Wirtschaft
anders denken.

Sanktionen helfen nicht

Nach nunmehr fast 18 Jahren Hartz IV liegt erstmals eine Langzeitstudie darüber vor, wie verhängte Sanktionen überhaupt wirken.

12.09.2022
Im Januar 2005 wurde in Deutschland Hartz IV eingeführt. Nach nunmehr fast 18 Jahren liegt erstmals eine Langzeitstudie darüber vor, in welcher Weise verhängte Sanktionen überhaupt wirken. Der Verein Sanktionsfrei e.V. gab die Feldstudie HartzPlus in Auftrag. Sie begann im Januar 2019 mit einer Laufzeit von drei Jahren. Erarbeitet wurde sie von dem privaten unabhängigen Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES Berlin). Über Ergebnisse, auch mit Blick auf das geplante Bürgergeld, sprach Gisela Zimmer mit Dr. Verena Tobsch (rechts), Sozialökonomin und Expertin für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, und der Sozialwissenschaftlerin Dr. Doris Holtmann (links).    

Wer von Transferleistungen leben muss, redet in der Regel nur sehr ungern darüber. Für Ihre Studie HartzPlus haben Sie drei Jahre lang Menschen in Hartz IV begleitet. Wie groß war denn die Bereitschaft mitzumachen?

Verena Tobsch: Die war unheimlich hoch. Auf den Aufruf von Sanktionsfrei, an dieser Studie teilzunehmen, hatten sich ursprünglich 5.000 Menschen beworben. Davon wurden 500 zufällig ausgewählt und in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Gruppe bekam im Laufe des Projekts im Fall von Sanktionen diese finanziell und bedingungslos vom Verein Sanktionsfrei ersetzt. Die andere Gruppe nicht. Diese Befragung hat innerhalb dieser drei Jahre sieben Mal stattgefunden, und nicht nur beim ersten Mal haben fast alle 500 geantwortet, sondern auch im Verlauf der gesamten Zeit war der Rücklauf sehr hoch.

Was denken Sie, woher kommt diese Offenheit?

Verena Tobsch: Wir wissen aus anderen Panelstudien – so nennt sich dieses Design, wenn immer wieder die gleichen Personen befragt werden – dass es schwierig ist, die Menschen für eine mehrmalige Teilnahme an einer Befragung zu gewinnen. Besonders dann, wenn sie – wie bei der HartzPlus-Studie – über mehrere Jahre geht. Es bedurfte hier aber keiner besonderen Anreize. Bei Hartz IV-Beziehenden gab es offensichtlich ein großes Eigeninteresse an dieser Studie zur Wirkung von Sanktionen teilzunehmen. Sowohl bei denen, die die Sanktionen ersetzt als auch bei denjenigen, die die Sanktionen nicht ausgeglichen bekamen. Im zweiten Teil der Studie haben wir aus dem Pool der Teilnehmenden angefragt, ob sie zu einem persönlichen Interview bereit wären. Daraufhin haben sich 150 Menschen gemeldet, was bemerkenswert viele sind. Mit 16 Personen haben wir dann Einzelinterviews geführt.

Dreh- und Angelpunkt Ihrer Studie sind die Sanktionierungen. Sie nannten schon die beiden Gruppen, die waren in etwa auch gleich groß. Die einen bekamen die vom Jobcenter verhängten Sanktionierungen finanziell durch den Verein Sanktionsfrei ausgeglichen, die anderen nicht. Welche Unterschiede gab es?

Verena Tobsch: Überraschenderweise sehen wir bei den verschiedenen Kriterien, die wir uns angeschaut haben, kaum Unterschiede. Zum Beispiel bei der Frage, was macht das mit den Hartz IV-Empfänger:innen, wenn sie wissen, dass sie die Sanktionen ersetzt bekommen? Macht sie das gelassener? Beruhigt sie das? Zumindest in den quantitativen Untersuchungen – wo wir Fragen nach dem psychosozialen Wohlbefinden, zur Zukunftsaussicht, zu Ängsten und Sorgen usw. gestellt haben, sehen wir keine Unterschiede. Nicht zu Beginn, als das Projekt startete, und auch nicht im Verlauf der Zeit.

Das finde ich überraschend?

Verena Tobsch: Ja, wie lässt sich das erklären? Ich habe jetzt vielfach über das psychische Wohlergehen gesprochen. Wir haben aber auch nach der finanziellen Situation gefragt: Kommen Sie zurecht? Sind Ihre Ausgaben höher als Ihre Einnahmen? Wir haben die sozio-ökonomischen Aspekte sehr intensiv untersucht, und auch hier sehen wir kaum Unterschiede. Die Erklärung lautet: Sanktionen schaden nicht, Sanktionen helfen aber auch nicht. Wir sehen – und das ist ja immer das Argument, dass durch Sanktionen Menschen motiviert werden sollen, sich wieder am Arbeitsleben zu beteiligen – das dem so nicht ist. Im Verlauf der gesamten Studie erkennen wir keine höhere Erwerbsbeteiligung. Weder bei denen, die keinen finanziellen Ausgleich bekamen, noch in der anderen Gruppe, die die Sanktionen ersetzt bekamen.

