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Ist die Industrie 4.0 eine (R)evolution?

Die Digitalisierung der Industrie: Ist die Industrie 4.0 eine (R)evolution? Warum wird nicht effizienter und nachhaltiger produziert? Wieso sind Arbeitszeitkürzungen kein Thema? Sabine Pfeiffer gibt Antworten.

10.05.2016
Foto: Stephan Moll
Sabine Pfeiffer ist seit Anfang 2014 Professorin für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Universität Hohenheim. Sie arbeitet unter anderem in mehreren empirischen Projekten intensiv zu den Themen Industrie 4.0 und Arbeit 4.0. Zuvor war sie Professorin für „Innovation und kreative Entwicklung“ an der Hochschule München. Sie hat auf dem Zweiten Bildungsweg Abitur gemacht und Soziologie, Psychologie und Produktionstechnik studiert.

Industrie 4.0, Digitalisierung, Roboterisierung, künstliche Intelligenz, lernfähige Maschinen – ist das eine Evolution oder eine Revolution?

Pfeiffer: Ich bin unsicher. Wissen Sie, da geht es auch um technische Entwicklungen, die bahnen sich seit 20 Jahren an. Aber erst heute geraten viele von denen als neu in den Blick der Öffentlichkeit. Natürlich gibt es auch Sprünge. Ein Beispiel: Seit das erste iPhone auf dem Markt ist, hat sich das mobile Internet in großen Wellen verbreitet und auch weiterentwickelt. Mit diesem Produkt hatten sogar technikaffine Menschen, ich bin einer, das Gefühl, das ist eine neue Welt. Aber technisch hatte sich das seit etwa 20 Jahren angebahnt. Fachleute konnten also nicht überrascht sein. Trotzdem haben auch viele Unternehmer erst richtig hingeschaut, als dieses Gerät auf dem Markt war, und gestaunt: Mensch, da könnte es ja ganz neue Geschäftsmodelle geben. Und in der Robotik tut sich auch wirklich eine ganze Menge Neues. Allerdings: So intelligent wie die Roboter gerne dargestellt werden, sind sie noch lange nicht.

Es ist also auch eine Frage der Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit, wir hätten schon früher staunen können …

Ja. Dieser Hype, der sich nun einstellt, stiftet weitere Euphorie und pusht das Ganze.

Mehrere Techniken verstärken sich doch wechselseitig: das iPhone als einfach zu handhabender Schlüssel für zig Millionen Menschen ins mobile Internet, die immer billigeren, intelligenteren und lernfähigeren Roboter ….

Ich unterbreche Sie, weil schon das mit der Lernfähigkeit so nicht stimmt. Ich halte es unverändert für wichtig, diese Techniken strikt auseinanderzuhalten und genau zu schauen, was sie leisten können und was nicht. Also Web 2.0 und mobile Geräte, das ist ein Bereich. Robotik ist wieder ein anderer. Da ist der Preis entscheidend. Der ist inzwischen stark gesunken, so dass Roboter jetzt in viel mehr Bereichen eingesetzt werden können. Es gibt inzwischen Leichtbau-Roboter, die kosten nur noch 16 000 Euro. Da sind ja die meisten Kleinwagen teurer. Deshalb können die heute beispielsweise auch in der Logistik, also an den Rändern der Produktion eingesetzt werden. Denn der Kern der industriellen Produktion ist schon durchrationalisiert, da wird sich nicht mehr so viel ändern.

So richtig lernfähig, wie behauptet wird, sind diese Roboter also nicht?

Na ja, zumindest sind diese Roboter bisher bestenfalls halb so intelligent und produktiv, wie ihnen in der öffentlichen Debatte angedichtet wird. Diese Selbst-Lernfähigkeit, die sehe ich noch nicht.

Aber diese Techniken wirken doch erst richtig im Zusammenspiel. Mit der Digitalisierung kann jede Maschine mit Sensoren ausgestattet und beispielsweise mit Robotern vernetzt werden. Das ist der entscheidende Kick. Oder?

Wir sind in der Analyse präziser, wenn wir sauber trennen. Also: Wir haben das mobile Netz, dann die Robotik und dann die Vernetzung des Stofflichen. Bei letzterem, also bei dem sogenannten Internet der Dinge, da haben wir es mit einem großen Sprung zu tun. Maschinen, die bisher keine Datenträger waren, werden jetzt welche, vernetzen sich, tauschen produktionsrelevante Daten aus. Richtig. Aber auch da müssen wir feststellen: Im Produktionsbereich ist das nichts Neues. Auch da haben wir es mit einer stufenweisen, also inkrementellen Entwicklung zu tun, die sich über viele Jahre angebahnt hat. Im Zusammenhang mit dem Internet der Dinge wird ja heute beispielsweise groß herausgestellt, damit sei die vorausschauende Wartung möglich. Also die Maschine meldet, spätestens in zwei Wochen brauche ich ein Ersatzteil. Das ist heute schon möglich und findet sich auch überall in der Produktion. Keine Frage: Alles wird noch leistungsfähiger, weil die Sensoren noch billiger und leistungsfähiger werden, also noch mehr Daten erhoben werden können. Aber im Kern haben wir es nicht mit etwas gänzlich Neuem zu tun, wenn wir auf die Produktion sehen.

