Im nach rechts verschobenen Raum: Die Lage zu Beginn der Sondierung Nummer 2
Regieren und opponieren – aber wohin? Zwischen dem parteipolitischen Agieren und den gesellschaftlichen Herausforderungen klafft eine enorme Lücke. Der Stand im »bürgerlichen« und im »progressiven« Lager vor der Sondierung Nummer 2.
Am Sonntag treffen sich Spitzenvertreter von CDU, CSU und SPD, um zu sondieren, ob über eine Große Koalition verhandelt werden soll, die gar nicht so groß ist. Der Druck ist einigermaßen groß: Erstens, weil der Versuch, ein Jamaika-Bündnis zu stemmen, an der FDP gescheitert ist. Zweitens, weil immer öfter der Ruf nach einer »stabilen Regierung« erschallt, mal mit außenpolitischen Argumenten garniert, mal mit solchen der staatspolitischen Ordnung im Inneren.
Die nun an der »Sondierung II« beteiligten drei Parteien belegen ihre Rollen bisher erwartungsgemäß: Die CSU, nicht zuletzt die Landtagswahl in Bayern im Herbst im Blick, agiert als Rechtsaußenspieler mit Vetomacht, der vor allem mirgationspolitische Fragen zur Bedingung macht und dabei auch das Wirkungsfeld der rechtsradikalen AfD im Auge hat. Deren Strategie des Tabubruchs und der Verschiebung des Raumes der politischen Möglichkeiten nach rechts wirkt auch auf CDU und SPD.
Ohnehin könnten Fragen die Sondierungen bestimmen, die bei aller Symbolkraft nur eine gesamtgesellschaftlich untergeordnete Rolle spielen, wie etwa der Familiennachzug. In der CDU hat sich nach dem Jamaika-Aus zudem die Frage der Zukunft von Angela Merkel zu einem stärkeren Moment hinter den Kulissen ausgewachsen. Die SPD wiederum blickt auf noch weiter sinkende Umfragewerte, spricht daher von Erneuerung, wobei unklar ist, wohin diese führen kann. Eine große Zahl von SPD-Politikern möchte die Koalition mit den beiden C-Parteien eher vermeiden.
Schaukämpfe und das rechte Themensetting
Zwischen dem parteipolitischen Agieren, das von Gesetzmäßigkeiten des Medienbetriebs sowie von parteiinternen Normativen mitbestimmt ist, und den gesellschaftlichen Herausforderungen klafft eine enorme Lücke. Während sich viele rhetorische Schaukämpfe mit einer der Öffentlichkeit eher aufgezwungenen Tagesordnung befassen, in der »kriminelle Migranten«, Fragen der Inneren Sicherheit und andere populismusaffine Themen ganz vorn stehen, schwingen die sozial-ökonomischen, ökologischen und globalen Herausforderungen vor allem im Hintergrund. Hier und da treten sie in Form von Schlagworten auf die Vorderbühne.
Die »Frankfurter Allgemein Sonntagszeitung« beschreibt das eher kümmerliche Ideenfeld so: »Eine eventuelle Koalition soll nach dem Wunsch der Beteiligten Elemente von Veränderung und Modernisierung aufweisen, um sie von ihrer zuletzt zäh laufenden Vorgängerin abzusetzen. Zur Debatte stehen dabei einige Milliardenprojekte ebenso wie das eine oder andere neue Ministerium, etwa eines für den ländlichen Raum oder eines für Digitalisierung. In der Union werden zudem der Wegfall des Solidaritätszuschlags, höhere Mütterrenten, eine steuerliche Entlastung von Unternehmen und höhere Verteidigungsausgaben erstrebt. Kernforderungen der CSU beziehen sich auf die Ausländerpolitik. Sie will Asylbewerbern weniger Geld auszahlen und den Familiennachzug weiter aussetzen. Beides lehnt die SPD ab. Die Sozialdemokraten wollen höhere Steuern für Reiche, die mittelfristige Abschaffung der privaten Krankenversicherung und die Abschaffung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern in Bildungsfragen erreichen. Einige ihrer Kernforderungen beziehen sich auf die Weiterentwicklung der Europäischen Union.«
Minderheitsregierung? Derzeit keine gute Idee
Die Sondierungen und ihnen wahrscheinlich folgende Koalitionsverhandlungen stehen unter dem Eindruck verschiedener Kräftefelder: Erstens wäre da die allgemeine wahlpolitische Lage, die einen Weg zu Neuwahlen als einigermaßen sinnlos erscheinen lässt, weil die Stärke der Parteien sich kaum seit dem Herbst 2017 verändert hat. Dies erhöht den Druck, eine Große Koalition zu bilden, da die Union eine Minderheitsregierung bisher ablehnt.
