Wirtschaft
anders denken.

»Grenzverwischung im Publikumsbewusstsein«: der Verfassungsschutz und sein Kapitalismus-Begriff

24.07.2018
OXI

Das Bundesamt, das dem Namen nach für den Verfassungsschutz zuständig sein soll, hat wie jedes Jahr seinen Bericht vorgelegt. Dazu wäre allerlei kritisch anzumerken, an dieser Stelle soll es nur um eine Frage gehen: Was versteht das Bundesamt eigentlich unter Kapitalismus?

In dem Bericht heißt es, »Linksextremisten« (der Extremismusbegriff wäre an sich schon eine ausführliche Beanstandung wert) würden als »ihre ideologische Grundlage« die Ablehnung des »kapitalistischen Systems als Ganzes« teilen. Die Formulierung »kapitalistisches System als Ganzes« setzt das Bundesamt in Anführungszeichen, weil er es nicht als ein solches System sehen will: »Denn der ›Kapitalismus‹ ist für Linksextremisten mehr als nur eine Wirtschaftsform.« 

Diese Konstruktion – also die Abspaltung der »Wirtschaftsform« von der gesamtgesellschaftlichen, systemischen, institutionellen, diskursiven Realität – hat ihren Grund: Das Grundgesetz, so hat es das Bundesverfassungsgericht einmal formuliert, »enthält keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung«. Das Grundgesetz normiere »auch nicht konkrete verfassungsrechtliche Grundsätze der Gestaltung des Wirtschaftslebens. Es überläßt dessen Ordnung vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden hat«.

Der Kapitalismus ist also nicht Schutzgut der Verfassung. Und die Kritik daran? Im vergangenen Dezember hat das für das Grundgesetz sozusagen zuständige Bundesinnenministerium auf eine Anfrage der Linksfraktion hin den Vorwurf zurückgewiesen, der Verfassungsschütz würde »›antikapitalistische‹ Aktivitäten grundsätzlich mit extremistischen Aktivitäten« gleichsetzen. »Das ist nicht zutreffend«, und so sei »auch die Kritik an der bestehenden Wirtschaftsordnung … grundsätzlich und per se nicht extremistisch«.

Angefügt wird vom Inlandsgeheimdienst ein Aber: »Antikapitalismus«, auch der taucht in regierungsoffizieller Diktion in Anführungszeichen auf, um ihn als »so genannten« zu markieren, sei ein Kern »linksextremistischer Aktionsfelder« und zudem einer der »feststehenden Szenebegriffe«. Und weiter: »In diesem Zusammenhang beabsichtigen Linksextremisten eine Veränderung des gesellschaftlichen und politischen Systems hin zu einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsordnung.«

Antikapitalisten sind also »Linksextremisten« weil sie Antikapitalisten sind. Man kann viel darüber streiten, was sich da hinter radikalen Gebärden wirklich an politischer Strategie verbirgt, man kann mit Ulrike Herrmann sagen, »Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung«, und also auf die Frage abstellen, wie weit »Alternativen als Ganzes« schon »im Alten« ausbuchstabiert werden müssten. Man kann die Haltung von bestimmten Linken ablehnen, sie doof finden, all ihre Kritik kritisieren.

Kapitalismuskritik gleich Diktaturwunsch

Es geht hier aber nicht darum, sondern um den Kapitalismus-Begriff einer Sicherheitsbehörde, die sich als Hüterin nicht irgendeiner, sondern der herrschenden »Ordnung« begreift. Es kommt also gerade auf die (auch begriffliche) Konstruktion dieser Ordnung an, zumal dann, wenn es um deren Kritiker und ihre Rechte geht – die der Verfassungsschutz mit dem Hinweis erledigen will, sie strebten ja ohnehin nur irgendwas mit Lenin an oder seien dadurch charakterisierbar, dass ihnen »bei aller Unterschiedlichkeit« gemein sei, dass »die freiheitliche Verfassungsordnung in ihrer Gesamtheit abgeschafft werden soll«.

