Wirtschaft
anders denken.

Griechenland: Brief fordert Wende in der Krisenpolitik

08.05.2016
Die EU-Fahne wird neben der griechischen entrollt.Foto: DPA/ALEXANDROS VLACHOSWie geht es mit Griechenland weiter? Ein Umdenken wird gefordert.

Kritische Intellektuelle und linke Politiker appellieren an führende EU-Regierungschefs: Ändert die Politik gegenüber der SYRIZA-geführten Regierung in Griechenland. Konkret wird verlangt: Kreditraten pünktlich auszahlen, keine neuen Kürzungsauflagen, zusätzliche humanitäre Hilfen und eine Umstrukturierung der Schulden noch in diesem Jahr.

Wie geht es mit der Krisenpolitik in Europa weiter? Wird der verhängnisvolle Kurs der Kürzungsdiktate gegenüber Griechenland und anderen Staaten fortgesetzt? Oder gibt es eine Chance, aus dem Kreislauf von Austerität, ökonomischer Auszehrung und Schuldenbergen auszubrechen? Letzteres fordern nun zahlreiche kritische Intellektuelle und linke Politiker in einem Offenen Brief an führende Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union.

In dem Schreiben an David Cameron, François Hollande, Angela Merkel und Matteo Renzi wird verlangt, an die Regierung in Athen »alle bisher vereinbarten Raten der Kreditgewährung an Griechenland plangemäß zur Sicherstellung des Schuldendienstes« auszuzahlen und »keine Forderungen nach neuen Sparauflagen mehr« zu erheben. Zudem solle »Griechenland zusätzliche Finanzhilfen zur Bewältigung der humanitären Krise der eigenen Bevölkerung und der Geflüchteten« erhalten. Nicht zuletzt soll »noch in diesem Jahr eine Umstrukturierung der griechischen Schulden in eine für das Land erträgliche Form« eingeleitet werden. Dies könne über langfristige Schuldpapiere mit niedriger Verzinsung geschehen. Die Unterzeichner setzen sich darüber hinaus dafür ein, die »überzogenen Vorgaben an die kurz-und langfristigen Haushaltsziele abzusenken«.

Hintergrund: Am Montag kommen die Finanzminister der 19 Euro-Staaten zusammen. Das Thema Griechenland steht einmal mehr auf der Tagesordnung – die SYRIZA-geführte Regierung muss umstrittene Kürzungsauflagen umsetzen, im Gegenzug läuft das inzwischen dritte Kreditprogramm für das Land. Allerdings gibt es schwere Zerwürfnisse über zusätzliche Kürzungsforderungen, die vor allem in Berlin erhoben werden. Zudem ist der Streit um rasche Schuldenerleichterungen auch zwischen den europäischen Gläubigern und dem Internationalen Währungsfonds voll entbrannt. Mit ihrem Offenen Brief appellieren nun Dutzende Politiker, Abgeordnete, Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschafter, endlich eine Wende in der Krisenpolitik »gegenüber den verantwortlichen Institutionen der EU und den die Verhandlungen mit Griechenland Führenden« durchzusetzen.

Zu den Erstunterzeichnern gehören neben dem deutschen Ökonomen Elmar Altvater, dem französischen Philosophen Etiénne Balibar und dem Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Bieling auch die SPD-Politikerinnen Gesine Schwan und Andrea Ypsilanti, die Linken-Abgeordneten Gabi Zimmer und Axel Troost. Initiiert wurde die Intervention von Judith Dellheim und Frieder Otto Wolf, inzwischen haben sich zahlreiche namhafte Wissenschaftler dem Appell angeschlossen, darunter auch der Chef des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Gustav Horn, der US-Historiker Immanuel Wallerstein und Hans-Jürgen Urban von der IG Metall.

oxiblog.de dokumentiert den Offenen Brief und die Liste der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner (bis 7. Mai)

Offener Brief

An die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die an dem „Kleinen Gipfel“ mit Barack Obama teilgenommen haben: David Cameron, François Hollande, Angela Merkel und Matteo Renzi.

Sehr geehrte Dame, sehr geehrte Herren,

aufgrund Ihrer herausgehobenen Rolle in der europäischen Politik wenden wir uns an Sie in einer äußerst dringlichen Angelegenheit: Es geht darum, das Ersticken Griechenlands und seiner demokratisch gewählten Regierung unter dem Druck ständiger Schuldendienstnachforderungen der Verhandlungspartner zu verhindern.

