Wirtschaft
anders denken.

Die Sache mit der »Bescheidenheit«: Die Gewerkschaft IG BCE und wie man über Kapitalismus redet

03.04.2018
IG BCE, Lizenz: CC BY-SA 2.0Vassiliadis auf einem Gewerkschaftstag der IG BCE

Der Chef der Gewerkschaft IG BCE sieht vor der Tarifrunde »keinen Grund für Bescheidenheit«. Klingt gut, ist es aber nicht. Wer so redet, verlängert die gewerkschaftlichen Defensive. Ein Kommentar über Sprache, die dem Denken eine falsche Richtung vorgibt. Und über einen Rat, den Karl Marx vielleicht gegeben hätte.

Michael Vassiliadis hat mit Blick auf die anstehende Tarifrunde in der Chemiebranche eine zurzeit nicht eben seltene Gewerkschaftsposition formuliert: Angesichts der guten wirtschaftlichen Lage der Unternehmen sehe er »überhaupt keinen Grund für Bescheidenheit«. Das ist sicher gut gemeint, soll betriebliche Bereitschaft demonstrieren, ein angemessenes Stück vom produzierten Reichtum zu verlangen. Und doch bleibt es eine Parole der gewerkschaftlichen Defensive. Warum?

Erstens, weil sie in der Logik eines historischen Fehlers verbleibt – die von den meisten Gewerkschaften mitgetragene angebotspolitische Unterwerfung vor allem der 1990er Jahre, laut der Lohnzurückhaltung der Beschäftigten für die Unternehmen, also damit für den Standort Deutschland, und so eben auch für Jobs und die lohnpolitischen Aussichten sinnvoll sei – also auch für die Beschäftigten.

In Wahrheit lief das Modell auf die Verstetigung einer exportnationalistischen Strategie jener Branchen hinaus, die sich im  Außenhandel Vorteile durch Druck auf die Löhne verschafften. Das hat zwar Weltmeister-Medaillen gebracht, aber nicht nur die Binnennachfrage, sondern auch die Idee eines wirtschaftspolitischen Gleichgewichts wenigstens in Europa langfristig geschwächt. Wer heute über die ökonomisch getriebene Krise der EU reden will, kommt an diesem gewerkschaftlichen Strategiefehler nicht vorbei. Das ist sozusagen die wirtschaftspolitische Dimension des Fehlers.

Wie sprachliche Muster Politik machen

Ein zweiter Punkt zum Bedenken betrifft die diskurspolitische Ebene. Wer sagt, er sehe aufgrund irgendwelcher ökonomischer Parameter derzeit »überhaupt keinen Grund für Bescheidenheit«, der formuliert damit auch noch etwas anderes – ob gewollt oder nicht: dass es unter anderen Umständen Gründe für tarifpolitische Bescheidenheit gibt. Gibt es die?

Nun ist es sicher richtig, dass in bestimmten Situationen einzelner Betriebe Lohnpolitik auch mit Blick auf vorübergehende Krisen gemacht werden kann. Auf der anderen Seite hat sich im Denken vieler Leute auch über solche sprachlichen Muster über lange Zeit das Interesse von wenigen eingenistet: Was als angemessen, richtig, den allgemeinen Bedürfnissen entsprechend angesehen wird, wurde diskurspolitisch erst »gemacht«. Wer von Politikwechsel oder anderen Wendewünschen spricht, sollte diese Ebene nie unterschätzen. Tausende Bauchredner der Interessen des Kapitals haben ziemlich erfolgreich daran mitgewirkt, dass viele glauben, die Gesellschaft hätte mehr davon, wenn man es vorrangig berücksichtigt.

Wie sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gezeigt hat, ist es sehr schwer, so etwas zu korrigieren – um den Begriff der »Bescheidenheit« oszillierte noch jede Debatte darüber, ob die Gewerkschaften denn nun mal ein bisschen mehr Lohn fordern dürften, oder ob dann gleich das »deutsche Erfolgsmodell« zusammenbricht, das ein Modell des Erfolgs von wenigen war, wie man an den Statistiken über die Einkommensverteilung sehen kann. Ein Beispiel aus 2008. Eines aus dem Jahr 2014. Nicht die einzigen: Googeln Sie doch einfach mal Tarifrunde und Bescheidenheit. Und na klar, es hat, auch an vielleicht unerwarteter Stelle, auch immer wieder etwas Kritik daran gegeben, nicht nur bei gewerkschaftsnahen Denkfabriken.

