Wirtschaft
anders denken.

»Ich bin derzeit etwas pessimistisch«

Nick Srnicek im Gespräch mit Philipp Frey über Plattform-Kapitalismus, die Macht der digitalen Giganten und eine Linke, die wieder mehr von Technik verstehen muss.

02.11.2018
Nick Srnicek
Nick Srnicek im Gespräch mit Philipp Frey über Plattform-Kapitalismus, die Macht der digitalen Giganten und eine Linke, die wieder mehr von Technik verstehen muss. Ein Beitrag aus dem OXI-Schwerpunkt »Linke und Technik« der Oktober-Druckausgabe.

Philipp Frey: Im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung treten vermehrt wirtschaftliche Akteure in Erscheinung, die als Plattform-Unternehmen bezeichnet werden. Was ist das Besondere an diesen neuen Wirtschaftsakteuren wie Google oder Uber? 

Nick Srnicek: Plattformen verfolgen ein anderes Geschäftsmodell, als wir es aus dem traditionellen Fordismus oder sogar aus dem Postfordismus kennen. Grundsätzlich fungieren Plattformen als Vermittler zwischen verschiedenen Personengruppen. Facebook führt beispielsweise hauptsächlich Nutzer*innen und Werbetreibende, aber auch Unternehmen und App-Entwickler zusammen. Uber wiederum vereint Fahrer*innen auf der einen Seite der Plattform mit Fahrgästen auf der anderen Seite der Plattform. Das Geschäft der Firmen, die Plattformen betreiben, besteht also nicht notwendigerweise darin, Waren oder Güter zu produzieren, sondern darin, den Kontakt zwischen verschiedenen Personengruppen herzustellen.

Drücken diese Plattformen aus deiner Sicht dem globalen Kapitalismus als Ganzem ihren Stempel auf oder handelt es sich vielmehr nur um einen weiteren ökonomischen Sektor?

Ich würde nicht sagen, dass die Plattformen den zeitgenössischen Kapitalismus als Ganzes prägen, aber ihre Bedeutung wächst zunehmend. Selbstverständlich koexistieren bestehende kapitalistische Strukturen und diese Plattformen. Es lassen sich allerdings zwei Tendenzen erkennen: Zum einen dominieren die Plattformen zunehmend strategisch wichtige Positionen innerhalb des Wirtschaftsgeschehens. Zum anderen durchdringen Plattform-Unternehmen zunehmend auch klassischere Wirtschaftszweige. Uber ist hierfür ein gutes Beispiel.

Warum?

Vor 15 Jahren galt das Taxigeschäft nicht gerade als trendy und hip – und auf einmal transformiert Uber dieses Geschäft. Plattform-Unternehmen engagieren sich neben dem Taxigeschäft auch zunehmend in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen, in Zweigen der Wirtschaft also, die nicht klassischerweise als Technologiesektoren gelten. Deswegen halte ich es für wichtig, zu verstehen, was es mit dem Plattform-Modell auf sich hat und welche Anreizstrukturen und Dynamiken dort vorherrschen, wenn wir etwas über die Zukunft des globalen Kapitalismus im Allgemeinen lernen möchten.

Plattform-Unternehmen erreichen zum Teil extrem hohe Marktkapitalisierungen – für wie »nachhaltig« hältst du die Entwicklung des Plattform-Kapitalismus? Handelt es sich dabei vielleicht primär um die nächste große Spekulationsblase?

Ich meine, dass die hohe Marktkapitalisierung dieser Unternehmen primär den Wert ihrer Daten und ihrer großen Nutzerbasis widerspiegelt. Diese Nutzerbasis ist deswegen so wichtig, weil sie durch den sogenannten Netzwerkeffekt – den Umstand, dass die Nützlichkeit von Plattformen mit der Anzahl ihrer Nutzer steigt – die Attraktivität der Plattformen erhöht. Insofern handelt es sich dabei aus meiner Sicht nicht um reine Spekulation. Dennoch bleibt die Frage, welche Bedeutung die Plattformen für die weitere Entwicklung des Kapitalismus spielen können. Zu der Frage gibt es zwei polarisierte Standpunkte.

Welche?

