Wirtschaft
anders denken.

Hunderttausende Hartz-Strafen – und warum sich die SPD dafür interessieren sollte

17.01.2018
Bernd Schwabe in Hannover, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die Zahl der umstrittenen Hartz-Strafen ist weiter sehr hoch, neuen Zahlen zufolge wurde im vergangenen Herbst sogar einer der größten Anstiege verzeichnet. Sozialverbände dringen auf den Stopp der Sanktionen, Experten halten sie für kontraproduktiv und gefährlich.

Die Zahl der von Jobcentern gegenüber Erwerbslosen verhängten Strafen, die bis zu einer völligen Streichung der Leistungen gehen, ist in den ersten neun Monaten des Jahres 2017 auf 718.803 gestiegen. Im September machten die Sanktionen dann einen Sprung – ihre Zahl sei so stark gestiegen wie noch in keinem Monat zuvor seit Einführung von Hartz IV, schreibt die »Bild«-Zeitung. Allein in dem Monat habe es 91.590 Strafen gegeben.

Das Blatt nennt die Betroffenen »unwillige Stütze-Empfänger«. Im Durchschnitt seien die Leistungen um 108 Euro gekürzt worden – bei einem Regelsatz von 416 Euro für Alleinstehende. Über 7.300 Menschen wurden die Geldleistungen gleich komplett entzogen.

Über die Gründe des Anstiegs gibt es nur behördliche Vermutungen. »Die Bundesagentur für Arbeit führt die starke Zunahme auf das Ende der Sommerpause im September zurück«, schreibt »Bild«, viele Hartz-Empfänger hätten sich nach dem auch ihnen zustehenden »Urlaub« nicht wieder beim Jobcenter zurückgemeldet.

Die Zahlen konnte man in den vergangenen Tagen übrigens schon in der Analyse des sozialpolitischen Teils des Sondierungsergebnisses von Stefan Sell nachlesen – der Professor rechnete darin auch vor, dass »die Jobcenter zwischen 2007 und 2016 auf eine Summe von 1,9 Milliarden Euro« gekommen seien, »die nicht an die Betroffenen ausgezahlt werden mussten«.

Was das mit der SPD und den Sondierungen zu tun hat

Damit rückt eines der Kernprobleme sozialdemokratischer Politik genau in dem Augenblick wieder auf die politische Bühne, in dem die SPD um das Sondierungsergebnis ringt. Vor ein paar Tagen war hier im Blog von den Folgen der Agenda-Reformen und ihrer Vorgänger die Rede, die den Sozialstaat nicht nur umgebaut und ausgelöchert haben – sondern eine »Re-Kommodifizierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse« befeuerten, durch die der Sozialstaat selbst zu einem institutionellen Angstmacher geworden ist.

Genau deshalb haben Kritiker des Sondierungsergebnisses von Union und SPD zuletzt immer wieder darauf gepocht, dass ein Gesprächsergebnis ohne weitgehende Korrektur zumindest einiger Bestandteile des Hartz-Systems nicht ausreiche. Vor allem die umstrittenen Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger müssten endlich fallen. Gefordert wird das schon länger, von Teilen der linken Opposition, von Sozialverbänden, von Experten.

Zu dem Thema selbst finde sich »rein gar nichts« bei den GroKo-Sondieren, so Sell, der von einem »überaus umstrittenen und mehr als brisanten Thema« spricht. »Nicht nicht einmal die bereits weichgespülte Forderung, wenigstens das heute schärfere Sanktionsregime gegen die unter 25-Jährigen an die allgemeinen Sanktionsregelungen anzupassen, hat es in das Papier geschafft.« Sell glaubt, dass die Parteien auf das Urteil aus Karlsruhe warten. »Hartz IV – kein Handlungsbedarf«, fasst Sell seine Bilanz des Ergebnispapiers in einem Satz zusammen.

Paritätischer fordert Verzicht auf Strafsystem

Im Sender MDR forderte der Paritätische Wohlfahrtsverband erneut einen kompletten Verzicht auf das Strafsystem. »Sanktionen stürzen viele Menschen in existenzielle Not und Bedrängung – das kann zu Obdachlosigkeit führen. Das ist aus unserer Sicht nicht zu halten. Das darf sich der Sozialstaat nicht leisten«, wird die Expertin Tina Hofmann zitiert. »Die Sanktionen sind inzwischen ein juristischer Streitfall geworden. Das Sozialgericht Gotha sah in einem Fall von massiven Kürzungen eine Verletzung der Grundrechte. Nun soll das Bundesverfassungsgericht über Sanktionen von Sozialleistungen entscheiden«, so der Sender.

Die Initiative Sanktionsfrei erinnert daran, dass rund eine Million mal jährlich die Jobcenter das Existenzminimum von Menschen kürzen. »Dabei werden fast die Hälfte der Sanktionen ohne rechtliche Grundlage verhängt«, heißt es weiter. Und: »Sanktionen seien die Ausübung schwarzer Pädagogik und das Gegenteil von Vertrauen«.

Erst im vergangenen Frühjahr hatte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages eine Reihe von Studien über die Folgen von Sanktionen ausgewertet. Für die Linkspartei-Politikerin Katja Kipping zeigte diese Zusammenfassung »eindrücklich, dass diese kontraproduktiv sind, weil sie zum Rückzug vom Jobcenter und auch zur Arbeitsdemotivation führen. Außerdem ist bei Sanktionierten vielfach ein Rückzug aus dem sozialen Leben zu beobachten«. Es komme darüber hinaus zu »Vereinsamung, ungenügender Ernährung und Krankheitsversorgung«. Die Strafen »setzen Betroffene auch der sozialen Verelendung und Isolation aus. Sanktionen verletzen das Grundrecht auf soziale Sicherheit«, so Kipping.

Daumenschrauben und Drohpotenzial für die Kapitalseite

»Die im neoliberalen Zeitalter angezogenen Daumenschrauben« haben aus einem Sozialstaat, der traditionell als »Angsthemmer« gedacht war und Grosso modo auch jahrelange so wirkte einen »Angsttreiber« gemacht, heißt es in einem aktuellen Papier der Professoren Sigrid Betzelt und Ingo Bode für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Betzelt und Bode zeichnen dies kurz am Beispiel der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und am Umbau des Sozialstaats im Zuge der Agenda-Reformen nach.

Diese habe »der Kapitalseite ein wachsendes Drohpotenzial und vielen Erwerbstätigen neue, mitunter existenzielle Risiken sowie ein höheres Potenzial für Statusgefährdung« beschert. So seien »erweiterte Zonen ungesicherter, vielfach niedrig entlohnter Erwerbsarbeit« entstanden; auch ehemals gut etablierte Beschäftigte waren nun der Drohung ausgesetzt, in diese Zonen abzusteigen. Menschen wurden ungeschützter als zuvor »den Kräften der Märkte« ausgesetzt.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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