Neu ist, dass dieses Thema der neuen Techniken von der Industrie und der Politik richtig gepusht wird.

Was bringt denn diese Datensammel-Wut? Eine neue Qualität in der industriellen Produktion?

Ich bin viel in Unternehmen unterwegs. Da wird dann oft stolz erzählt, wie viel Terrabytes an Daten sie täglich produzieren. Aber was machen die mit denen? Ich habe oft den Eindruck, noch keine so richtig schlauen Sachen. Erst dann, wenn die genau wissen, was sie mit welchen Daten anfangen können, erst dann setzen sie zu einem Qualitätssprung an. Das dauert noch. Datenmengen sind nur so intelligent wie die Algorithmen, die mit ihnen umgehen und wie die Menschen, die mit den Ergebnissen sinnvoll etwas anfangen können. Intelligente Menschen haben wir ohne Frage, viele Daten auch – bei der Intelligenz der Algorithmen aber hapert es noch deutlich.

Noch einmal: Evolution oder Revolution?

Wir stehen an einer Schwelle zu einer Welt, in der sehr viel mehr technisch möglich ist als zuvor. Wo wir genau stehen, das werden wir erst in der Rückschau sagen können. Neu ist seit zwei, drei Jahren, dass dieses Thema der neuen Techniken von der Industrie selbst, also den Unternehmen und ihren Verbänden, und der Politik richtig gepusht wird. Themen, die vor drei, vier Jahren nur in IT-Blogs debattiert wurden, stehen heute in der Zeitung. Diese Neuerungen werden buchstäblich herbeigeredet. Ob sich alle Erwartungen – oder Befürchtungen – erfüllen, das wird sich erst noch zeigen.

Was meinen Sie mit Herbeireden?

Wir machen gerade ein empirisches Projekt im Maschinenbau. Da gibt es Unternehmen, die entwickeln für die kommende Messe konkrete Maschinen-Produkte. Ich frage die Entwickler dort, warum entwickeln sie das jetzt? Denn rein technisch gesehen hätten sie dieses neue Produkt schon vor fünf Jahren entwickeln können. Damals haben sie es aber nicht gemacht. Und dann sagen die: Wir alle haben das Gefühl, da passiert gerade was, und wenn wir das jetzt nicht machen, dann machen es die anderen und wir sind abgehängt. Wir dürfen das nicht verpassen. Und wenn ich dann frage: Ja, haben Sie für das neue Produkt schon Kunden, gibt es einen Bedarf. Dann sagen die: das wissen wir noch nicht genau. Das heißt, im Maschinenbau werden heute neue Produkte entwickelt, von denen die Unternehmen weder wissen, ob es mal den Bedarf geben wird, noch ob sie damit mal richtig Geld verdienen werden. Das ist für diese Branche, die sonst nah am Kunden ist, eher ungewöhnlich. Ist das nun innovativ und disruptiv? Oder einfach fahrlässig? Das bleibt abzuwarten.

In den letzten 20 Jahren redeten fast alle von der Dienstleistungsgesellschaft, heute von Industrie 4.0. Gibt es eine Renaissance der Industrie?

Das finde ich das Schöne an dieser öffentlichen Debatte. Es wird wieder wahrgenommen, dass es eine echte Produktionssphäre gibt, wo richtige Menschen arbeiten. Darin liegt aber auch der Grund für das große Staunen der Öffentlichkeit und warum so schnell von einer industriellen Revolution geredet wird: Mindestens 20 Jahre lang blickten die meisten Menschen auf die Dienstleistungsgesellschaft und nicht auf die Industrie. Sie wurde bestenfalls als Umweltverschmutzer wahrgenommen oder als von Verlagerung bedrohtes Auslaufmodell. Dass wir in Deutschland einen bedeutenden und hoch innovativen industriellen Sektor haben, war lange aus dem Blick der Öffentlichkeit und auch der Politik verschwunden. Deswegen haben viele auch nicht wahrgenommen, was dort in den vergangenen Jahren ständig an technischer Weiterentwicklung und Digitalisierung gelaufen ist.

Es wird wieder wahrgenommen, dass es eine echte Produktionssphäre gibt, wo richtige Menschen arbeiten.

