Handeln als höchste Form des Tätigseins
Hannah Arendt, politische Theoretikerin mit einem sehr eigenwilligen Blick auf die Welt. Für sie blieb das Nachdenken keine rein geistige Bewegungsform, sondern wies zugleich den Weg zum öffentlichen Handeln.
Selbst Hannah Arendts Biografen erliegen gelegentlich der Versuchung zu glauben, ihr Werk beziehe sich beinahe ausschließlich auf das Denken großer Philosophen – ob diese nun in der Antike oder der frühen Neuzeit lebten oder Zeitgenossen wie Martin Heidegger und Karl Jaspers waren. Bis heute scheint es schwer, sie so zu würdigen, wie sie sich selbst sah: als politische Theoretikerin mit einem höchst eigensinnigen Blick auf die Welt. Sie war erfüllt von einem Drang, diese sich ständig verändernde Welt des 20. Jahrhunderts verstehen zu wollen – ob im Totalitarismus, im Kapitalismus oder im postindustriellen Kontext. Sie stellte Bezüge her und suchte nach dem Motor, der Mensch und Gesellschaft antreibt – historisch gesehen ebenso wie in der Betrachtung des politischen Alltags. Kurt Sontheimer schrieb dazu: »Hannah Arendts Lehre vom Verstehen ist bezeichnend für die Eigenwilligkeit ihres Umgangs mit Begriffen, die Kritiker ihr gelegentlich zum Vorwurf gemacht haben.« Für sie blieb das Nachdenken keine rein geistige Bewegungsform, sondern wies zugleich den Weg zum öffentlichen Handeln.
Sie stellte Bezüge her und suchte nach dem Motor, der Mensch und Gesellschaft antreibt.
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Damit einher ging bei Arendt eine neue Idee des Politischen. Darin liegt vielleicht ihr größter Beitrag zur Philosophie nach 1945. Hatte das politische Denken den Totalitarismus nicht zu verhindern vermocht, suchte Arendt nach dessen Webfehler und der daraus resultierenden Alternative. Zentral in ihrem Denken war dabei die Betonung des gemeinsamen Handelns im öffentlichen Raum als Chance der Zivilgesellschaft. Somit artikulierte ihr Begriff des Handelns, wie sie ihn in Vita activa entwickelt, eine Praxis, die wir heute als partizipative Demokratie bezeichnen.
Mit dem Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum beschäftigte Arendt sich seit den späten 1920er Jahren. So war in ihr im Austausch mit Karl Jaspers das Bewusstsein gewachsen, dass der Mensch, um etwas über sich zu erfahren, nach außen treten, sich äußern und sich quasi aussetzen muss. In Vita activa schrieb sie: »Dies Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, […] im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen, Aufschluss zu geben, darüber, wer er ist, und auf die ursprüngliche Fremdheit zu verzichten.« War sie in jungen Jahren an politischen Dingen gänzlich uninteressiert, begann sie nun, ausgelöst durch die Begegnung mit Jaspers, sich von außen zu sehen, als Jüdin, als Teil einer Gesellschaft, ihres Werte- und schließlich auch eines Wirtschaftssystems.
Diese Systeme waren für Arendt Ausdruck menschlicher Organisation: »Das, was diejenigen miteinander gemeinsam haben, die sich so organisieren, ist, was man gewöhnlich Interessen nennt.« Sie begriff das Politische, und somit den öffentlichen Raum, als ein stets gefährdetes Gut. Nur in einem ständigen Verhandeln der gesellschaftlichen Kräfte, könne der gemeinsame Weg bestimmt werden. Arendt glaubte, dass die »eigentlichen weltorientierten Erfahrungen sich mehr und mehr dem Erfahrungshorizont der durchschnittlichen menschlichen Existenz entziehen.« Das Vermögen zu handeln, sei so auf wenige beschränkt. Damit nahm Hannah Arendt bereits in den 1950er Jahren die Krankheit der modernen Gesellschaft, das »Expertentum«, vorweg, das in den Machtzentren der globalisierten Welt den Einfluss des Einzelnen und seinen Austausch in der Agora, zumindest formal, begrenzt.
Auch wenn wir die Arbeit zur Lebenserhaltung brauchen, so kann sie nicht allein Sinn des Lebens sein.
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Hatte die Vita activa ursprünglich ihre Wurzeln in Betrachtungen über den Marxismus, entwickelte Arendt ihre Betrachtungen bald schon in eine andere Richtung. Die menschliche Aktivität untergliederte sie am Anfang des Werkes in drei Arten des Tätigseins: das Arbeiten, Herstellen und Handeln (engl. labour, work und action). Unter Arbeiten ist alles zu verstehen, was für den Erhalt des Lebens notwendig ist und dem Konsum dient. Daraus folgt, dass eine Welt, die sich nur mit dem Arbeiten und der Befriedigung materieller Bedürfnisse widmet, kein Ziel und keine Entfaltungsmöglichkeit zu Höherem hat. Auch wenn wir die Arbeit zur Lebenserhaltung brauchen, so kann sie nicht allein Sinn des Lebens sein.
Anders das Herstellen, die zweite Art des Tätigseins. Hier stehen Produkte im Mittelpunkt. Handwerker und Künstler schaffen Dinge, die Bestand haben und häufig über den Lebenshorizont des Schöpfers, des Homo Faber, hinausgehen. Doch auch sein Wert ist in unserer Welt begrenzt, nutzt sich ab und verbraucht sich. Die höchste Form des Tätigseins in der humanen Welt ist bei Arendt das Handeln. Es vollzieht sich im öffentlichen Raum, in dem unterschiedlichste Menschen frei miteinander verkehren und in öffentlicher Rede und Widerrede das Wohl der Gemeinschaft voranzubringen suchen. Es ist dieses konstruktive Modell einer Teilhabe aller an Wirtschaft und Gesellschaft, das allen Bürgern das Recht auf aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten garantiert und das zugleich unter ständiger Bedrohung ist, nicht zuletzt durch übermächtiger Wirtschaftsinteressen.
Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln. Arendt 1970
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Nicht wenige Kapitel von Vita activa beschäftigen sich daher mit den Zusammenhängen ökonomischer und sozialer Bedingungen der Moderne. Sind es in der heutigen globalisierten Welt Experten und Berater, die Tagesgeschehen und Wirtschaft in Gang zu halten glauben und dabei maßgeblich ihre Richtung bestimmen, ist für Arendt damit ein Zustand erreicht, in dem sich die wahre Politik der freien Assoziation und des Lernens, des gemeinsamen Gestaltens, längst verflüchtigt hat. Während sich die Arendt-Rezeption vielfach auf den Dreiklang menschlichen Tätigseins bezieht, sah sie selbst eine zunehmende Überbewertung des Aspekts der Arbeit im Vergleich zur politischen Handlungsfreiheit. Diese neu zu entdecken und zeitgemäße Ausdrucksformen zu finden, ist ihr Vermächtnis.
Zur Aktualität
Ob transatlantische Handelsabkommen, Internet oder Occupy-Bewegung: Dass Hannah Arendt bis heute von großer Aktualität ist, wird nicht zuletzt in der New Economy deutlich. Einer, der für diese neue Zeit der Informationsmärkte steht, ist Eric Schmidt. Er hat Google zur wertvollsten Internetfirma der Welt gemacht. Damit wurde er zum Multimilliardär und Einflüsterer der Reichen und Mächtigen. Ob bei der Bilderberg-Konferenz oder als Berater des US-Präsidenten Barack Obama – Schmidt ist König, wenn nicht gar Kaiser, der sogenannten Aufmerksamkeits-Wirtschaft. Glaubt man Schmidt, so werden die Erfolgsunternehmen des 21. Jahrhunderts jene sein, die die Aufmerksamkeit der Konsumenten binden. Diesem Credo folgen Konzerne wie Google, Apple & Co. Sie machen die Aufmerksamkeit der Verbraucher doppelt zu Geld: Es werden Produkte verkauft und zugleich Nutzerdaten gesammelt.
Dem steht eine fast nostalgische These Hannah Arendts gegenüber: Sie glaubt, dass politische Menschen einen sicheren Rückzugsort brauchen, um ein öffentliches Leben führen zu können. Neben dem hellen öffentlichen Platz, dem Sinnbild für die griechische Agora, sei ein privater, dunkler Ort nötig. Wenn es diesen Raum nicht mehr gibt, sinkt der Wert dessen, was ein Einzelner der Gemeinschaft geben kann, so eine These in Arendts Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben. Schmidt hingegen ist überzeugt: »Wenn es irgendetwas gibt, was man nicht über Sie wissen sollte, dann sollten Sie es vielleicht gar nicht erst tun.«
Die Occupy-Wall-Street-Bewegung, die in ihrer Kapitalismuskritik von Wirtschaftstheoretikern wie den Nobelpreisträgern Joseph E. Stiglitz und Paul Krugman unterstützt wird, bezieht sich in ihrer Argumentation immer wieder auf Hannah Arendt und sieht den neuen, globalen Kapitalismus als eine totalitäre Bewegung, die nicht zur Ruhe kommen wird, ehe sie nicht die ganze Welt erfasst und alles in private Hände gelegt hat, was bislang staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Kontrolle unterworfen war. So schreibt Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955): »Alles irgend durch Regeln Gebundene, Kontrollierbare und darum Statische muss verdampfen vor dem dynamischen Prinzip der Bewegung. Alles Individuelle, Traditionsbestimmte, kulturell Besondere und Widerständige soll durch den Kapitalismus wie durch ein reinigendes Fegefeuer, an dessen Ende die eine, gleichförmige und erlöste Welt steht.« Anfang der 1970er Jahre weitet sie diesbezüglich ihre Kritik in der Vita activa gar aus und glaubt, dass die von ihr entworfene »negative Utopie« die formal demokratischen Systeme industriekapitalistischer Gesellschaften bedroht. Nicht zuletzt der amerikanische Wahlkampf und das angespannte Verhältnis der EU-Mitgliedsstaaten untereinander scheinen ihr heute Recht zu geben.
Leben
Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 als Tochter wohlhabender jüdischer Eltern in Linden bei Hannover geboren. Sie studierte ab 1924 Philosophie, Evangelische Theologie und Griechisch in Marburg. 1928 promovierte sie bei Karl Jaspers über Der Liebesbegriff bei Augustin. Nach ihrer Promotion schrieb Arendt für die Frankfurter Zeitung und besuchte Seminare bei Paul Tillich und Karl Mannheim. Zugleich beschäftigte sie sich mit Rahel Varnhagen, deren politische Biografie Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik sie schrieb.
1933 floh Hannah Arendt vor den Nazis nach Paris, wo sie später den Philosophieprofessor Heinrich Blücher heiratete, bevor sie in die USA emigrierte. Von 1944 bis 1946 war Arendt Forschungsleiterin der Conference on Jewish Relations, von 1946 bis 1949 Cheflektorin des Verlags Salman Schocken. 1951 wurde sie eingebürgert. Es folgte die Veröffentlichung von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Ab 1953 war Arendt Professorin am Brooklyn College. 1963 folgte sie einem Ruf an die Chicago University. Nach ihrer Rückkehr nach New York 1967 arbeitete sie an der New School for Social Research. Am 4. Dezember 1975 starb Hannah Arendt in New York.
Dieser Beitrag erschien in der Printausgabe 12/2016.
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