Wirtschaft
anders denken.

Im Kapitalismus ist nicht immer Weihnachten

11.12.2021
Eine Person übergibt ein goldenes Geschenk mit Schleife einer anderen Person. Im Hintergrund sieht man verschwommen Dekoration von WeihnachtenFoto: Bob Dmyt auf PixabayDer menschliche Naturzustand?

Die Form und nicht der Inhalt des Tausches ist für die geschaftlichen Verhältnisse entscheidend. Daran ändern auch Geschenke an Weihnachten nichts. Aus OXI 12/21.

Gleich am Anfang des zweiten Kapitels seines Hauptwerks »Wohlstand der Nationen« spricht Adam Smith von einer Neigung der menschlichen Natur und zwar von »der Neigung zum Tausch, zum Tauschhandel und zum Umtausch einer Sache gegen eine andere«. Man könnte also sagen, dass Weihnachten der Moment des Jahres ist, in dem die Menschen ihrer Natur am nächsten kommen, indem sie den Geschenketausch unterm Baum vollziehen.

Dass Tausch, Tauschhandel und Umtausch erst mit dem Kapitalismus die Stellung und Gewichtung bekommen, die Smith als »natürlich« und deswegen schon immer existierend postuliert, ist einer der wichtigsten Kritiken, die Marx an der klassischen politischen Ökonomie übt. Letztere geht praktisch vom Kapitalismus aus und erklärt alles, was in ihm und erst mit ihm wesentlich geworden ist, als in der Natur der Menschen enthalten, womit der Kapitalismus quasi der Natur des Menschen entsprungen, also eigentlich selbst natürlich ist.

Aber es ist nicht abzustreiten: Mit anderen zu tauschen ist praktisch und vielleicht sogar notwendig. Schließlich ist es äußerst mühsam, ganz allein durchs Leben zu kommen – Robinson Crusoe hat nur als Romanfigur überlebt. Und trotzdem ist Smiths Aussage zur Natur von Mensch und Tausch problematisch. Warum?

Erstens: Die Tatsache, dass Menschen sich die Arbeit teilen, dass der eine Brot backt und die andere Taxi fährt, muss nicht heißen, dass Tauschen eine natürliche Neigung der Menschen ist. Zweitens und noch wichtiger ist die Frage, wie die Taxifahrerin an das Brot kommt und wie der Bäcker zur Taxifahrt. Denn Tausch ist nicht gleich Tausch. Was Smith zu naturalisieren versucht, ist der kapitalistische Tausch. Der ist allerdings sehr besonders und erklärungsbedürftig.

Will die Taxifahrerin im Kapitalismus an Brot kommen, so muss sie dafür Geld bezahlen. Dieser Akt ist so normal für uns alle, dass er sich natürlich anfühlt. Von daher könnte nicht nur der bloße Tausch, sondern jeder Einkauf als Ausdruck einer »Neigung der menschlichen Natur« eingestuft werden. Und doch – für den größten Teil ihrer Geschichte mussten die meisten Menschen nicht mit Geld hantieren, um z.B. an Gebrauchsgüter zu kommen. Die Tatsache, dass wir es heute müssen, ist mit der besonderen Art und Weise verbunden, in der unsere Gesellschaft organisiert ist und vor allem mit den Zielen, für die überhaupt Brot gebacken oder Taxi gefahren wird. Solche Produkte oder Dienstleistungen sind nämlich nicht oder zumindest nicht in erster Linie dafür da, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Sie werden hauptsächlich als Mittel für einen Gewinn produziert und angeboten. Deswegen werden sie eben nur gegen Geld getauscht: Das Geld, das wir jeden Tag im Supermarkt zahlen, findet sich wieder im Gewinn von Rewe oder Lidl. Müssten Rewe und Lidl keinen Gewinn machen, müssten sie also nicht Waren gegen Geld tauschen, wären andere Arten und Weisen denkbar, wie die Leute an Brot und andere Güter gelangen. Es wäre zumindest nicht notwendig, über die Vermittlung des Geldes zu gehen.

In diesem Sinne ist eben Tausch nicht gleich Tausch. Und damit ist Brot auch nicht gleich Brot. Sitzen wir vor dem Weihnachtsbaum und tauschen Geschenke aus, so ist dieser Tausch nicht über Geld vermittelt und niemand verfolgt das Ziel einer Profitmaximierung. Man schenkt sich Dinge gegenseitig mit dem Ziel, anderen eine Freude zu machen oder sie mit mehr oder weniger notwendigen Büchern, Pyjamas oder Schals auszustatten. Die jeweiligen Geschenke existieren hier als Güter, die spannend, schön, warm oder eben öde, hässlich, nutzlos sind.

