Ich träume von einer Care-Revolution
Putzen, pflegen, erziehen, betreuen – was wir am nötigsten brauchen, bezahlen wir nicht. Und erweisen ihm auch keine Anerkennung.
Wenn an öffentlicher Kinderbetreuung, guter Pflege und anderen sozialen Dienstleistungen gespart wird, sieht man die Effekte in den Haushalten der öffentlichen Hand und der Sozialversicherungen vielleicht als positiv an. Für die Gesellschaft aber sind sie verheerend. Care, die Sorge für sich und andere, kann bezahlt und unbezahlt geleistet werden, öffentlich, privat und im Privathaushalt. Dass Care notwendig ist für die Menschen und für das Funktionieren einer Gesellschaft, ist klar. Trotzdem wird diesen Tätigkeiten seit der Industrialisierung der Produktionscharakter abgesprochen. Das ist ein Teil des großen Problems. Vielleicht kennen Sie den Spruch des Volkswirtschaftlers Friedrich List: »Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied dieser Gesellschaft.« Er bringt die Absurdität unseres Denkens auf den Punkt. Warum misst das Bruttosozialprodukt nicht auch den Wert der unbezahlten Arbeit? Wir investieren zu wenig Geld in Care, stattdessen lieber in überforderte Eltern oder pflegende Angehörige, in ausgebrannte, arbeitsunfähige Erzieherinnen und Pflegekräfte.
Von der Care-Krise zur Care-Revolution
Heute müssen wir deshalb von einer Care-Krise sprechen. Soziale Berufe sind unterbezahlt, das Putzen öffentlicher Gebäude wird an Billigfirmen »outgesourct«, die Arbeit als Pfleger oder Pflegerin hält aufgrund der Arbeitsbedingungen kaum jemand ein Berufsleben lang durch. Immer mehr Menschen arbeiten in Vollzeit oder in mehreren Jobs, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und haben wenig Zeit für Care. So sind Schattenarbeitsmärkte für migrantische Arbeitskräfte entstanden, um die Krise zu bewältigen.
Heute können Frauen im Berufsleben Erfolge verzeichnen, die ihnen früher verschlossen waren, aber sie tun dies unter Verzicht auf Sorge für andere. Das »Lean in«-Karrieremodell, propagiert von der amerikanischen Top-Managerin Sheryl Sandberg, basiert auf »leaning on others«, nämlich auf Dienstleistungen migrantischer Frauen.
Ich träume von einer Aufwertung von Care. Sie soll ihrer gesellschaftlichen Bedeutung endlich gerecht werden, aber ohne die traditionelle und derzeitige Beimischung von Sexismus und Rassismus. Das wäre für mich eine Care-Revolution, denn eine solche Utopie verlangt die Freiheit des Denkens. Wir müssen uns endlich lösen vom Denken des 19. Jahrhunderts, das Care als weibliche und quasi natürliche Aufgabe betrachtete, die privat ist oder eben schlecht bezahlt und semiprofessionell im öffentlichen Bereich angesiedelt wird. Um es kurz zu machen: Es muss mehr Geld ins System, es braucht aber auch ein anderes System.
Wege aus der Effizienzfalle
Wir brauchen eine neue Kultur der Anerkennung von Care. Care ist wesentlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Basis für eine funktionierende Wirtschaft. Soziale Dienstleistungen müssen vielfältig und hochwertig zur Verfügung stehen, die Menschen brauchen aber auch Zeit, um selbst Care zu leisten. Viele Denkerinnen bieten dafür Modelle: Frigga Haug mit ihrer 4-in-1-Perspektive weist darauf hin, dass die vier Tätigkeitsbereiche des Lebens (Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, Kultur, Politik) gleichwertig nebeneinander stehen und nicht in einem hierarchischen Verhältnis. Die norwegische Soziologin Kari Wærness hat den Begriff der »Fürsorgerationalität« entwickelt. Der beschreibt, dass Care nach anderen Logiken funktioniert als sonstige Wirtschaftsbereiche und dem Streben nach Effizienz und schnelleren Resultaten (zum Beispiel in der Pflege) widerspricht. In der deutschen Debatte fordern Soziologinnen wie Jutta Allmendinger eine Familienarbeitszeit, die das Zeitregime der Wirtschaft zu Gunsten von Sorgearbeitenden umkrempelt.
Mit seinem Wahlarbeitszeitgesetz hat der Deutsche Juristinnenbund ein Modell entwicklelt, wie das konkret aussehen könnte. Das Netzwerk »Care macht mehr« weist darauf hin, dass alle Ebenen von Care in den politischen Blick genommen werden müssen, um die Krise zu bewältigen. Der transnationale Blick ist dabei wohl der schwierigste. Wie kann es gelingen, die Care-Krise nicht einfach zu exportieren in andere Länder, in denen pflegebedürftige Angehörige unversorgt zurückbleiben, weil der hiesige Arbeitsmarkt ein besseres Einkommen verspricht? Werden Menschen ohne Ausbildung in schlecht bezahlte Care-Berufe gedrängt, die sie gar nicht machen wollen? Insofern klang es für mich eher nach Dystopie, als der Ökonom Hans-Werner Sinn die Integration Geflüchteter auf dem deutschen Arbeitsmarkt in der Zeit mit den Worten kommentierte: »Wir werden leichter an eine Putzkraft kommen.«
Der Artikel erschien in der OXI Ausgabe 10/2016.
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