Ein Rat von Karl Marx und Hans-Jürgen Urban

Man könnte es vielleicht so sagen: Aus gewerkschaftlicher Perspektive sollte es eigentlich nie »Grund für Bescheidenheit« geben. Der gesellschaftlich erzeugte Reichtum wird von denen produziert, die von den Gewerkschaften vertreten werden. Ihre Politik und Strategie, daran hat Hans-Jürgen Urban unlängst erinnert, könnte sich öfter als in den vergangenen Jahrzehnten einmal bei Marx erkundigen, was es mit der Besonderheit der Ware Arbeitskraft auf sich hat.

»Sie vermag ein höheres Wertprodukt zu erzeugen, als ihre Reproduktion kostet. Und dieses Mehrprodukt eignet sich der Kapitalist, getrieben durch das Zwangsgesetz der Konkurrenz, an, um es immerfort als Kapital zu akkumulieren.« Der Mann aus dem IG-Metall-Vorstand zitiert Marx mit den Worten, die »Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt«. Und zieht daraus den Schluss: »Damit machte er deutlich, dass der Wertanteil, den der gewerkschaftliche Lohnkampf für die Arbeitskraft sichern kann, nicht willkürlich festzulegen, sondern an den Stand der Akkumulation gebunden ist. Er hat sich im Kontinuum zwischen den Reproduktionskosten der Arbeitskraft und den notwendigen Mindestprofiten des Kapitals zu bewegen. Jedenfalls solange die Zwänge des Lohnsystems akzeptiert werden.« Entscheidend ist der folgende Satz Urbans: »Doch eine Bescheidung der gewerkschaftlichen Forderungen auf Verteilungsneutralität war damit nicht empfohlen.«

Ein Leben auf der Stufe des ökonomisch Möglichen

Einmal abgesehen, dass dieser angeblich so neutrale Spielraum aus Preis- und Produktivitätsentwicklung in der tarifpolitischen Vergangenheit »vielfach nicht einmal« ausgeschöpft wurde, markiert er – ähnlich wie die »Bescheidenheit« – einen Rahmen des Sagbaren und damit auch Machbaren. Urban noch einmal: »Wäre es da nicht sinnvoll, einen zentralen Marx’schen Gedanken zu rehabilitieren: dass der Lohn im Kapitalismus seine Begründung nicht aus Wettbewerbsrücksichtnahmen bezieht, sondern aus dem Recht der Arbeitenden, ein Leben auf der Kulturstufe des Landes und des ökonomisch Möglichen zu führen? Zu fordern wäre demnach nicht, was verteilungsneutral ist, sondern was die Menschen für ein gutes Leben brauchen und wollen.«

Das wäre ein Ende einer »Bescheidenheit« der real existierenden Gewerkschaften, die bisher viel zu sehr in der Logik von »Wettbewerbsrücksichtnahmen«, Standortinteresse und so fort agieren. Wäre es so gemeint, müsste man Vassiliadis zustimmen. Allein: Gerade von der IG BCE wird man eine grundlegende Änderung des lohnpolitischen Denkens eher nicht erwarten. Sie sei, so schreibt es die »Rheinische Post«, der man hier nicht widersprechen möchte, »ein Sonderfall unter den Gewerkschaften. Gestreikt hat sie in ihrer Hauptbranche, der Chemie-Industrie, zuletzt in den 1970er Jahren.«

Dabei ist das Denken auch vom Reden immer wieder ausgerichtet, in Raster gezwängt, ja: bescheiden gemacht worden. »Wir würden nie Fahnen und Trillerpfeifen rausholen, nur um Show zu machen«, sagt der IG-BCE-Chef. Würde die Gewerkschaft den Rat von Hans-Jürgen Urban annehmen, niemand würde glauben, dass Streikaktionen nur irgendeiner Show dienen könnten. Indem der Vorsitzende einer DGB-Organisation aber so einen Satz sagt, beglaubigt er den darin liegenden Vorwurf, tarifpolitische Demonstrationen könnten überhaupt so etwas sein wie: Show. Wer so redet, wie Vassiliadis, hält schon die nächst Parole am Leben, die unter dem Strich in die gewerkschaftliche Defensive führt.

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