Dass eine solche Option in demokratiepolitischem Sinne sogar wertvoll sein kann, wird man nicht bestreiten können – allerdings gibt es ja auch Gründe, warum der Ruf nach einer Minderheitsregierung derzeit vor allem aus zwei Richtungen kommt: aus der sozialdemokratischen Linken, die diese als Alternative zur Großen Koalition hochhalten müssen. Und von rechts bzw. aus dem Lager der Kapitallobby. Hier geht es eher darum, die SPD aus der Regierung herauszuhalten, weil ihr diese dann zu »links« wäre, zumindest sozialpolitisch. Sozialdemokratische Projekte wie die Bürgerversicherung und Vorschläge auf dem Feld der Steuerpolitik mögen von links betrachtet noch unzureichend sein, von der anderen Seite her betrachtet gehen sie schon viel zu weit.
Abgesehen davon stehen zwei wichtige Argumente der Befürworter von Minderheitsregierungen zumindest in der aktuellen Lage auf wackligen Füßen: Europapolitisch könnte eine Minderheits-Kanzlerin Merkel in den meisten Bereichen nach eigenem Belieben agieren, was in der gegenwärtigen Situation der EU nicht eben ein Garant für solidarische Europareformen wäre. Wichtige Fragen werden auf der Ebene des Europäischen Rates entschieden, die Beteiligung des Parlaments ist auf bestimmte Bereiche begrenzt.
Parlamentarische Mehrheiten und die Lage der Opposition
Ein zweiter Aspekt der Debatte um die Option Minderheitsregierung: Sie wird mit Argumenten der Vergangenheit im Kopf geführt, was verständlich ist. Aber es gibt nun einmal keine rechnerischen Mehrheiten im Bundestag mehr für »linke« Projekte wie in vergangenen Wahlperioden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Mehrheiten für Modernisierungsschritte a la »Freigabe von Cannabis« oder ähnliches finden, ist gering. Eher würde im Falle wechselnder Mehrheiten die Wahrscheinlichkeit zunehmen, dass ein bürgerlich-rechter Block Entscheidungen durchsetzt – durchaus wäre auch an Zustimmung der AfD im Parlament zu denken. Diese würde dann sicher wortreich als ungewollt hingestellt, sie wäre aber faktisch vollzogen. Mit welchen praktisch-politischen Ergebnissen ist dabei zu rechnen? Jedenfalls mit keinen, die im Sinne der linken Befürworter einer Minderheitsregierung wären.
Ein weiteres Kräftefeld, das sowohl Sondierung und Koalitionsverhandlungen bestimmen wird als auch auf diese zurückwirkt ist die Lage in der Opposition. Die beiden der Linken mehr oder minder zugerechneten Parteien befinden sich entweder in einer konfliktreichen personellen Neuaufstellung (Grüne) oder in einer ebenfalls von Konflikten geprägten Phase der Stagnation (Linkspartei). Dass sich seit der Bundestagswahl im Herbst und vor dem Hintergrund großer Konflikte innerhalb des »bürgerlichen« Lagers die Zustimmung bei Grünen allenfalls leicht und bei der Linkspartei gar nicht erhöht hat, ist ein Ausdruck davon.
