Wirtschaft
anders denken.

Amerikanische Effizienz

21.02.2022
Abgebrochenes Korn auf einem FeldFoto: Franz W. auf PixabayDurch Hagel zerstörtes Korn auf einem Feld

Ausgerechnet die USA rettete mit ihrer Hilfe vor 100 Jahren die durch den Bürgerkrieg zerrüttete Sowjetunion aus deren schwerste Hungersnot. Aus OXI 2/22.

Der Dank war überschwänglich, der Washington aus der nicht nur geografisch weit entfernten unlängst gegründeten Sowjetunion im Frühjahr des Jahres 1923 erreichte. »Alle Menschen, die in der UdSSR leben«, schrieb der Präsident des Rates der Volkskommissare, Lew Kamenew, in einem offenen Brief an US-Handelsminister Herbert Hoover, »werden niemals die Hilfe vergessen, die das amerikanische Volk ihnen hat angedeihen lassen, und sie als ein Unterpfand der künftigen Freundschaft der beiden Nationen betrachten.«. Noch persönlicher hatte es bereits wenige Monate zuvor der Schriftsteller Maxim Gorki formuliert. »Ihre Hilfe wird als eine einzigartige, riesige Leistung in die Geschichte eingehen, der die größte Ehre gebührt, die noch lange im Gedächtnis Millionen von Russen in Erinnerung bleiben wird, die Sie vor dem Tod gerettet haben«, schrieb er, nachdem die Hilfsaktion der von dem späteren US-Präsidenten geleiteten »American Relief Administration« (ARA) eine der fürchterlichsten Hungerkatastrophen des 20. Jahrhunderts zu beenden geholfen hatte.

Gorki war es auch gewesen, dessen Hilferuf diese Aktion überhaupt erst hatte anlaufen lassen. Im Juli 1921 hatte der auch im Ausland überaus angesehene Literat in Absprache mit der von keinem Land der Welt anerkannten Regierung des Rates der Volkskommissare einen verzweifelten Appell an die Weltöffentlichkeit formuliert. »Düstere Tage sind im Land Tolstois, Dostojewskis, Mussorgskis und Glinkas angebrochen«, hieß es in dieser »Note an alle ehrlichen Menschen«. »Das Missgeschick Russlands gibt allen Menschenfreunden die großartige Gelegenheit, die Kraft des Humanitätsgedankens unter Beweis zu stellen. Ich bitte alle ehrenwerten Völker Europas und Amerikas um rasche Hilfe: Schickt uns Brot und Medizin!« Bis dahin sollte es aber noch ein steiniger Weg werden.

Stärker noch als bereits in den vorangangenen zwei Jahren hatten die untypisch geringen Niederschlagsmengen im Frühjahr 1921 insbesondere in den Kornkammern rund um die Wolga und in der südlichen Ukraine zu fürchterlichen Missernten geführt. Die Erträge fielen um ein Fünftel geringer aus als im Vorjahr, in dem auch schon nur gut zwei Drittel des Niveaus der Vorkriegszeit erreicht worden war. Was auch in normalen Zeiten nur schwer zu bewältigen gewesen wäre, traf nach den Verheerungen des Bürgerkriegs, der bereits viele Millionen Menschen das Leben gekostet hatte und in dem das für den Transport von Lebensmitteln so wichtige Schienennetz weitgehend zerstört worden war, der Plünderungen der Getreidelager und der Requirierungspolitik aller beteiligten Bürgerkriegs- und Interventionsarmeen auf eine völlig erschöpfte Landbevölkerung. So folgte der Dürre die Katastrophe.

Nach offiziellen Angaben verhungerten im Frühsommer in den betroffenen Gebieten bis zu 100.000 Menschen wöchentlich – am Ende kostete die Hungersnot etwa fünf Millionen Menschen das Leben. Typhus und Cholera grassierten überall und in manchen Gebieten überlebte kein einziger im Jahr 1921 geborener Säugling. Die Berichte des Soziologen Pitirim Sorokin, der zu dieser Zeit die Dörfer in den Regionen Saratow und Samara inspizierte, machten das ganze Ausmaß deutlich. »Die einst vorhandenen Strohdächer wurden schon vor langer Zeit abgebaut und gegessen«, heißt es darin etwa. »Tiere gab es im Dorf nicht mehr: keine Kühe, Pferde, keine Schafe, Ziegen, Hunde oder Katzen – nicht einmal Krähen. Auch sie wurden gegessen. In den schneebedeckten Straßen lagen Leichen und es war totenstill.« Selbst Erzählungen über Fälle von Kannibalismus machten die Runde.