Aus Sicht des einen Standpunkts eignen sich die Plattformen die Daten, die im Zuge unserer Onlineaktivitäten anfallen, an und ziehen daraus einen Mehrwert. So gesehen würde auch der Mehrwert in der kapitalistischen Ökonomie im Ganzen wachsen. Ich glaube nicht, dass das tatsächlich passiert. Statt Mehrwert zu extrahieren, scheinen mir diese Plattform-Unternehmen eher eine Art Rente von anderen Unternehmen einzuziehen. Ich tendiere entsprechend dazu, die Plattform-Ökonomie nicht als originären Wachstumssektor zu verstehen, der den Kapitalismus verjüngen könnte, auch wenn es hier wichtige Nuancen gibt und ich nicht denke, dass die Frage bereits final entschieden ist.

In deinem Buch differenzierst du verschiedene Geschäftsmodelle von Plattform-Unternehmen. Was hat es damit auf sich?

Als ich anfing, mich mit den Plattformen zu befassen, frustrierte mich, dass der Begriff der Plattformen stark verallgemeinernd verwendet wurde, wobei es mir einigermaßen offensichtlich schien, dass es massive Unterschiede gibt zwischen dem, was etwa Google macht, und dem, was beispielsweise Uber macht. Ich wollte mich also aus marxistischer Perspektive mit den Unterschieden zwischen diesen verschiedenen Plattform-Geschäftsmodellen befassen – und zwar entlang der Frage, wie diese Firmen Umsatz und Profit generieren. Wenn man sich den Plattformen aus dieser Perspektive nähert, dann stellt man fest, dass Facebook und Google fast ihren gesamten Umsatz durch Werbung machen. Sie sind also fast vollständig auf das Werbegeschäft angewiesen, was ihr Agieren als kapitalistische Firmen bestimmt. Uber hingegen macht seine Umsätze nicht mit Werbung, sondern dadurch, dass die Plattform des Unternehmens wie eine Art schlanke Sharing-Plattform als Intermediär für Taxifahrer*innen und Kund*innen fungiert – wofür Uber über fast keine eigenen Vermögenswerte verfügen und auch keine Sozialversicherungen et cetera bezahlen musste. Ich glaube nicht, dass dieses spezielle Modell auf Dauer funktioniert und wir können bereits beobachten, wie Uber sich in neue Geschäftsfelder bewegt.

Du hältst Ubers Geschäftsmodell also nicht für aussichtsreich?

Vor einiger Zeit hieß es ja noch, Uber sei das weltgrößte Taxiunternehmen und würde kein Taxi besitzen. Damals stimmte das vielleicht noch, aber wir können jetzt eine Umkehr beobachten: Uber kaufte letztes Jahr um die 24.000 Wagen und investiert derzeit stark in selbstfahrende Autos, was darauf hindeutet, dass die Firma bereit ist, nun auch Anlagevermögen zu bilden. Ähnliche Entwicklungen gibt es bei Airbnb. Das scheint mir bereits anzuzeigen, dass sie selbst anerkennen, dass das Geschäftsmodell einer schlanken Sharing-Plattform nicht auf Dauer profitabel ist. Man darf auch nicht vergessen, dass Uber 2016 drei Milliarden Dollar und 2017 viereinhalb Milliarden Dollar Verlust einfuhr – und diese Verluste scheinen weiter anzuwachsen dieses Jahr. Mit Uber soll uns also eine Firma, die innerhalb von drei Jahren zehn Milliarden Dollar verloren und eben keine Profite generiert hat, als Leuchtturm kapitalistischer Innovation präsentiert werden.

In der in Deutschland dominanten »Industrie 4.0«-Debatte nehmen Technologiekonzerne wie Siemens oder SAP eine zentrale Rolle ein. Wie würdest du ihr Engagement interpretieren? 

Ich meine, man kann eine zunehmende Teilung zwischen Plattform- und traditionelleren, Nicht-Plattform-Unternehmen beobachten. So sieht man beispielsweise im Fall von Facebook und Google, dass traditionellere Medienfirmen zunehmend von den Plattformen anhängig werden, um ihre Informationen an die Kund*innen zu bringen. Auch im Zuge der zunehmenden Expansion von Plattformen in andere Wirtschaftssektoren, insbesondere in die industrielle Produktion, sehen wir diese Teilung: Siemens und General Electric (GE) versuchen, cloud-basierte Plattformen für hochautomatisierte industrielle Produktion zu etablieren, mit dem Ziel, dass nicht jede einzelne Firma eine eigene IT-Infrastruktur für ihre automatisierte Fabrik aufbaut, sondern Firmen die cloud-basierte Steuerung ihrer Fabrik als Service von GE oder Siemens einkaufen. Damit entsteht eine interessante Polarisierung zwischen denjenigen Firmen, die in ihrer Produktion etwa von Siemens oder GE abhängig sind, und den traditionelleren Produzenten, die über eine eigene Infrastruktur verfügen. Siemens und GE scheinen erkannt zu haben, dass sie, wenn sie hohe Umsätze und starken Einfluss in der aus der industriellen Fertigung erzielen wollen, sich als Anbieter solcher Plattformen etablieren müssen. Ich halte das für eine bedenkliche Entwicklung, da Plattformen aufgrund ihrer grundlegenden Eigenschaft, sich Netzwerkeffekte zunutze zu machen, zur Monopolbildung tendieren. Ich glaube, wir werden eine massive Auseinandersetzung zwischen GE und Siemens darum sehen, wer sich als Plattform-Anbieter für die Industrie durchsetzt und am Ende dieser Entwicklung könnten in einem Jahrzehnt in der industriellen Fertigung dieselben Probleme stehen, die wir heutzutage bei Facebook und Google und den klassischen Medienfirmen beobachten können.

