterhin Dumpinglöhne bezahlen?
Die nur mühsam vor den Wahlen durch einen auf 15,6 Milliarden Euro erhöhten Bundeszuschuss kaschierte dramatische Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen ist in den politischen Unruheherd dabei noch gar nicht eingepreist. Bis 2025 droht, pessimistischen Berechnungen zufolge, ein Defizit von bis zu 27,3 Milliarden Euro, das nur teilweise auf Corona zurückgeht. Mit einem Gesundheitsökonomen an der Spitze, der das Thema Bürgerversicherung für lange Zeit ad acta gelegt hat und dabei sowieso ein unsicherer Kantonist war, ist diese Quelle erstmal nicht anzuzapfen. Man darf gespannt darauf warten, woher das Geld für höhere Pflegelöhne kommen soll oder für rabiat steigende Arzneimittelausgaben. Lauterbach war schon immer ein Verfechter von Klinikschließungen, das wird er auch weiterverfolgen. Die gesundheitspolitischen Brandherde glimmen bereits.
Guter Journalismus ist nicht umsonst…
Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.
Zahlungsmethode