Wirtschaft
anders denken.

Blockierte Lieferketten

14.06.2021
Viele Fahrräder, die so nicht bei Gorillas eingesetzt werden in Reih und GliedBild von Free-Photos auf PixabayGorillas-Fahrer*innen liefern auf einer Armada von Fahrrädern Supermarkt-Artikel aus

Die abrupte Entlassung eines Fahrers führt zu wilden Streiks beim Lebensmittel-Lieferdienst Gorillas. Das Geschäftsmodell scheint grundsätzlich fragwürdig.

Der derzeit schnell expandierenden Online-Lebensmittellieferdienst Gorillas wirbt mit Lieferungen innerhalb von zehn Minuten zu Supermarktpreisen und ist um ein familiäres Start-up-Image bemüht. Unter der Oberfläche brodelt es gewaltig. Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr kam es in Berlin zu Arbeitsniederlegungen bei dem millionenschweren Unternehmen.

„Ich war total überrascht von der Kündigung«, sagt Santiago. Der Argentinier hatte bis Mittwochmittag noch Lebensmittel für den Lieferdienst Gorillas am Standort Checkpoint Charlie in Mitte ausgefahren, als sogenannter Rider – so nennt man die Lieferfahrer*innen des Unternehmens. Santiago berichtet, er sei nach draußen bestellt worden, wo man ihm seine Entlassung mitgeteilt habe. Es hätte ein negatives Feedback zu seiner Arbeit gegeben. »Genaue Gründe hat man mir nicht genannt, auch wurde ich nicht vorgewarnt«, sagt der gefeuerte Kurier zu »nd«. »Ich bin eigentlich sehr zufrieden, hier zu arbeiten«, betont Santiago, der sich noch in der Probezeit befand.

Als Kolleg*innen von der Entscheidung am Mittwoch mitbekommen, solidarisieren sie sich. In zwei Lagerhäusern legen Dutzende Beschäftigte die Arbeit nieder und blockieren den Ausgang des Standorts Checkpoint Charlie an der Charlottenstraße für mehrere Stunden. »Wir wollen unseren Kollegen zurück«, erklärt Marcos Vernengo, der ebenfalls an diesem Standort arbeitet, am Mittwochabend. Die Beschäftigten machten sich Sorgen um ihre Jobs, sagt Vernengo zu »nd«: »Morgen könnte es einen anderen treffen.«

Nach und nach treffen immer mehr Unterstützer*innen und weitere streikende Rider bei der Blockade vor dem Warenlager ein, zuletzt protestieren etwa 50 Personen davor. Die überwiegend migrantischen Beschäftigten rufen lautstark: »We want Santiago back!« (Wir wollen Santiago zurückhaben!); ein Fahrer des Lieferdienstes Lieferando spricht ein kämpferisches Grußwort an die Versammelten. „Bei Lieferando fahren wir von Zuhause verschiedene Restaurants an. Da wir unter Zeitdruck arbeiten gibt es, auch wenn man sich mal im Restaurant sieht, kaum Zeit für den Austausch“ erklärt er gegenüber „nd“. Die zentralen Warenlager von Gorillas böten dagegen kollektive Räume für die politische Organisation der Beschäftigten, meint der Lieferant.

Gespräche mit einem Manager, der versucht, die aufgebrachten Rider zu beschwichtigen, verlaufen zugleich ergebnislos. Die Streikenden beschließen schließlich, dem Unternehmen eine Frist zur Entscheidung zu setzen. Als auch dies ohne Konsequenzen bleibt, brechen einige am Abend per Fahrrad zum Warenlager in der Torstraße auf. Dort angekommen, informieren sie ihre Kolleg*innen und machen sich daran, auch diesen Standort zu blockieren. Bereits ein paar Minuten zuvor seien dort allerdings keine Bestellungen mehr bearbeitet worden – offiziell sollen angeblich technische Gründe angegeben worden sein, wie Gorillas-Mitarbeiter*innen vor Ort berichten.

Auch am Donnerstag blockieren Angestellte erfolgreich ein Warenlager im Prenzlauer Berg. Längst gehen die Forderungen über die Wiedereinstellung ihres Kollegen hinaus. Besonders die bis aufs legale Maximum von sechs Monaten ausgereizte Probezeit, in denen Kündigungen leichter möglich sind, ist den Ridern – die auf ein Jahr befristet angestellt sind – ein Dorn im Auge. Für mehr Arbeitsplatzsicherheit fordern sie neben der drastischen Verkürzung der Probezeit ein Vorwarnsystem bei Kündigungen.

Unterstützung für die Streikenden gibt es auch aus der Landespolitik. Die Beschäftigten beim Lieferdienst Gorillas »zeigen gerade, wie Solidarität gemeinsam gelebt wird«, twittert Vizesenatschef und Kultursenator Klaus Lederer (Linke) am Donnerstag. »Wenn dieses Unternehmen eine Zukunft in Berlin haben möchte, dann muss es umgehend die Mindeststandards eines fairen Umgangs mit Beschäftigten beachten«, so Lederer weiter.