Auf dem Markt hingegen sind die Dinge Waren. Für H&M ist der Schal nicht warm und weich, er ist potenzielles Geld und nur für den Profit produziert worden. Derselbe Schal hat also unterschiedlichste Formen, weil wir eben Kapitalismus haben und nicht immer Weihnachten. In Marx’ Worten: »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist […] ein sinnlich übersinnliches Ding.« (MEW 23, S. 85)

Und welche Form Produkte annehmen, lässt sich von außen nicht erkennen, sondern nur am gesellschaftlichen Zusammenhang. Der Kuchen, den ich einem Freund backe und der ganzen WG zur Verfügung stelle, ist etwas ganz anderes als der, den ich als Angestellte für Starbucks backe und der gegen Geld für einen Profit verkauft wird, auch wenn beide identisch sind. Der Inhalt ist gleich, die Form eine komplett andere.

Will ich wissen, wie die Gesellschaft, in der ich lebe, organisiert ist, welche Ziele sie hauptsächlich verfolgt und welche Stellung welche Menschen in ihr haben, so spielt dabei der stoffliche Inhalt (Brot, Schal, Kuchen) keine Rolle. Es ist die Form, der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem der Inhalt sich befindet, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zwecken er produziert und getauscht wird, der mir das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen zueinander erklärt. Und das ist laut Marx das größte Problem bei Smith und Ricardo: Sie beschäftigen sich mit dem Inhalt und haben »niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt« (MEW 23, S.95), warum also Brot, Schal und Kuchen zu Waren werden, die gegen Geld getauscht werden.

Und das ist fatal, wenn man den Anspruch hat, gesellschaftliche Zusammenhänge zu erklären. Der pure Brotlaib erzählt uns nichts, er sah schon im Mittelalter mehr oder weniger aus wie heute und gibt daher keine Auskunft über Produktionsverhältnisse im Mittelalter und wie diese sich vom Kapitalismus unterscheiden. Und mehr noch: Die Stellung und Funktion verschiedener Dinge bleibt verschleiert und die Kritik an bestehenden Verhältnissen verliert an Kraft.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte um Digitalisierung, die sich vornehmlich um stoffliche Inhalte dreht: um Algorithmen, Roboter, 3D-Drucker und ähnliche Produkte, die angeblich unsere Wirtschaft vor Herausforderungen stellen und Arbeitsplätze bedrohen. Nur tut ein Roboter dies nicht als Automat, sondern nur dann, wenn er als Produktionsmittel eines Kapitalisten auftritt, mit dem die Produktionskosten zwecks Profitmaximierung verringert werden sollen. In der Fabrik soll ein Roboter Lohnkosten sparen, also Menschen um ihre Arbeit bringen. Hätten wir dagegen Weihnachten, würden wir den Roboter zum Kochen und Saugen einsetzen, damit er die lästige Arbeit macht und uns Zeit verschafft, gemeinsam unterm Baum zu sitzen. Man sieht: Auch die Arbeit wechselt die Form.

Der Formwechsel ist schließlich auch in der sogenannten Sharing Economy zu sehen. »To share« bedeutet »teilen«, und um zu beurteilen, ob und wie die Sharing Economy ggf. die Gesellschaft verändert, muss man die Frage nach der Struktur des Teilens stellen: Nutzt man als Gruppe gemeinsam ein Auto, so werden hier ein Gebrauchsgegenstand und die Kosten seiner Erhaltung geteilt. Leihe ich mir dagegen bei Sixt gegen Geld ein Auto, um zur Oma zu fahren, dann ist das Auto eine Ware, über die ich ein vorübergehendes Nutzungsrecht erwerbe und dafür zahle. Dass auch andere diese Ware zu einem anderen Zeitpunkt nutzen, also ebenfalls gegen Geld mieten können, dass ich mir also das Sixt-Auto mit vielen anderen Leute teile, ändert nichts am kapitalistischen gesellschaftlichen Zusammenhang und daran, dass Sixt das Auto gehört, weswegen es Geld für die Vermietung verlangen kann, womit es seinen Profit macht, der Zweck der Vermietung ist. Teilen ist eben nicht gleich Teilen und im Kapitalismus ist nicht immer Weihnachten.

Geschrieben von:

Antonella Muzzupappa

Referentin Rosa-Luxemburg-Stiftung

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