Lässt sich daraus schließen, dass es ja so oder so immer zu knapp fürs Leben ist? Jeder Cent in Hartz IV wohl überlegt ausgegeben werden muss?

Verena Tobsch: Es ist sehr knapp. Das wissen wir aus den qualitativen Studien und das sagen alle, egal ob sie die Sanktionen ersetzt bekommen oder nicht. Es kommt schon auf die fehlenden 50 oder 100 Euro an, das ist völlig klar. Die Betroffenen empfinden Sanktionen aber vorrangig als Gängelung und entwürdigend. In der quantitativen Studie haben wir gefragt, ob die Menschen der Meinung sind, dass Sanktionen abgeschafft werden sollten. Da gab es eine hohe Zustimmung.

Doris Holtmann: In der qualitativen Studie mit den 16 Interviewpartner:innen zeigte sich, dass das Instrument der Sanktionen Druck auslöst. Die Interviewpartner:innen schilderten, dass sich schon allein durch mögliche Sanktionen der Druck auf sie erhöht, dieser sie lähmt. Ein Großteil der Interviewten berichtete von Vorerkrankungen und insbesondere bei diesen Personen verschlechterte sich auch die psychische Verfassung durch den empfundenen Druck.

Die Studie zog sich auch über die Coronazeit. Da gab es ja temporär ein Aussetzen von Sanktionen. Hat sich das für die Lebenssituation der Betroffenen bemerkbar gemacht?

Doris Holtmann: Corona hat sich bei allen Probanden eher verschärfend ausgewirkt. Alle Interviewten berichteten, dass der Status Hartz IV sie ohnehin sozial isoliert, sie sich stigmatisiert fühlen, und das ist durch Corona noch einmal verstärkt worden. Es gibt aber auch einen anderen Effekt: Alle Interviewpartner:innen sprachen von einer Erleichterung, weil der persönliche Kontakt zum Jobcenter wegfiel. Viele erleben diesen nicht als positive Unterstützung. Dort nicht mehr hingehen zu müssen, sondern alles über den elektronischen Weg machen zu können, war entlastend. Es fiel ein Stück Angst weg und auch das Gefühl, nur reglementiert zu werden.

Ein anderes Fazit der Studie ist, dass es unter den Hartz IV-Empfänger:innen eine hohe Erwerbsbereitschaft gibt. Landläufig wird das Gegenteil unterstellt.

Verena Tobsch: Viele nehmen nicht nur die vom Arbeitsamt angebotenen oder verordneten Jobangebote an, sondern auch kleinteilige Jobs auf. Auffallend in den Interviews ist, dass das ehrenamtliche Engagement unheimlich hoch ist. Ein Interviewpartner sagte, die Jobs, die das Arbeitsamt verschafft, waren nicht auf ihn abgestimmt. Er sollte in einer Spielhalle arbeiten, dabei ging aus einem Gutachten klar hervor, dass er spielsüchtig sei. Andere ihm angebotene Jobs waren gesundheitsgefährdend oder von den Arbeitsbedingungen her sehr schlecht. In der Coronazeit hat er sich mit jemanden, der ein Auto besaß, zusammengetan und fuhr ins Hochwassergebiet, um dort ehrenamtlich Sandsäcke zu schleppen. Insgesamt ist das Interesse, sich gesellschaftlich zu beteiligen, einen Sinn zu finden – unheimlich hoch – auch Jobs anzunehmen, wenn es gesundheitlich angemessen ist.

Doris Holtmann: Bei den Interviewpartner:innen waren viele Menschen im klassischen Sinn gar nicht mehr erwerbsfähig, zum Beispiel aufgrund von langen Krankheitsphasen. Aber fast alle haben in den Interviews geäußert, dass sie sehr gern erwerbstätig wären, damit sie dieses soziale Stigma loswerden und für sich selbstverantwortlich den Lebensunterhalt verdienen können. Einige von ihnen sind aber schon lange aus dem Erwerbsleben raus und haben selbst bei guter Gesundheit gar keine aktuelle Berufsfähigkeit mehr. Das können sie selbst auch sehr gut einschätzen. Diejenigen, die glauben, sie können durch eine Umschulung oder Weiterbildung wieder einen Anschluss an den Arbeitsmarkt bekommen, sind sehr bemüht. Da wäre ein offeneres und individuelleres Angebot beim Zugang zu Weiterbildungsaktivitäten wünschenswert. Bei anderen gibt es den Wunsch, selbstständig zu sein. Die Mehrheit der Interviewpartner:innen hat diesen Wunsch geäußert. Darüber hinaus möchte ein Großteil einfach gesellschaftlich teilhaben, im Ehrenamt etwas zurückgeben. Aber wie gesagt, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit – wie man sich das so landläufig vorstellt – die Leute bekommen einen Job angeboten und gehen dahin – das ist aufgrund der gesundheitlichen Situation oder der beruflichen Entwertung durch die lange Erwerbslosigkeit oft gar nicht möglich.