Welche Herausforderungen stellt der Plattform-Kapitalismus aus deiner Sicht an linke Politik? 

Ich denke, wir werden uns mehr Kenntnisse über die Technologien, die derzeit entwickelt und implementiert werden, aneignen müssen. Ich würde sagen, dass die Linke seit einigen Jahrzehnten technologische Entwicklung instinktiv primär kritisiert hat. Und das nicht ohne guten Grund: Technologie, wie wir sie heute kennen, wird von kapitalistischen Unternehmen entwickelt und betrieben und nicht im Interesse der einfachen Bevölkerung oder der Arbeiter*innen – allerdings war es das traditionelle Versprechen der Linken seit Marx, dass die Technologie dazu eingesetzt werden könnte, uns vom Mangel und der (Lohn-)Arbeit zu befreien. Ich finde, wir sollten uns daran erinnern und uns wieder trauen, darüber nachzudenken, was mit diesen Technologien angestellt werden könnte, wenn sie von Arbeiter*innen statt von Kapitalist*innen produziert, organisiert und kontrolliert werden würden. Um dieses allgemeine Projekt angehen zu können, brauchen wir aus meiner Sicht wie gesagt technologische Kenntnisse – wir sollten aber auch Koalitionen mit Arbeiter*innen aus der Technologiebranche aufbauen. Viele Tech-Arbeiter*innen steigen in die Technologiebranche ein, weil sie die Welt zu einem besseren Ort machen möchten. Oft geht das mit einiger Naivität einher – man sollte diesen Antrieb als Linke dennoch nicht einfach verwerfen. Stattdessen sollte man insbesondere angesichts der zunehmenden Bedeutung des Technologiesektors und seiner Firmen daran anknüpfen. Denken wir beispielsweise an die Bedeutung der Streiks in der Automobilindustrie, die in den 1950er und 1960er Jahren geführt wurden. Aus meiner Sicht könnte man heute die Tech-Arbeiter*innen als zentrale Akteure im Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft verstehen.

Meinst du das in einem quantitativen oder qualitativen Sinne? Schließlich machten die Industriearbeiter*innen einen viel größeren Anteil der Bevölkerung aus als die Angestellten im Technologiesektor heute …

Beverly Silver hat sich mit der Frage befasst, wie Arbeiter*innen Macht aufbauen können. Eine Quelle ist dabei die Verhandlungsmacht auf Betriebsebene, die die Arbeiter*innen aufgrund ihrer spezifischen Position im Kapitalismus innehaben. Und diese Verhandlungsmacht kann relativ unabhängig sein von ihrer Zahl. Die Beschäftigten in Schlüsselbetrieben der Automobilindustrie waren dafür ein gutes Beispiel, aber Ähnliches gilt heute auch für Hafenarbeiter*innen, weil ein Streik dieser Arbeiter*innen an der amerikanischen Westküste beispielsweise die gesamte Wirtschaft der USA in Mitleidenschaft ziehen würde. Zwar gibt es nicht so viele Hafenarbeiter*innen, aber sie verfügen über einige Verhandlungsmacht. Ähnlich verhält es sich aus meiner Sicht mit den Beschäftigten in der Technologiebranche, da sie einen zentralen Ort im Wirtschaftsgeschehen innehaben, und ich denke, die Linke sollte versuchen, sie von ihrer eigenen Handlungsmacht zu überzeugen und für linke Ziele zu mobilisieren.

Wie siehst du die deutsche Ökonomie im globalen Marktgeschehen verortet und wie nimmst du die Debatten in Deutschland wahr?