Die desaströse humanitäre Situation in Griechenland ist seit langem bekannt. Dazu kommen die außergewöhnlichen Lasten, welche die Griechische Bevölkerung mit der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten trägt. In dieser Situation braucht Griechenland wirkliche Unterstützung seiner europäischen Nachbarn und keine zusätzlichen Sparauflagen. Die Zeit drängt: Damit überhaupt noch eine Politik der Krisenbewältigung in Griechenland betrieben werden kann, sind unverzügliche Schritte unabdingbar. Sie haben es in Ihren Händen, den Zusammenbruch politischer Handlungsfähigkeit in Griechenland zu verhindern.

Angesichts der geschilderten Probleme braucht Griechenland kurzfristig zusätzliche Finanzmittel. Zugleich soll eine Abkehr von der Griechenland aufgezwungenen Krisenstrategie erfolgen. Wie die vorangegangenen Programme gleicht das dritte Hilfsprogramm einer Rosskur, die weder Griechenland noch den Gläubigern nutzt. Besonders schädlich sind die im dritten Hilfspaket enthaltenen überzogenen Anforderungen an die kurz- und mittelfristigen Haushaltsziele, die sich an einem zu erzielenden Primärüberschuss von 3,5% der griechischen Wirtschaftsleistung ab 2018 festmachen. Nach Jahren der Entbehrung und des wirtschaftlichen Zusammenbrechens jetzt weitere Sparanstrengungen zu fordern ist politisch realitätsblind, ökonomisch nicht gerechtfertigt und der griechischen Bevölkerung nicht zuzumuten.

Wir fordern Sie daher auf, gegenüber den verantwortlichen Institutionen der EU und den die Verhandlungen mit Griechenland Führenden durchzusetzen,

(1) dass alle bisher vereinbarten Raten der Kreditgewährung an Griechenland plangemäß zur Sicherstellung des Schuldendienstes ausgezahlt werden und keine Forderungen nach neuen Sparauflagen mehr erhoben werden,

(2) dass Griechenland zusätzliche Finanzhilfen zur Bewältigung der humanitären Krise der eigenen Bevölkerung und der Geflüchteten in Griechenland erhält,

sowie

(3) dass noch in diesem Jahr eine Umstrukturierung der griechischen Schulden in eine für das Land erträgliche Form (langfristige Schuldpapiere mit niedriger Verzinsung) eingeleitet wird. Bei der zugrundeliegenden Beurteilung der Schuldentragfähigkeit sind die überzogenen Vorgaben an die kurz-und langfristigen Haushaltsziele abzusenken.

Hochachtungsvoll

Nicola Acocella, Roma, Italia, economist

Elmar Altvater, Berlin, Germany, political economist, member of the scientific council of ATTAC-Germany

Antoine Artous, Paris, France, political scientist

Étienne Balibar, Paris, France, philosopher

Thomas Barth, Ilmmünster/München, Germany, sociologist

Rudolph Bauer, Bremen, Germany, sociologist, publicist

Seyla Benhabib, Yale, USA, philosopher, political scientist

Stefan Bestmann, Berlin, Germany, social research

Jacques Bidet, Paris, France, philosopher

Hans-Jürgen Bieling, Tübingen, Germany, political scientist

Gretchen Binus, Berlin, Germany, economist

Joachim Bischoff, Hamburg, Germany, sociologist and journalist

Heinz – J. Bontrup, Gelsenkirchen, Germany, Wirtschaftswissenschaftler

Andreas.Botsch, Berlin, Germany, economist

Miriam Boyer, Berlin, Germany, sociologist, social scientist

Reiner Braun, Berlin, Germany, Co-President of the International Peace Bureau (IPB)

Michael Brie, Schöneiche, Germany, philosopher

Andrea Brock, Hürth, Germany, international relations

Susan Buck-Morss, New York, USA, philosopher, intellectual historian

Judith Butler, Berkely, Calif., USA, philosopher

Claude Calame, Paris, France, social anthropologist

Mario Candeias, Berlin, Germany, political scientist

Patrice Cohen-Séat, Paris, France, lawyer, honorary president of Espaces-Marx

Laurence Cox, Dublin, Eire, sociologist

Alexis Cukier, Strasbourg, France, philosopher

Rolf Czeskleba-Dupont, Hvalsø, Danmark, geographer

Bo Dahlqvist, Waterloo, Belgium, student

Georgios Daremas, Athens, Hellas, member of the Executive Committee of Attac-Hellas

Nick Dearden, London, Great Britain, campaigner, director of a democratic justice organisation

