Griechenland: Brief fordert Wende in der Krisenpolitik
Kritische Intellektuelle und linke Politiker appellieren an führende EU-Regierungschefs: Ändert die Politik gegenüber der SYRIZA-geführten Regierung in Griechenland. Konkret wird verlangt: Kreditraten pünktlich auszahlen, keine neuen Kürzungsauflagen, zusätzliche humanitäre Hilfen und eine Umstrukturierung der Schulden noch in diesem Jahr.
Wie geht es mit der Krisenpolitik in Europa weiter? Wird der verhängnisvolle Kurs der Kürzungsdiktate gegenüber Griechenland und anderen Staaten fortgesetzt? Oder gibt es eine Chance, aus dem Kreislauf von Austerität, ökonomischer Auszehrung und Schuldenbergen auszubrechen? Letzteres fordern nun zahlreiche kritische Intellektuelle und linke Politiker in einem Offenen Brief an führende Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union.
In dem Schreiben an David Cameron, François Hollande, Angela Merkel und Matteo Renzi wird verlangt, an die Regierung in Athen »alle bisher vereinbarten Raten der Kreditgewährung an Griechenland plangemäß zur Sicherstellung des Schuldendienstes« auszuzahlen und »keine Forderungen nach neuen Sparauflagen mehr« zu erheben. Zudem solle »Griechenland zusätzliche Finanzhilfen zur Bewältigung der humanitären Krise der eigenen Bevölkerung und der Geflüchteten« erhalten. Nicht zuletzt soll »noch in diesem Jahr eine Umstrukturierung der griechischen Schulden in eine für das Land erträgliche Form« eingeleitet werden. Dies könne über langfristige Schuldpapiere mit niedriger Verzinsung geschehen. Die Unterzeichner setzen sich darüber hinaus dafür ein, die »überzogenen Vorgaben an die kurz-und langfristigen Haushaltsziele abzusenken«.
Hintergrund: Am Montag kommen die Finanzminister der 19 Euro-Staaten zusammen. Das Thema Griechenland steht einmal mehr auf der Tagesordnung – die SYRIZA-geführte Regierung muss umstrittene Kürzungsauflagen umsetzen, im Gegenzug läuft das inzwischen dritte Kreditprogramm für das Land. Allerdings gibt es schwere Zerwürfnisse über zusätzliche Kürzungsforderungen, die vor allem in Berlin erhoben werden. Zudem ist der Streit um rasche Schuldenerleichterungen auch zwischen den europäischen Gläubigern und dem Internationalen Währungsfonds voll entbrannt. Mit ihrem Offenen Brief appellieren nun Dutzende Politiker, Abgeordnete, Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschafter, endlich eine Wende in der Krisenpolitik »gegenüber den verantwortlichen Institutionen der EU und den die Verhandlungen mit Griechenland Führenden« durchzusetzen.
Zu den Erstunterzeichnern gehören neben dem deutschen Ökonomen Elmar Altvater, dem französischen Philosophen Etiénne Balibar und dem Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Bieling auch die SPD-Politikerinnen Gesine Schwan und Andrea Ypsilanti, die Linken-Abgeordneten Gabi Zimmer und Axel Troost. Initiiert wurde die Intervention von Judith Dellheim und Frieder Otto Wolf, inzwischen haben sich zahlreiche namhafte Wissenschaftler dem Appell angeschlossen, darunter auch der Chef des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Gustav Horn, der US-Historiker Immanuel Wallerstein und Hans-Jürgen Urban von der IG Metall.
oxiblog.de dokumentiert den Offenen Brief und die Liste der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner (bis 7. Mai)
Offener Brief
An die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die an dem „Kleinen Gipfel“ mit Barack Obama teilgenommen haben: David Cameron, François Hollande, Angela Merkel und Matteo Renzi.
Sehr geehrte Dame, sehr geehrte Herren,
aufgrund Ihrer herausgehobenen Rolle in der europäischen Politik wenden wir uns an Sie in einer äußerst dringlichen Angelegenheit: Es geht darum, das Ersticken Griechenlands und seiner demokratisch gewählten Regierung unter dem Druck ständiger Schuldendienstnachforderungen der Verhandlungspartner zu verhindern.