Am Freitag wendet sich der CEO des Unternehmens, Kağan Sümer, in einer Videoansprache an seine Angestellten. Darin rechtfertigt er die Kündigung des Fahrers und beklagt deren vermeintliche Politisierung. Sümer hält den aus seiner Sicht familiären Zusammenhalt im Unternehmen hoch und kündigt an, eine Fahrradtour zu verschiedenen Standorten in Deutschland machen zu wollen. Die Streikenden haben für diese warmen Worte wenig übrig und setzen ihre Proteste am Abend fort, diesmal mit einer Blockade des Standortes in der Muskauer Straße in Kreuzberg. In anderen Städten mit Gorillas-Standorten kommt es zu Solidaritätskundgebungen, so etwa in Düsseldorf, Stuttgart und London.

Die Konflikte um die Arbeitsbedingungen beim Liefer-Start-up schwelen schon seit Längerem. So kam es bereits im Februar zu einem wilden Streik, als Gorillas trotz eines Schneesturmes und eisiger Witterungsbedingungen zunächst unbeeindruckt weiter ausliefern ließ. Einige Beschäftigte haben sich inzwischen zum Gorillas Workers Collective (GWC) zusammengeschlossen. Dieses trifft sich regelmäßig, um sich über Arbeitsbedingungen, Arbeitnehmer*innenrechte und Möglichkeiten kollektiven Handelns auszutauschen. Auch arbeitet das GWC mit der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter*innen Union (FAU) und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zusammen und hat die Gründung eines Betriebsrates angestoßen.

In den sozialen Medien berichtet das GWC über schlechte und verspätete Bezahlungen, willkürliche Kündigungen, Rückenprobleme sowie über Versuche seitens des Managements, die Betriebsratsgründung zu torpedieren. So hätten leitende Angestellte versucht, den Versammlungsort zur Wahl des Wahlvorstandes zu betreten. Anschließend beschwerte sich das Unternehmen über Ausschlüsse von der Versammlung und zweifelte die Rechtmäßigkeit des Wahlvorgangs an.

Florin, der sich im Kollektiv engagiert, aus Furcht vor Repressalien seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will, erläutert im Gespräch mit „nd“ seine Hoffnung, dass durch einen Betriebsrat zumindest die willkürlichen Kündigungen aufhören werden. Den Expansionskurs des Unternehmens sieht er kritisch: „Sie wollen den Markt um jeden Preis monopolisieren. Das geschieht auf unserem Rücken.“ Auf Beschwerden der Angestellten werde seitens des Unternehmens kaum eingegangen, berichtet er. „Der sogenannte Rider-Support hat viel zu wenige Mitarbeiter, obwohl wir regelmäßig darauf hinweisen, dass er unterbesetzt ist“.  Zudem halte Gorillas an niedriger und zugleich ungleicher Entlohnung der Rider fest. „Ich verdiene zum Beispiel 12 Euro die Stunde. Andere Kollegen, die erst später eingestiegen sind, bekommen 10,50 Euro“. In Amsterdam würden Gorillas-Kurierfahrer*innen mittlerweile 14 Euro pro Stunde verdienen, in Berlin könne sich das Unternehmen aufgrund des stetigen Angebotes an frischen Arbeitskräften beim Lohn zurückhalten, mutmaßt der Rider. Es käme vor, dass die Transportrucksäcke, in denen die Waren transportiert werden, oft über das offizielle Maximum von 10 Kilo hinaus beladen sind. „Aber auch sonst, insbesondere bei Fahrten auf Kopfsteinpflaster führen sie zu Rückenproblemen“, erklärt Florin. „Wir wollen daher, dass wir die Rucksäcke stattdessen in Körbe laden können“.

Gorillas liefert mittlerweile bereits in fünf Ländern in Europa aus, weitere Expansionen sind geplant. In Deutschland gibt es laut Angaben auf der Website derzeit Warenlager in 18 Städten, hier liefert sich das mit über einer Milliarde Euro bewertete Start-up derzeit einen Konkurrenzkampf um die innenstädtische Expresslieferungen per Smartphone-App. Diese haben in der Coronakrise einen regelrechten Boom erlebt. Neben Gorillas liefern auch Anbieter wie Flink, der mittlerweile mit der Supermarktkette Rewe kooperiert. Daneben drängt das türkische Gorilla-Vorbild Getir auf den Markt.  Der Essenslieferdienst Lieferando hat angekündigt, sein Angebot um Lebensmittellieferungen aus Supermärkten erweitern zu wollen. Der Bringdienst Delivery Hero, welcher in Deutschland vor einigen Jahren mit Foodora und Lieferheld vertreten war, hat ebenfalls Pläne, ins Expressgeschäft in Deutschland einzusteigen. Unter dem Namen Foodpanda will man Lebensmittel innerhalb von sieben Minuten liefern – ein direkter Angriff auf das Zehn-Minuten-Versprechen von Gorillas.

Der vorliegende Text ist eine ausführlichere und aktualisierte Version eines Artikels im nd.

Geschrieben von:

Moritz Aschemeyer

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