Erstens kommt dem, der so spricht, offenbar nicht in den Sinn, dass es »eine Kritik, die darüber hinaus den Kapitalismus als Gesellschaftsform ansieht« geben könnte, welche grundgesetzkonform ist – es wird sofort auf die »Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Diktatur« abgestellt, auf Wege zu einem Ziel, die nur »mit Gewaltanwendung« zu erreichen sind. Unabhängig davon, was man von den Argumenten und Strategien der in dem Verfassungsschutzbericht aufgeführten Organisationen hält, wird durch die Verknüpfung von »Antikapitalismus« und »Linksextremisten« hier de facto gleich jede Idee und Anstrengung, die den Kapitalismus nicht nur als Segen begreift, mit als grundgesetzwidrig gebrandmarkt.

Man könnte zum Beispiel an den Weg denken, den der linke Staatsrechtler Wolfgang Abendroth vorzeichnete, dass nämlich aus der Kritik am Kapitalismus auch praktische Kritik wird, mithin das Grundgesetz den Rahmen bilden kann für eine Umgestaltung der Wirtschaftsordnung. Das sozialstaatliche Bekenntnis der Verfassung hielt Abendroth nicht bloß für einen Rechtsbegriff, sondern für eine Grundentscheidung, die eine demokratische und soziale Wirtschaftsordnung ermöglicht. Zwischen Demokratie und dem Sozialstaatspostulat sah Abendroth einen unauflösbaren Zusammenhang, den zu garantieren es nötig sein würde, auch die Wirtschaftsordnung umzugestalten, so dass in dieser das gesellschaftliche Interesse zum Maßstab wird. Wäre das noch Kapitalismus?

Das Bundesamt liest keine Bücher – oder die falschen

Zweitens ein Wort zu der aberwitzigen Unterscheidung zwischen »Kapitalismus als Wirtschaftssystem« und »Kapitalismus als Gesellschaftsform«. Als ob die Ökonomie in einem eigenen, von der Gesellschaft abgetrennten Raum existieren würde! Für das Bundesamt ist es genau so, es schreibt: »Der ›Kapitalismus‹ ist für Linksextremisten somit mehr als eine bloße Wirtschaftsordnung. Im linksextremistischen Diskurs bestimmt er die soziale und politische Form sowie die Vision einer radikalen gesellschaftlichen und politischen Neuordnung.« 

Für Linksextremisten? Nun, man könnte sagen, das es sich eigentlich um wissenschaftlichen Common Sense handelt. Wenn das Bundesamt also schreibt, es verwende »in seinen Publikationen Begriffe, die im allgemeinen Sprachgebrauch u. a. durch die Politikwissenschaft und das Staatsrecht entwickelt und definiert worden sind«, kann das nur heißen, dass man in eben diesem Bundesamt keine Bücher liest – oder die falschen. 

Als alternativer Kronzeuge sei hier beispielhaft auf den großen Sozialhistoriker Jürgen Kocka verwiesen, der sicher nicht als »Linksextremist« durchgehen würde. In seiner »Geschichte des Kapitalismus« schreibt Kocka unter anderem, Kapitalismus sei »ein umstrittener Begriff«. Er »entstand aus dem Geist der Kritik und der Perspektive des Vergleichs. Gewöhnlich verwendete man ihn, um Beobachtungen der eigenen Zeit zu beschreiben, die man in betonter Absetzung von früheren Verhältnissen als neu und modern begriff. Oder man verwendete ihn, um die Gegenwart mit der vorgestellten Idee und dann mit den beobachtbaren Anfängen des Sozialismus zu konfrontieren.«

Kocka schreitet dann kurz die wichtigsten Definitionen des Kapitalismus bei Karl Marx, Max Weber, Joseph Schumpeter und anderer ab. Zum französischen Historiker Fernand Paul Braudel schreibt er, dieser mache »zu Recht darauf aufmerksam, dass über lange Zeiträume hinweg die Verflechtung von Marktmacht und politischer Macht viel mehr die Regel gewesen ist als ihre säuberliche Trennung«. 

Der systemisch-ausgreifende Charakter

Und weiter heißt es: »Die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Beschäftigern und Beschäftigten ist einerseits eine Tauschbeziehung nach Marktprinzipien, andererseits ein asymmetrisches Herrschaftsverhältnis – mit vielfältigen sozialen Voraussetzungen und Folgen.« Man könne deshalb auch von einem »kapitalistischen System« sprechen, wenn »kapitalistische Prinzipien eine gewisse Dominanz besitzen. Damit ist nicht nur die Dominanz als Regelungsmechanismus innerhalb der Wirtschaft gemeint (diese auch), sondern auch die Tendenz kapitalistischer Prinzipien, über die Wirtschaft hinaus in andere gesellschaftliche Bereiche auszugreifen und diese mehr oder weniger zu prägen«. Der systemisch-ausgreifende Charakter des Kapitalismus über den wirtschaftlichen Bereich hinaus könne sich dabei »in sehr unterschiedlichen Graden und Formen äußern«. 