Die desaströse humanitäre Situation in Griechenland ist seit langem bekannt. Dazu kommen die außergewöhnlichen Lasten, welche die Griechische Bevölkerung mit der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten trägt. In dieser Situation braucht Griechenland wirkliche Unterstützung seiner europäischen Nachbarn und keine zusätzlichen Sparauflagen. Die Zeit drängt: Damit überhaupt noch eine Politik der Krisenbewältigung in Griechenland betrieben werden kann, sind unverzügliche Schritte unabdingbar. Sie haben es in Ihren Händen, den Zusammenbruch politischer Handlungsfähigkeit in Griechenland zu verhindern.
Angesichts der geschilderten Probleme braucht Griechenland kurzfristig zusätzliche Finanzmittel. Zugleich soll eine Abkehr von der Griechenland aufgezwungenen Krisenstrategie erfolgen. Wie die vorangegangenen Programme gleicht das dritte Hilfsprogramm einer Rosskur, die weder Griechenland noch den Gläubigern nutzt. Besonders schädlich sind die im dritten Hilfspaket enthaltenen überzogenen Anforderungen an die kurz- und mittelfristigen Haushaltsziele, die sich an einem zu erzielenden Primärüberschuss von 3,5% der griechischen Wirtschaftsleistung ab 2018 festmachen. Nach Jahren der Entbehrung und des wirtschaftlichen Zusammenbrechens jetzt weitere Sparanstrengungen zu fordern ist politisch realitätsblind, ökonomisch nicht gerechtfertigt und der griechischen Bevölkerung nicht zuzumuten.
Wir fordern Sie daher auf, gegenüber den verantwortlichen Institutionen der EU und den die Verhandlungen mit Griechenland Führenden durchzusetzen,
(1) dass alle bisher vereinbarten Raten der Kreditgewährung an Griechenland plangemäß zur Sicherstellung des Schuldendienstes ausgezahlt werden und keine Forderungen nach neuen Sparauflagen mehr erhoben werden,
(2) dass Griechenland zusätzliche Finanzhilfen zur Bewältigung der humanitären Krise der eigenen Bevölkerung und der Geflüchteten in Griechenland erhält,
sowie
(3) dass noch in diesem Jahr eine Umstrukturierung der griechischen Schulden in eine für das Land erträgliche Form (langfristige Schuldpapiere mit niedriger Verzinsung) eingeleitet wird. Bei der zugrundeliegenden Beurteilung der Schuldentragfähigkeit sind die überzogenen Vorgaben an die kurz-und langfristigen Haushaltsziele abzusenken.
Hochachtungsvoll
Nicola Acocella, Roma, Italia, economist
Elmar Altvater, Berlin, Germany, political economist, member of the scientific council of ATTAC-Germany
Antoine Artous, Paris, France, political scientist
Étienne Balibar, Paris, France, philosopher
Thomas Barth, Ilmmünster/München, Germany, sociologist
Rudolph Bauer, Bremen, Germany, sociologist, publicist
Seyla Benhabib, Yale, USA, philosopher, political scientist
Stefan Bestmann, Berlin, Germany, social research
Jacques Bidet, Paris, France, philosopher
Hans-Jürgen Bieling, Tübingen, Germany, political scientist
Gretchen Binus, Berlin, Germany, economist
Joachim Bischoff, Hamburg, Germany, sociologist and journalist
Heinz – J. Bontrup, Gelsenkirchen, Germany, Wirtschaftswissenschaftler
Andreas.Botsch, Berlin, Germany, economist
Miriam Boyer, Berlin, Germany, sociologist, social scientist
Reiner Braun, Berlin, Germany, Co-President of the International Peace Bureau (IPB)
Michael Brie, Schöneiche, Germany, philosopher
Andrea Brock, Hürth, Germany, international relations
Susan Buck-Morss, New York, USA, philosopher, intellectual historian
Judith Butler, Berkely, Calif., USA, philosopher
Claude Calame, Paris, France, social anthropologist
Mario Candeias, Berlin, Germany, political scientist
Patrice Cohen-Séat, Paris, France, lawyer, honorary president of Espaces-Marx
Laurence Cox, Dublin, Eire, sociologist
Alexis Cukier, Strasbourg, France, philosopher
Rolf Czeskleba-Dupont, Hvalsø, Danmark, geographer
Bo Dahlqvist, Waterloo, Belgium, student
Georgios Daremas, Athens, Hellas, member of the Executive Committee of Attac-Hellas