Dass das sich zwar behauptende, aber international völlig isolierte und wirtschaftlich am Boden liegende Sowjetrussland – auch die Industrieproduktion belief sich auf gerade einmal 12,8 Prozent des Vorkriegsniveaus, die Stahlproduktion auf gar nur 4 Prozent – allein mit dieser Katastrophe fertig werden könnte, galt nicht nur in Moskau als ausgeschlossen. Als Erster nahm sich der damalige Flüchtlingskommissar des neu gegründeten Völkerbundes, der norwegische Polarforscher und spätere Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen, der Sache an. Nicht ohne einen Seitenhieb auf die neue Regierung – die Menschen dort sollten nicht »für die Sünden der jetzigen Gewalthaber in Sowjetrussland« büßen – appellierte er zuletzt im September in einer flammenden Rede an die Mitglieder des Völkerbundes, »durchgreifende Hilfe für die Unglücklichen« zu leisten.

Der Erfolg aber blieb aus. Zu stark war der Antikommunismus insbesondere bei den im Völkerbund dominierenden Regierungen in London und Paris. Zwar hatte Nansen am 15. August mit Hilfe des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes das International Committee for Russian Relief (ICRR) gründen können, das nach einem Treffen in Moskau von dem sowjetischen Außenminister Georgi Tschitscherin auch völlige Handlungsfreiheit in Russland zugesichert bekam. Als aber im Oktober der Völkerbund die vom ICRR beantragten Hilfsgelder in Höhe von 30 Millionen US-Dollar nicht bewilligte, wurde klar, dass die wenigen privaten Hilfsorganisationen – neben dem Roten Kreuz beteiligten sich auch etwa der deutsche Arbeiter-Samariter-Bund, das American Friends Service Committee und der britische Save the Children Fund an den Spendensammlungen – ein Projekt von diesen Ausmaßen nicht würden stemmen können. So richtete sich der Blick nun nach Washington.

Dort existierte seit dem Januar 1919 die ARA als von der Regierung gegründete, aber private Unternehmung, die ihre Effizienz bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit bewiesen hatte. In 21 europäischen Ländern hatte die von Hoover geleitete Organisation mit nur 1.500 Helfer:innen Millionen von Menschen, überwiegend Kinder, mit Lebensmitteln im damals astronomischen Wert von 150 Millionen US-Dollar versorgt. Der Oberkommandierende der US-Streitkräfte, John J. Pershing, bezeichnete Hoover in der Folge bewundernd gar als »Lebensmittelorganisator für die gesamte Welt«. Und auch in Bezug auf Russland war dieser nicht untätig gewesen. Parallel zu den Verhandlungen der ICRR hatte auch die ARA Verhandlungen mit den Sowjets begonnen. In Riga hatte Walter Brown im Namen Hoovers dem Stellvertreter Tschitscherins, Maxim Litwinow, Lieferungen von US-Agrarüberschüssen angeboten, dafür aber im Gegenzug eine völlige Unabhängigkeit von den sowjetischen Behörden und die Lieferung von Zarengold im Wert von 12 Millionen US-Dollar gefordert – und diese Zusicherungen auch erhalten.

So begann die ARA in den USA umgehend, fieberhaft private Spenden einzusammeln – fast zehn Millionen Dollar kamen so zusammen – und um öffentliche Gelder zu werben. Neben dem zweifelsohne vorhandenen humanistischen Impuls waren es auch politische Motive, die den erklärten Antikommunisten Hoover antrieben. Bereits in Europa waren die Hilfsleistungen an Forderungen nach Demokratisierung und die Herstellung offener Märkte gebunden gewesen. Nicht weniger als einen Systemwechsel erhoffte sich der auch als »Mister Effizienz« Bezeichnete nun für Sowjetrussland. »Hoover glaubte, dass, wenn er bloß die Russen vom Hunger befreien könnte, diese wieder zu ihrem Verstand kämen und ihre physische Stärke wiedererlangen würden, um sich von der Unterdrückung der Bolschewisten zu befreien«, folgert der durchaus mit Hoover sympathisierende Historiker Bertrand Patenaude, der die maßgebliche Monografie zu der Hilfsaktion verfasst hat. Und dieses Argument zog: Am 18. Dezember 1921 bewilligte der US-Kongress 18,6 Millionen US-Dollar für die Russlandhilfe der ARA, nachdem Hoover in seiner Rede einen »umfassenden Mehrwert für die Vereinigten Staaten« durch diese Initiative versprochen hatte.

