Von Digitalisierung, Dividenden und Produktivitätssteigerung
Hilmar Höhn, Leiter der Abteilung Politik der IG BCE, im Gespräch über die Digitalisierung des Arbeitslebens, Produktivitätssteigerungen, kürzere Arbeitszeiten und Arbeitslohn.
Alle reden von der Industrie 4.0: der Digitalisierung und Roboterisierung der Industrie, der Vernetzung der Maschinen untereinander. Das Leitbild: mit weniger Arbeitskraft viel mehr produzieren. Gibt es für die Chemieindustrie halbwegs verlässliche Schätzungen, wie stark die Produktivität steigen wird?
Höhn: Es gibt sie sicher irgendwo, diese Zahlen. Aber der Blick in die Industriegeschichte zeigt, dass diese am Beginn großer Innovationszyklen angestellten Überlegungen niemals oder höchstens zufällig richtig waren. Und: Ohne dass wir es mit einer technologischen Revolution zu tun gehabt hätten, stieg beispielsweise die Produktivität pro Beschäftigten in der chemischen Industrie zwischen 1998 und 2008 um rund 400 Prozent.
Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Beschäftigten in der Chemieindustrie um etwa 30.000 auf etwa 445.000 gesunken. Damals lag der Jahresumsatz je Beschäftigtem bei knapp 300.000 Euro Umsatz, heute bei 450.000 Euro. Geht es jetzt so weiter: immer weniger Beschäftigte produzieren immer mehr?
Das spiegelt in etwa meine Zahlen wieder. Diese Produktivitätsentwicklung und die dahinter stehenden Innovationen sind die Erfolgsgaranten auf dem Weltmarkt. Die Lohnquoten spielen bei diesem weltweiten Wettbewerb nur marginal eine Rolle. Dass trotzdem versucht wird, mittels Zeit- und Werkvertragsarbeit faktisch eine zweite niedrigere Lohnebene in den Unternehmen einzuziehen, ist vor diesem Hintergrund fast rührend – mangels eines rationalen Kerns muss es für diese Strategie ein hohes Maß ideologischer Motivation geben.
Welche Ideen haben Sie, damit auch Arbeitnehmer und Gesellschaft von diesen Produktivitätsentwicklungen in Folge der Digitalisierung profitieren, und nicht nur die Unternehmensgewinne steigen?
Die Produktivitätsentwicklung in der Industrie ist ungleich höher als im Dienstleistungsbereich. Wobei der nächste technologische Entwicklungsschub wahrscheinlich auch zu einer enormen Rationalisierungswelle in den Verwaltungen und Dienstleistungen führen wird. Bei der Lohnentwicklung lohnt es sich jedoch, aus den verschiedensten Motiven den gesamtwirtschaftlichen Pfad nicht zu verlassen. Das heißt: Die Abstände des Lohnniveaus zwischen den einzelnen Branchen dürfen nicht zu hoch sein. Der Zusammenhalt in der Gesellschaft, die Entwicklungsfähigkeit von Verwaltungen und Diensten, Transport und Verkehr wären sonst gefährdet.
Und deutlich kürzere Arbeitszeiten?
Wären Gewerkschaften Instrumente des ökonomischen Weltgeistes, um den Alltag der Menschen zu verbessern, würde ich jetzt sagen, dass Arbeitszeitverkürzung gekoppelt mit einer Wertschöpfungssteuer das Ding wäre. Aber ich bleibe Realist.
Sind kürzere Arbeitszeiten also sinnvoll, aber nicht durchsetzbar?
Es wäre ja schon was gewonnen, wenn die Menschen nur so viel arbeiten müssten, wie sie vertraglich entlohnt bekommen. Die Arbeitgeber wollen partout keine kürzeren Arbeitszeiten, weil sie den Fachkräftemangel fürchten und glauben, diesen mit Mehrarbeit ausgleichen zu müssen. Die Kräfteverhältnisse für eine Arbeitszeitpolitik sind seit den 1980er Jahren nicht besser geworden. Sehen wir es ganz nüchtern: Es herrscht in Teilen des Landes sektorale Vollbeschäftigung. Damals haben wir dagegen versucht, Unterbeschäftigung und Entlassungsrationalisierungen zu vermeiden und die Belegschaften hoch zu halten.
Was halten Sie für realistisch, um einen Teil der Digitalisierungsdividende in die Taschen der Beschäftigten zu leiten?
Wir diskutieren bei der IG BCE in diesem Zusammenhang über die Einführung einer kurzen Vollzeitarbeit, die tariflich geregelt ist wie die reguläre Vollzeitarbeit. Das wäre eine Teilzeit zwischen 28 und 32 Arbeitsstunden in der Woche. Viele Eltern – Väter und Mütter – könnten dann regulär arbeiten und sich trotzdem ausreichend um Kinder und Familie kümmern. Die bisherige Teilzeit ist ja immer noch mit einem Fluch beladen: Sie komme einem Ausstieg aus der Karriere gleich, grenze von Weiterbildung aus und so weiter. Diese kurze Vollzeit könnten wir dagegen so regeln, dass all das ausgeschlossen wird.
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