Die Debatte um Mitte-Links vor dem Neuanfang
Auch die Frage, wie die drei Parteien des bisherigen »Mitte-Links-Lagers« zueinander in Beziehung treten, wird neu diskutiert werden müssen – dies schon allein aus mehrheitspolitischen Gründen (zusammen bewegt man sich um 40 Prozent, das ist soviel, wie die Schröder-SPD zusammen mit dem Wahlkämpfer Lafontaine 1998 holte). Hier zeigt sich zudem immer deutlicher, dass die Differenzen zwischen Form und Substanz nicht endlos in den bestehenden Organisationen kompensiert werden kann.
Nicht nur Lafontaine träumt von einer personenfixierten Sammlungsbewegung, es wurde hier und da auch von linken Grünen und Sozialdemokraten die Frage aufgeworfen, ob eine »gespaltene Linke« in der aktuellen Lage noch sinnvoll ist. Solche Gedanken speisen sich aus ganz unterschiedlichen Motiven, die wiederum parteienspezifisch sind.
Bei den Grünen wächst teils der Unmut über eine Badenwürttembergisierung, die bundespolitisch keine Punkte zu bringen scheint. Bei der Linkspartei streben teils unvereinbare Modi auseinander, es geht um Wertefragen der Politik aber auch um die Operationalisierbarkeit von Sozialstaatlichkeit und Umverteilung (europäisch, nationalstaatlich). An der Oberfläche nehmen diese Auseinandersetzungen meist die Form von Debatten über Migration an (Palmer, Lafontaine, Wagenknecht), was noch einmal auf die Tatsache hinweist, wie wirkmächtig diese Themensetzung durch die AfD im Bündnis mit Verstärkermedien ist.
Als »gesetzt« angesehene Grenzen des politisch Denkbaren
In der öffentlichen Debatte, immer mehr eine sich selbst antreibende Folge von »Aufregungen«, die von in die Technologie ihrer Verbreitung eingeschriebene Gesetze verstärkt wird (Selbstbezüglichkeit in den Blasen, Shitstormlogik etc.), zeigt sich das erfolgreiche Agendasetting von rechts sehr deutlich.
Während die rechtsradikale AfD die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschiebt und Teile der »etablierten« Parteien dabei mit sich zieht, bleibt »die andere Seite« des Diskurses erstaunlich schwach. Im Zuge der Debatte über den programmatischen Vorstoß des CSU-Politikers Dobrindt, mittels einer »konservativen Revolution« die Modernisierungsleistungen zu überwinden, die mit dem Signum »1968« verknüpft werden, ist dieser Mangel mehrfach betont worden.
Allerdings wird die Lücke kaum gefüllt – was wiederum mit dem als »gesetzt« angesehenen Grenzen des politisch Denkbaren zu tun hat aber auch mit der momentanen Lage des progressiven Pols: die SPD zur Großen Koalition verdammt, die Grünen zwischen den Lagern, die Linkspartei auf der Suche nach einer Strategie. Wenn auch die Sehnsucht nach einer »großen Erzählung« skeptisch gesehen werden muss, so wurde doch ihr Fehlen deutlich spürbar.
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Trotz einer durchaus kritischen Debatte über die wachsende oder zumindest bestehende Ungleichheit, die unkontrollierbare Macht, die mit kaum gezügelter Vermögensakkumulation einhergeht, die damit zusammenhängenden globalen Gerechtigkeitsfragen und so weiter, hat das »progressive Lager«, wenn diese Konstruktion gestattet ist, kaum einen politischen Raumgewinn daraus machen können. Das »Piketty-Moment« ist offenbar nicht genutzt worden. Über die Idee eines »inklusiven Wachstums«, das inzwischen auch von internationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der OECD vertreten wird, ist die Debatte kaum hinausgekommen.
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