Nick Dearden, London, Great Britain, campaigner, director of a democratic justice organisation
Judith Dellheim, Berlin, Germany, political economist
Andreas Diers, Bremen, Germany, historian
Stéphane Douailler, Paris, France, philosopher
Sebastian Dullien, Berlin, Germany, economist
Rolf Eckart, München, Germany, social activist
Roland Erne, Dublin, Eire, Senior Lecturer, School of Business, University College Dublin
Trevor Evans, Berlin, Germany, economist
Michael Ewert, München, Germany, Germanist
Jean Louis Fabiani, Budapest, Magyar Hungary, sociologist / social anthropologist
Karl Fischbacher, Wien, Austria, Labournet-Austria
Nancy Fraser, New York, USA, critical theorist,
Hans-Peter Gase, München, Germany, member of “Sozialforum München”
Dorothea Härlin, Berlin, Germany, member of „Berliner Wassertisch“
Peter Herrmann, Roma, Italia, social scientist
Gustav Horn, Düsseldorf, Germany, economist
Claus-Dieter König, Brussel/Bruxelles, Belgium, director of the Brussels office of a foundation
Joachim Klein, Offenbach, Germany, political theory and philosophy
Jürgen Klute, Herne, Ex-MEP, Germany
Sudhir Kumar, Chennai, India, architect
Jeremy Leaman, Loughborough, Great Britain, European Political Economy
Steffen Lehndorff, Duisburg, Germany, social researcher
Jürgen Leibiger, Radebeul, Germany, economist
Brian Leslie, Tunbridge Wells, Great Britain, economist
Jakic Ljubomir, Bruxelles, Belgium, journalist
Camille Louis, Paris, France, philosopher and dramaturgist
Alberto Martínez Sánchez, Valencia, Spain, Vicepresident of ATTAC in the Valencia Region
Angie Mathieu, Paris, France, student/squatter
Sandro Mezzadra, Bologna, Italy, political theorist
Hans Misselwitz, Berlin, Germany
Margret Moenig-Raane, Berlin, Germany, former services trade union leader
Kalypso Nicolaïdis, Oxford, Great Britain, international relations
Norman Paech, Hamburg, Germany, jurist
Dagmar Paternoga, Bonn, Germany, Council Member of ATTAC Germany
Helmut Penschinski, Wuppertal, Germany, economist
Bruce Robbins, New York, NY, USA, English and Comparative Literature
Michelle Riot-Sarcey, Paris, France, historian
Thomas Sablowski, Frankfurt a.M., Germany,political scientist
Pierre Salama, Paris, France, Latin-American studies
Thomas Sauer, Jena, Germany, economist
Patrick Saurin, Paris, France, Spokesperson for the French Union Sud Solidaires BPCE
Gesine Schwan, Berlin, Germany, political scientist
Mechthild Schrooten, Bremen, Germany, economist
Ingo Schulze, Berlin, Germany, writer
Ursel Schumm-Garling, Berlin, Germany, sociologist
Lynne Segal, London, Great Britain, psycho-social Studies
Jai Sen, New Delhi, India, Director of CACIM – India Institute for Critical Action: Centre in Movement
Francis Sitel, ###, France, political analyst
Boaventura de Sousa Santos, Coimbra, Portugal, social scientist
Dieter Spöri, Berlin, Germany, former minister of economics
Elsa Stamatopoulos, New York, NY, USA, jurist, anthropologist
Roland Süß, Birkenau, Germany, member of council of Attac-Germany
Rolf Sukowski, Berlin, Germany, chair of OWUS e.V.
Barbara Spinelli, MdEP, Roma, Italia
Axel Troost, MdB, Leipzig, Germany, economist
Hans-Jürgen Urban, Frankfurt a. M., Germany, Board of the Metalworkers’ Union
Marie-Dominique Vernhes, Hamburg, Germany
Lode Vanoost, Sint-Genesius-Rode, Belgium, former Deputy Speaker of the Belgian House of Representatives
Guido Viale, Milano, Italia, economist
Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a D, Berlin
Immanuel Wallerstein, New Haven, Conecticut, USA, social scientist and social historian
Angela Wigger, Nijmegen, Nederlands, international political economist
Ulrich Wilken, MdL, Germany, Frankfurt a. M.
Frieder Otto Wolf, Berlin, Ex-MEP, Germany, philosopher
Harald Wolf, MdA, Berlin, Germany
Andrea Ypsilanti, MdL, Frankfurt am Main, Germany
Gabi Zimmer, MdEP, Werder, Germany, group president
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