Wirtschaft
anders denken.

Wer ist hier der Hegemon?

23.07.2021
Vor einem türkisen Hintergrund ist das dunkle Cover des Einführungsband zu Gramsci abgebildet

Die Klassenanalyse von Gramsci lädt zur Übertragung ein. Doch macht das Sinn?

Jede:r wüsste gerne, wie man gewinnt. Auf der politischen Ebene bieten marxistische Analysen dafür häufig genug einfache Schablonen. Das revolutionäre Subjekt – wie auch immer es gerade definiert wird – muss es richten. Die sogenannte „Mosaik-Linke“, also eine progressive Bewegung mit unterschiedlichen Traditionen und Kulturen, ist überflüssig, nur das Proletariat zählt.

Einen vielleicht realistischeren Blick hatte der italienische Kommunist Antonia Gramsci, zu dessen Denken jüngst ein neuer Einführungsband im Schmetterling Verlag erschienen ist. Politikwissenschaftler Johannes Bellermann gibt darin einen Überblick zum Werdegang des späteren Generalsekretärs der kommunistischen Partei Italiens und einen Einblick in die zentralen Begriffe seiner philosophischen Weiterentwicklung des Marxismus. Dazu gehört auch das Schlagwort Hegemonie, das im politischen Gedächtnis wohl am meisten mit Gramsci verbunden wird.

Die Hegemonie bietet zu dem eingangs gestellten Problem einen facettenreicheren Analyserahmen als die komplette Reduktion des gesellschaftlichen Systems auf eine Klasse. Nach Gramsci geht es eher um die Herrschaft einer Klasse in der Gesellschaft, also um ihre hegemoniale Position. Das hat immer wieder auch strategische Bedeutung: Welche Bündnisse gehen die selbsternannten oder auch legitimierten Anführer:innen der Arbeiterklasse ein? Es siegt die Einsicht, dass das Proletariat allein nicht die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten drehen kann. Bündnispartner:innen werden gebraucht. Zu Zeiten von Gramsci sind die Bauern weit vorn im Rennen um diesen Status.

Als historisches Beispiel beschreibt Bellermann die Erfolgsgeschichte der Jakobiner in Frankreich. Anders als das Bürgertum berücksichtigten sie den Dritten Stand, die Handwerker:innen und die Bauern. So konnten sie den politischen Konsens organisieren und „Hegemonie aufrechterhalten“, wie Gramsci es ausdrückt. Das Konzept der Hegemonie basiert also immer auch auf einer historisierenden Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.

Es ist jedoch mehr als das: Gramscis Verständnis von Hegemonie bewege sich zwischen „Führung“ und „Herrschaft“, so Bellermann. Ihre Ausübung ist eine Kombination von Zwang und Konsens. Ersterer soll letztere aber nicht überwiegen, ein Konsens der Mehrheit muss hergestellt werden. Dies geht nach Gramsci einher mit verschiedenen Phasen des modernen Staates. Zunächst treten Interessenunterschiede und -konflikte zwischen den Klassen auf, dann formuliert eine Gruppe eine umfassende Programmatik, um die Gesellschaft umzustrukturieren. Diese hegemoniale Idee gestaltet in der letzten Phase die Gesellschaft um, sie wird Staat – und siegt somit.

Diese Umstrukturierung muss die Wirtschaft verändern, sagt Gramsci. Es braucht eine Reorganisation der Gesellschaft, welche im Kapitalismus nach ökonomischen Kriterien strukturiert wird. Somit muss auch die politische Hegemonie ökonomischer Natur sein. So betrachtet Gramsci den Fordismus als strukturierendes Moment des frühen 20. Jahrhunderts. Mit seinem angestrebten Gleichgewicht, das die Produktion aufrechterhält und den Arbeiter nicht zerbricht, hebt er den Kapitalismus auf eine fortschrittlichere Stufe.

Die Historisierung, auf die Gramsci besteht, heißt auch, dass man Analysen, zum Beispiel zum Fordismus, nicht eins zu eins auf die heutige Lage übertragen kann. Politische Hegemonie muss heute neu erforscht werden. Dazu ist die Rede vom Neoliberalismus schon länger in den linken Sprachgebrauch eingezogen. Meist wird damit jedoch die gesellschaftliche Formation beschrieben und nicht mögliche Klassenbündnisse herausgearbeitet.

Im Angesicht der allumfassenden Flexibilisierung der Arbeitswelt trifft die Wirtschaftsweise nicht nur die klassische Arbeiter:innen, auch Angestellte, Besserverdiener:innen und Selbstständige fürchten die gesellschaftlich produzierte Unsicherheit, welche die Zeit spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts fundamental von der keynesianisch geprägten Hochzeit des Fordismus unterscheidet. Manch einer spricht von der Auflösung des Proletariats.

Die Mieter:innen-Bewegung könnte ein Beleg dafür sein und zugleich politische Hegemonie neu füllen. Keineswegs nur die klassischen Arbeiter:innen kämpfen in ihr für bezahlbares Wohnen. Student:innen können sich kein WG-Zimmer mehr leisten, das Kleingewerbe wird von großen Ketten aus ihren Läden vertrieben und sogar die eine oder der andere Besitzer:in einer Eigentumswohnung soll bei Mieten-Protesten gesichtet worden sein – ob nun aus Solidarität oder weil auch für sie das Leben in der durch-gentrifizierten Stadt weniger lebenswert wird, sei dahingestellt.

Folgt man Gramsci und seiner Theorie der Hegemonie kommt es darauf an, die führende Rolle in dieser Bewegung zu werden und politischen Konsens zu organisieren. Doch welche Bewegung sich für die progressive Umgestaltung der Gesellschaft am ehesten eignen, werden diese wohl selbst ausmachen müssen. Sich dafür einmal mit Gramsci beschäftigt zu haben, ist sicher sinnvoll.

Johannes Bellermann (2021): Gramscis politisches Denken, Schmetterling Verlag, 200 Seiten, 12 Euro.

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