Eine Replik von Helge Peukert
Liebe Mut-, Mit- und Wutbürger*innen,
zu meinem erfreuten Erstaunen haben Vorschläge zu angemessenen Reformen, um den Ökozid noch zu verhindern, ein breites Echo auf Twitter, in Blogs, Podcasts usw. gefunden. Eigentlich sollte mein Beitrag an entlegener Stelle (ich kann aber OXI generell nur empfehlen) den Diskurs innerhalb der radikaleren Umwelt- und Klimaschutzbewegung anregen, da mir die bescheidenen Vorschläge der LG, deren junge Aktivistin*innen ihr Leben für unser aller Überleben einsetzen, im Widerspruch zu ihrer in meinen Augen zutreffenden Kipppunkthese stehen. Der Katalog meiner Vorschläge war nicht als abgerundetes, definitiv so umzusetzendes Totalprogramm gedacht, sondern es sollte auf unterschiedlichen Ebenen und Handlungsfeldern (vom Fahrstuhl bis zum Weltkartell) angedeutet werden, dass wir vor einer wirklich fundamentalen Transformationsherausforderung stehen, sofern wir nicht in der Klimahölle von womöglich fünf Grad Erderwärmung, extremen Biodiversitätsverlusten usw. landen wollen. Da sich viele gefragt haben: Wer ist denn dieser Nutty Professor, dürften einige persönlichen Bemerkungen angebracht sein.
Corona führte zum Präsenzverbot an Unis und man hätte sich eine schöne Zeit auf Lanzarote machen können. Doch ich sah bei Spaziergängen den Wald leiden, wo blieben die Insekten früherer Jahre, hinzu kamen die IPCC-Berichte und tägliche Horrormeldungen zu Überflutungen, Dürren, Veränderungen des Jetstream und meine Hütte in Österreich wurde durch einen nie dagewesenen Orkan zerstört. Daher nutzte ich diese »Forschungssemester«, mich ungefähr 8-10 Stunden pro Tag wieder in die Umwelt- und Klimaforschung einzuarbeiten. Hieraus gingen zwei Bücher zum Thema hervor. Erst gegen Ende des Forschens und Schreibens des ersten Buches wurde mir klar, dass wir eigentlich kein Emissionsrestbudget mehr haben, wie ernst die Lage ist und wir zehn nach zwölf eigentlich weltweit eine Vollbremsung hinlegen und die Megamaschine des Wachstums stoppen müssen. Die vorläufigen Vorschläge sollen verdeutlichen, dass es ohne deutlichen Verzicht und Veränderungen in allen Bereichen nicht gehen wird.
Woher weiß ich das neben den Beobachtungen im eigenen Lebensumfeld? Um hier nur den Klimawandel anzusprechen: Aus dem letzten IPCC-Bericht geht hervor, dass wir ab 2020 mit 83 Prozent Wahrscheinlichkeit (das entspricht russischem Roulette) für das gerade noch Einhalten von 1,5 Grad Erderwärmung noch 300 Milliarden Tonnen CO2 übrighatten. Seitdem ist einige Zeit verstrichen ist und wir stoßen weltweit jährlich rund 40 Milliarden Tonnen aus. Da allein die Unsicherheit des Vergleichs zum vorindustriellen Zeitalter +/- 240 Milliarden beträgt, könnte bereits jetzt das Restbudget überschritten sein. Laut jüngstem Bericht des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) ist das deutsche Budget für 1,5 Grad und 83 Prozent Wahrscheinlichkeit seit Anfang 2023 aufgebraucht. Der auch von der Bundesregierung ins Leben gerufene Expertenrat für Klimafragen stellt fest, dass Deutschland seine gesetzlich festgesetzten Klimaziele deutlich verfehlen wird und nur Sonderbedingungen (milder Winter, Lieferkettenprobleme usw.) die Lücke etwas verdecken. Das Umweltbundesamt konstatiert: Der Durchschnitt der Emissionen liegt in Deutschland bei 11,2 Tonnen CO2 pro Person. Klimaverträglich wäre ein weltweiter Pro-Kopf-Ausstoß von unter einer Tonne CO2, dafür ist eine Minderung in Höhe von rund 95 Prozent gegenüber dem heutigen Stand notwendig. Sind die Angaben dieser Institutionen auch »alle verrückt«, wie es mir unterstellt wird? Unterstellt man auch ihnen einen »Deckmantel für alte Träume« (welche eigentlich)? Was führt der deutsche Wetterdienst im Schilde, wenn er für Deutschland und Europa bereits eine Erwärmung von über zwei Grad misst?