Die deutsche Wirtschaft hat, insbesondere was die verarbeitende Industrie anbelangt, eine strategisch wichtige Position inne, insofern können in Deutschland Weichen für die weitere Entwicklung der zukünftigen Produktionsinfrastruktur gestellt werden. Auch gibt es in Deutschland etwa innerhalb der Gewerkschaften interessante Debatten zu der Frage der Arbeitszeitverkürzungen. Nicht zuletzt kommen aus Deutschland parteiübergreifend einige Anregungen, wie man mit den Plattform-Monopolisten umgehen könnte. Allerdings affirmieren die meisten dieser Anregungen die kapitalistische Konkurrenz. Die Vorschläge, Plattformen stärker zu besteuern und zu regulieren, zielen letztlich darauf ab, die Macht der digitalen Giganten zu begrenzen, um mehr Wettbewerb und Auswahl für die Konsument*innen zu ermöglichen. Im Grunde ist der Vorwurf also, dass Monopolisten nicht kapitalistisch genug seien. Die sozialistische Linke sollte sich dieser Limitation bewusst sein. Das Problem sind aus meiner Sicht nicht in erster Linie die Monopole, sondern die Ziele dieser Monopole. Das Problem ist, dass sie betrieben werden, um möglichst viel Profit zu machen – wenn sie im Interesse der Lohnabhängigen betrieben würden, dann wären sie anders zu bewerten.

Siehst du in Europa politische Ansätze, die den Monopolisten des digitalen Kapitalismus gefährlich werden könnten?

Ich bin derzeit etwas pessimistisch gestimmt. Es gibt erste Ideen, speziell im genossenschaftlichen Sektor. Digitale Genossenschaften können eine interessante, wenn auch begrenzte Alternative zu den Plattform-Unternehmen darstellen. Neben dem genossenschaftlichen Sektor gibt es auch Vorschläge, Plattformen in öffentliche Trägerschaft zu überführen, allerdings sind diese Vorschläge aus meiner Sicht noch nicht ausreichend ausgearbeitet für eine zeitnahe Realisierung.

Inwiefern kann oder sollte der Referenzrahmen progressiver Politik bei der Regulation und vielleicht auch Transformation der Plattformen national bleiben? 

Aus meiner Sicht gibt es brauchbare nationale Antworten auf die Herausforderungen des Plattform-Kapitalismus. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass ein Land die Einführung von Kommunikationsschnittstellen für soziale Netzwerke vorschreibt und dann seine eigene, öffentliche Version von Facebook aufbaut. Auch wenn man sich aber nationale Antworten vorstellen kann, bleiben sie dennoch ein Stück weit unbefriedigend: Einer der Vorteile der Plattformen ist es ja gerade, dass sie global sind, nationale Grenzen überschreiten und eine globale Zukunft jenseits des klassischen Nationalstaats verheißen. Was ich faszinierend fände, wäre eine internationale linke Antwort auf die Plattformen, etwa wenn eine Reihe von Ländern gemeinsam ein soziales Netzwerk entwickeln würde, das nicht nur einem einzelnen Nationalstaat und seiner Überwachung unterstehen würde und nicht mehr an die Idee des Nationalstaates gebunden wäre. Vielleicht könnte man eine solche Plattform auf Blockchain-Technologie basieren, sodass die Plattform auch ohne einen zentralisierten Eigentümer nutzbar und in gewisser Weise dem staatlichen Zugriff entzogen wäre. Hier ließe sich aus meiner Sicht anknüpfen, um darüber nachzudenken, wie eine globalisierte Plattform-Infrastruktur aussehen könnte, die die Vorteile der digitalen Monopole nutzbar macht und nicht auf den Nationalstaat als Referenzpunkt zurückfällt.

Nick Srnicek, Jahrgang 1982, ist Dozent für Internationale Politische Ökonomie im Fachbereich Digitale Geisteswissenschaften an der University of London. Er hat Psychologie und Philosophie studiert und ist Autor mehrere Bücher zur Politischen Ökonomie der Digitalisierung und zu den Antworten der Linken darauf. Zuletzt erschien von ihm »PlattformKapitalismus« in der »Hamburger Edition« des Verlags des Instituts für Sozialforschung.

Mit ihm sprach Philipp Frey, der am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse forscht. Er gehört zu den Initiatoren des neugegründeten »Zentrums emanzipatorische Technikforschung«.

Das Interview führte:

Philipp Frey

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