200 Helfer schickte die ARA nun ins ferne Russland und warb dort bis zu 120.000 weitere lokale Hilfskräfte an, um in der Spitze in 19.000 Versorgungseinrichtungen die lokale Bevölkerung über die schwersten Zeiten hinweg zu retten. Im Frühjahr 1922 wurden so täglich an die zehn Millionen Menschen versorgt, Obdachlosen- und Waisenunterkünfte eingerichtet und die Typhusepidemie bekämpft. Wichtiger noch waren aber die von der Sowjetregierung erbetenen Lieferungen von Saatgut, die im Jahre 1922 zunehmend zu guten Ernten führten und die Lebensmittelsicherheit wieder sicherzustellen halfen. Wie viele Menschen so von der ARA vor dem sicheren Hungertod bewahrt wurden, ist kaum zu schätzen, mit Sicherheit aber waren es Millionen.

Eine kleine Anekdote mag die ungeheure Effizienz der amerikanischen Helfer verdeutlichen: Als der Schriftsteller Franz Jung im Auftrag der ebenfalls tätigen Internationalen Arbeiterhilfe im Frühjahr 1922 mit 3.000 Büchsen dänischer Konservenmilch im Hafen von Tallinn eintraf, fand sich niemand, der in der Lage war, diese überhaupt nur anzunehmen. Ihn rettete schließlich ausgerechnet ein »Herr Fischer, der Leiter der American Relief Administration«, der sich nicht nur um die Löschung der Fracht, sondern auch den Transport an die Bestimmungsorte kümmerte.

Auch dem ersten Mann im jungen Sowjetstaat entging dies nicht. »In diesem Jahr haben wir völlig klar bewiesen«, gestand Lenin in seinem im Namen des Zentralkomitees gehaltenen Politischen Bericht an den XI. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands im Frühjahr 1922 unumwunden ein, »dass wir nicht zu wirtschaften verstehen. Entweder werden wir im nächsten Jahr das Gegenteil beweisen, oder die Sowjetmacht kann nicht weiterexistieren«, so Lenin weiter. Ohne konkret auf die ARA einzugehen, deren zunehmende Popularität er stets mit Argwohn verfolgt hatte, sei das eigene Abschneiden im Verhältnis zu den Organisationsfähigkeiten der »kapitalistischen Räuber« mehr als mangelhaft gewesen. So wurde deren Hilfe nun auch zu einer der stärksten Begründungen der ein Jahr zuvor eilends verkündeten »Neuen Ökonomischen Politik« (NÖP), die mittels der Einführung von Marktmechanismen – die Ablieferungspflicht der Bauern wurde durch eine Naturalsteuer ersetzt, die Handelsfreiheit für den Einzelhandel wiederhergestellt, ausländischen Unternehmen wurden Konzessionen angeboten, die Entlohnung in Naturalien wurde abgeschafft, der Rubel konsolidiert und die Kleinindustrie an private Unternehmer verpachtet – die Versorgungslage verbessern sollte.

Dagegen erfüllten sich die politischen Hoffnungen auf beiden Seiten des Atlantik nicht. Weder wurde die US-amerikanische Hilfe zu einem »Unterpfand der künftigen Freundschaft der beiden Nationen«, wie es Kamenew in seinem Dankesschreiben formuliert hatte – nicht einmal diplomatische Beziehungen wurden aufgenommen –, noch führte sie zu dem »system change«, den Hoover sich erhofft hatte. 1929 gestand der gerade zum US-Präsidenten gewählte Republikaner dem ehemaligen ARA-Mitarbeiter und nunmehrigen Angestellten der Zeitschrift »Foreign Affairs«, Henry C. Wolfe, in einem Interview etwas deprimiert sein Scheitern ein. Man habe die Sowjetregierung nicht etwa destabilisieren können, sondern im Gegenteil »im Sattel gehalten«. Zum »Traum einer wirklichen Völkerfreundschaft«, die Gorki emphatisch in der Aktion gesehen hatte, hatte »Mister Effizienz« dennoch eine der größten Leistungen in der Geschichte des an Katastrophen nicht gerade armen 20. Jahrhunderts beigesteuert.

Geschrieben von:

Axel Berger

Historiker

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