Judith Dellheim, Berlin, Germany, political economist

Andreas Diers, Bremen, Germany, historian

Stéphane Douailler, Paris, France, philosopher

Sebastian Dullien, Berlin, Germany, economist

Rolf Eckart, München, Germany, social activist

Roland Erne, Dublin, Eire, Senior Lecturer, School of Business, University College Dublin

Trevor Evans, Berlin, Germany, economist

Michael Ewert, München, Germany, Germanist

Jean Louis Fabiani, Budapest, Magyar Hungary, sociologist / social anthropologist

Karl Fischbacher, Wien, Austria, Labournet-Austria

Nancy Fraser, New York, USA, critical theorist,

Hans-Peter Gase, München, Germany, member of “Sozialforum München”

Dorothea Härlin, Berlin, Germany, member of „Berliner Wassertisch“

Peter Herrmann, Roma, Italia, social scientist

Gustav Horn, Düsseldorf, Germany, economist

Claus-Dieter König, Brussel/Bruxelles, Belgium, director of the Brussels office of a foundation

Joachim Klein, Offenbach, Germany, political theory and philosophy

Jürgen Klute, Herne, Ex-MEP, Germany

Sudhir Kumar, Chennai, India, architect

Jeremy Leaman, Loughborough, Great Britain, European Political Economy

Steffen Lehndorff, Duisburg, Germany, social researcher

Jürgen Leibiger, Radebeul, Germany, economist

Brian Leslie, Tunbridge Wells, Great Britain, economist

Jakic Ljubomir, Bruxelles, Belgium, journalist

Camille Louis, Paris, France, philosopher and dramaturgist

Alberto Martínez Sánchez, Valencia, Spain, Vicepresident of ATTAC in the Valencia Region

Angie Mathieu, Paris, France, student/squatter

Sandro Mezzadra, Bologna, Italy, political theorist

Hans Misselwitz, Berlin, Germany

Margret Moenig-Raane, Berlin, Germany, former services trade union leader

Kalypso Nicolaïdis, Oxford, Great Britain, international relations

Norman Paech, Hamburg, Germany, jurist

Dagmar Paternoga, Bonn, Germany, Council Member of ATTAC Germany

Helmut Penschinski, Wuppertal, Germany, economist

Bruce Robbins, New York, NY, USA, English and Comparative Literature

Michelle Riot-Sarcey, Paris, France, historian

Thomas Sablowski, Frankfurt a.M., Germany,political scientist

Pierre Salama, Paris, France, Latin-American studies

Thomas Sauer, Jena, Germany, economist

Patrick Saurin, Paris, France, Spokesperson for the French Union Sud Solidaires BPCE

Gesine Schwan, Berlin, Germany, political scientist

Mechthild Schrooten, Bremen, Germany, economist

Ingo Schulze, Berlin, Germany, writer

Ursel Schumm-Garling, Berlin, Germany, sociologist

Lynne Segal, London, Great Britain, psycho-social Studies

Jai Sen, New Delhi, India, Director of CACIM – India Institute for Critical Action: Centre in Movement

Francis Sitel, ###, France, political analyst

Boaventura de Sousa Santos, Coimbra, Portugal, social scientist

Dieter Spöri, Berlin, Germany, former minister of economics

Elsa Stamatopoulos, New York, NY, USA, jurist, anthropologist

Roland Süß, Birkenau, Germany, member of council of Attac-Germany

Rolf Sukowski, Berlin, Germany, chair of OWUS e.V.

Barbara Spinelli, MdEP, Roma, Italia

Axel Troost, MdB, Leipzig, Germany, economist

Hans-Jürgen Urban, Frankfurt a. M., Germany, Board of the Metalworkers’ Union

Marie-Dominique Vernhes, Hamburg, Germany

Lode Vanoost, Sint-Genesius-Rode, Belgium, former Deputy Speaker of the Belgian House of Representatives

Guido Viale, Milano, Italia, economist

Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a D, Berlin

Immanuel Wallerstein, New Haven, Conecticut, USA, social scientist and social historian

Angela Wigger, Nijmegen, Nederlands, international political economist

Ulrich Wilken, MdL, Germany, Frankfurt a. M.

Frieder Otto Wolf, Berlin, Ex-MEP, Germany, philosopher

Harald Wolf, MdA, Berlin, Germany

Andrea Ypsilanti, MdL, Frankfurt am Main, Germany

Gabi Zimmer, MdEP, Werder, Germany, group president

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