Wissenschaft ist unter anderem dazu da, eine belastbare Daten- und Faktenlage zu erstellen. Was müsste nach Ihrer Studie beim Bürgergeld mitgedacht werden?    

Verena Tobsch: Der Fokus der Studie sind die Wirkungen von Sanktionen. Möglicherweise schaden Sanktionen nicht in messbaren Dimensionen, aber sie führen zu einem Gefühl der gesellschaftlichen Nichtteilhabe. Und sie helfen auch nicht. Das, glaube ich, ist ein wichtiger Befund. Man darf nicht vergessen, auch wenn die Menschen das Geld von Sanktionsfrei wiederbekommen, erfahren sie das Schreiben vom Jobcenter als Bestrafung. Sie haben das Gefühl von ‚Da-wird-mir-etwas-gestrichen, und das zu Unrecht‘. Denn man muss auch sagen, dass es sich bei vielen der sanktionierten Menschen nicht nur um Meldeversäumnisse handelte. Wird beispielsweise eine zu große Wohnung nicht anerkannt, wird dies als Sanktion empfunden. Ist es faktisch auch, denn die Wohnung muss bezahlt werden. Es wird dann bei Brot, Butter und Milch gespart. Ich denke, ein Bürgergeld sollte eher auf positive Anreize setzen.

Doris Holtmann: Der Kontakt zu den Mitarbeitenden in den Jobcentren oder der Arbeitsagentur spielt dabei eine große Rolle. Es ist wichtig, dass dort auf die individuelle Lage derjenigen eingegangen wird, die vor ihnen sitzen. Dass entsprechend ihrer Erwerbsbiografie dezidiert geschaut wird, wie beispielsweise mit einer Weiterqualifizierung geholfen werden könnte. Exemplarisch erzählte eine Frau, wie sie sich selbst um Weiterbildungen gekümmert hatte, um in eine Selbstständigkeit zu gelangen. Das Jobcenter hatte damit Schwierigkeiten. Die wollten, dass es nach einer Qualifizierung in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht. Diese Frau musste eine Vielzahl von Stellenanzeigen vorlegen, um nachzuweisen, dass sie nach der Weiterbildung überhaupt die Chance hat, Geld zu verdienen. Beim Konzept des Bürgergeldes wäre es sinnvoll, auch einen Kulturwandel in den Institutionen Arbeitsagentur und Jobcenter mitzudenken. Es ist grundlegend wichtig, die Menschen, die dort hinkommen, individuell mit ihren Problemlagen zu verstehen und Hilfsangebote zu machen.

Sind die Erzählungen repräsentativ?

Doris Holtmann: Die Ergebnisse auf Basis der sieben Befragungen weisen eine gute Repräsentativität auf. Die Erzählungen aus den Interviews beschreiben Einzelfälle und doch kann man annehmen, dass sie Tendenzen abbilden. Methodisch sind das keine objektiv messbaren Ergebnisse, man sollte vorsichtig sein, diese zu generalisieren. Aber mit der Offenheit, mit der die Menschen gesprochen haben, sind die Befunde des qualitativen Teils der Studie informativ für diejenigen im politischen Bereich, die die gesetzlichen Instrumente anpassen und weiterentwickeln. Politische Aussagen, dass Sanktionen bleiben müssen, bedienen das Klischee, dass Hartz IV-Empfänger:innen nicht arbeiten wollen. Die Interviews belegen aber, die Menschen wollen sich nicht zurückfallen lassen. Sie wollen alles dafür tun, um diesem Vorurteil, sie säßen auf der Couch, würden Fernsehen und Bier trinken, entgegenzutreten. Es ist wichtig, dass die Politik versteht, was das Leben der Betroffenen überhaupt ausmacht und dass Sanktionen als Instrument letztendlich nicht funktionieren. Sie haben – so unsere Studie – weder in die eine noch in die andere Richtung messbare Auswirkungen. Es ist wichtig, einen positiven Stimulus zu setzen, um Hartz IV-Empfänger:innen zu ermöglichen, sich wieder ins Erwerbsleben einzubringen.

Die Studie ist unter diesem Link einsehbar.

Das Interview führte:

Gisela Zimmer

Journalistin

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