Kocka nennt es ausdrücklich falsch, »Markt und Staat ausschließlich als Antipoden zu begreifen«. Zwar gehöre »eine gewisse institutionelle Ausdifferenzierung zwischen Markt und Staat, Wirtschaft und staatlicher Politik zu den Voraussetzungen jeglicher Form von Kapitalismus«. Zugleich aber sei »die enge Verbindung von Markt und Staat, von Wirtschaft und staatlicher Politik in wechselnden Formen historisch die Regel gewesen«. Es gebe »Gründe, die erklären, warum staatliche Interventionen für die Entstehung, den Ausbau und das Überleben des Kapitalismus unabdingbar waren und sind – und im Zeitverlauf eher wichtiger werden«: Zum Beispiel, dass Märkte, die kapitalistisches Handeln allererst möglich machen«, Rahmenbedingungen voraussetzen, »die nur mit politischen Mitteln hergestellt werden können«. 

Hier ist zumindest ein Teil dieses »kapitalistischen System als Ganzes«, von dem der Bundesverfassungsschutz meint, wer so denke, sei ein Linksextremist – weil ihm klar ist, dass die »nur« auf die »Wirtschaftsform« gerichtete Kritik an der Produktionsweise und ihren Folgen gar nicht die Aufnahme in so ein Dossier erlauben würde. Deshalb muss in dem Verfassungsschutzbericht als Irrtum hingestellt werden, dass der Kapitalismus »verantwortlich für alle gesellschaftlichen und politischen Missstände wie soziale Ungerechtigkeit, Zerstörung von Wohnraum, Kriege, Rechtsextremismus und Rassismus sowie für Umweltkatastrophen« verantwortlich ist.

Monopolistische Staats-Ideologie

Ist es so einfach? Vielleicht nicht. Aber es ist eben auch keineswegs falsch. Noch einmal Jürgen Kocka: »Der Kapitalismus lebt von seiner sozialen, kulturellen und politischen Einbettung, so sehr er sie gleichzeitig bedroht und zersetzt.« Das Bundesamt hingegen meint, die Denkweise von Linksextremisten »erschwert es ihnen, die Wirklichkeit in ihrer Differenziertheit wahrzunehmen«. Und wenn auch so ein »Argument« nicht hilft, behauptet man eben, dass es diesen »Linksextremisten« gar nicht darum gehe, »konkrete gesellschaftliche Probleme zu lösen. Vielmehr versuchen sie, gesellschaftliche Konflikte im Sinne ihrer revolutionären Ziele zu instrumentalisieren«. 

Zuletzt noch eine kleine Erinnerung. Der Verfassungsrechtler Helmut Ridder hat in dem leider inzwischen nicht mehr aufgelegten »Alternativkommentar« zum Grundgesetz einmal geschrieben, »der reale, zum Staatsschutz umkippende ›Verfassungsschutz‹ der BRD bekämpft ›verfassungsfeindliche‹ Ideologien; seine eigene Ideologie macht er dabei zur monopolistischen Staats-Ideologie.« Die Tätigkeit des Verfassungsschutzes bestehe unter anderem darin, »in Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Stellen ein ausgedehntes gesellschaftliches Feld legaler, sogar grundgesetzlich geschützter politischer Betätigung jedenfalls wie eine polizeilich relevante Bedrohung der ›Sicherheit‹ erscheinen zu lassen«. Die »entsprechende Grenzverwischung im Publikumsbewusstsein wird seit langem systematisch durch die regelmäßige Veröffentlichung von ›Verfassungsschutzberichten‹ gefördert, in denen legale und illegale  politische Aktionsformen nebeneinander als Unterfälle ›verfassungsfeindlicher‹ Betätigung aufgeführt werden.« 

Das ist es, worum es beim Kapitalismus-Begriff des Bundesamtes geht: Irgendwas wird schon hängen bleiben.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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