Man kann sich nun fragen, warum ein solch radikales Programm auch nur in Ansätzen kaum jemand anspricht. Dies liegt daran, dass alle relevanten Akteure finanziell von der Wachstumsökonomie abhängen: Die Lohnabhängigen fürchten um ihre Arbeit, der Staat braucht Einnahmen, um den Laden am Laufen zu halten und fürchtet in einer Konsumdemokratie Missmut bei Einschränkungen und die Wirtschaft floriert, wenn die Schornsteine rauchen. Wissenschaftler und Forschungsinstitute hängen – trotz vieler wertvoller Studien – von Drittmitteln ab, was zur Vorsicht anhält, die ihnen sicher nicht aus der alternativen Postwachstumsbewegung zufließen können. Die bitteren Wahrheiten können daher nur von solchen Zwängen unabhängige Wissenschaftler und Intellektuelle aussprechen, auch wenn man hierfür hate speech en masse bis hin zu Morddrohungen erhält. Diese Reaktionen zeigen, dass viele Menschen lieber alle nur erdenklichen Abwehrmechanismen mobilisieren, um sich der wohl größten Herausforderung der Menschheit nicht stellen zu müssen.
Anstatt sich der Herausforderungen anzunehmen und z.B. dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts und des von CDU/CSU und SPD verabschiedeten Klimaschutzgesetzes nachzukommen, werden die Sektorziele für die Industrie, Gebäude usw. aufgeweicht und stattdessen über 100 Autostraßenprojekte angedacht. Anstatt an einem Strang zu ziehen, gibt es ein ständiges Tauziehen, auf der einen Seite die Grünen, auf der anderen die FDP, in der Mitte die farblose SPD, am Rand die teils über Maßnahmen maulende CDU/CSU, die sie vorher mit verabschiedeten. Die Weimarer Republik ist u.a. untergegangen, weil die meisten Akteure ihre kurzfristigen Interessenkalküle in den Vordergrund stellten, sich gegenseitig neutralisierten und die aufziehende Katastrophe nicht erkannten und nichtjüdische (Wirtschafts-)Wissenschaftler, von sehr wenigen Ausnahmen wie den Ordoliberalen Röpke und Rüstow abgesehen, sich opportunistisch anpassten. Ich habe aus der deutschen Geschichte gelernt, dass die Mehrzahl irren und in kollektive Wahngebilde (heute z.B. »emissionsfreie Mobilität« mit 2-3 Tonnen schweren Blechkarossen) abgleiten kann. Wie ließe sich das lähmende Klein-Klein auf der politischen Bühne überwinden, ohne in autokratische Lösungen zu verfallen? Hier habe ich vorgeschlagen, sich die deutschen Notstandsgesetze einmal anzuschauen, die nebenbei bemerkt 1968 in der ersten großen Koalition beschlossen wurden.
Mir schwebt also kein totalitäres Ökotalibanregime vor, sondern eine auf demokratische und herrschaftsfreie Kommunikation und kulturelle Diversität ausgerichtete, sozialere, verteilungsgleichere und fundamentalökologische Gesellschaft. Wenn wir uns aber auf bis zu fünf Grad zubewegen, haben »Freiheit und Demokratie«, wie es einige Kommentatoren einfordern, keine Chance mehr, denn dann es geht ums nackte Überleben. Wenn mir unterstellt wird, ich wolle einem »großen Teil der Menschheit die Lebensgrundlagen entziehen«, so ist es genau andersherum. Denn wenn es so weitergeht, wird ein Überleben in Afrika und selbst weiten Teilen Südeuropas kaum mehr möglich sein und werden sich zudem nicht Millionen, sondern hunderte Millionen in unsere Breitengrade in Bewegung setzen. Natürlich will gerade ich nicht Behinderten den Aufzug verwehren, sondern gemeint war, dass wenn man den Stromverbrauch allgemein drosselt, genug Ökostrom für Aufzüge für Behinderte vorhanden ist. Der Rückbau der Chemie ist wichtig, damit in einem klimaneutralen Regime noch genug Spielraum für die Herstellung von Medikamenten ist. Dies sind nur zwei Beispiele für plakative Unterstellungen.
All denen, die meinen, durch schlafwandelndes Leugnen ließe sich die Überlebensfrage der Menschheit einfach ausklammern, sei gesagt: Bisher sind alle Zivilisationen untergegangen, weil sie ihr jeweiliges Fundamentalprinzip (heute: eine Konsum- und Wachstumsgesellschaft) überdehnt und bis zum bitteren Ende autistisch durchgezogen haben. Woanders entwickelten sich dann neue Zivilisationen. Doch der Ökozid bedroht unseren ganzen blauen Planeten und es gibt keinen Planeten B, auf den wir ausweichen können. Aus Liebe zur wissenschaftlichen Wahrheit, zur Biosphäre, zu Tieren, Pflanzen und Menschen und damit auch aus Liebe zu Deutschland: Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche!
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