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Es heißt, die Entwicklung sei unberechenbar, es könne zu disruptiven Entwicklungen kommen, so dass die Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Beispiel: Künftig werde Google der große Autobauer sein und eventuell Daimler und VW in die Knie zwingen.

Kann sein, kann nicht sein. Mir ist in diesem Zusammenhang etwas anderes wichtig. Wir stehen in der Auto-Produktion an einer Stelle, an der – nach einer langen inkrementellen Entwicklung – eine große Technik von einer anderen abgelöst werden kann. Der Verbrennungsmotor vom Elektromotor. Und das stellt in der Tat die jetzigen Verhältnisse auf den Kopf. Ob das Elektroauto sich auch noch autonom steuert oder nicht, das ist für die Autobauer erst einmal zweitrangig. Das Wichtigste ist für die, ob sie den Wechsel von der Verbrennungs- zur Elektrotechnik hinkriegen und ob und wie schnell der Verbrennungsmotor wirklich obsolet sein wird. Wir haben es hier mit einer fundamentalen Entwicklung zu tun: Eine in 150 Jahren aufgebaute Kompetenz in Sachen Verbrennungsmotor mit seinen überwiegend mechanisch anspruchsvollen Fertigungsverfahren könnte hinfällig werden. Das wäre für unsere Volkswirtschaft ein ungeheurer Vorgang. Und nun noch zu Google. Dass die Autobauer auf die Absichten dieses Konzerns erst einmal mit viel Respekt oder gar Ängsten reagieren, das ist naheliegend. Denn Google hat eine ungeheuer große Investitionsmacht. Da kommt weltweit ja fast kein anderer mit. Aber auch Tesla und kleinere unbekannte Akteure tummeln sich auf dem Markt des Elektromobils und des autonomen Fahrens. Das ist schon etwas Neues für die großen Hersteller, dass sie nicht nur untereinander konkurrieren, sondern auf einmal mit ganz anderen Herausforderern zu tun haben.

Bis zu 47 Prozent der Arbeitsplätze sollen weltweit wegfallen.

Aber Elektroauto mit einem Computer als Fahrer, das ist doch noch eine Schippe obendrauf.

Ja, das ist richtig. Ich sensibilisiere trotzdem noch einmal für die Umwälzungen, die das Elektroauto selbst mit sich bringt. Wo stehen heute die meisten Roboter, die von dem deutschen Unternehmen Kuka gebaut werden? Bei VW. Wenn VW gar keine Industrieroboter mehr braucht, weil kein schwerer Verbrennungsmotor mehr in die Karosserie gehoben werden muss oder die Bremssysteme nicht mehr so komplex sein müssen, dann ist das ein sehr tiefer Einschnitt. Da verändert sich die Lage für die Beschäftigten und die Produktionsabläufe komplett. Natürlich hat in diesem Zusammenhang das autonome Fahren weitere enorme Auswirkungen. Studien behaupten, bis zu 47 Prozent aller Arbeitsplätze in der Wirtschaft werden künftig weltweit wegfallen. Die begründen dies unter anderem mit dieser neuen Technik: Denn mit autonomen Fahrzeugen würden viele Fahrer in Logistik, Transport und Services nicht mehr gebraucht. Würde das autonome Fahren im realen Straßenverkehr zur realen und alltagstauglichen Option, dann träfe das sehr schnell etwa alle Paketlieferdienste und die Arbeitskräfte dort.

Gibt es halbwegs verlässliche Studien und Schätzungen, wie sich die Industrie wegen der Digitalisierung in den kommenden zehn Jahren verändern wird?

Die von mir gerade erwähnte Studie von Fry und Osborne rechnet mit den 47 Prozent an Arbeitsplätzen, die wegfallen. In der gleichen Logik rechnen andere für Deutschland damit, dass 42 Prozent aller Arbeitsplätze wegfallen. Ich bin da skeptisch. Zumal diese Studie auch anfechtbar ist: Es wurden letztlich sehr wenige Experten gefragt, welche Berufe wegfallen könnten. Die Aussagen sind also meines Erachtens mit Vorsicht zu genießen. Richtig unseriös ist die Studie des Davos World Economic-Forum. Befragt wurden dafür etwa 370 Personalvorstände von großen Unternehmen weltweit. Das ist alles. Viele dieser Studien unterschätzen die Interessen der Unternehmen und deren Probleme, neue Techniken im Alltag einzusetzen. Es wird ja nicht alles umgesetzt, was die Technik erlaubt und ermöglicht. Die Unternehmen fragen sich doch ganz nüchtern: Was kostet mich das, was bringt mir das. Ich denke, jeder Mensch weiß doch, Automatisierung wird überwiegend gemacht, um Arbeitsplätze abzubauen, also um die als teuer empfundene Arbeit zu verringern. Warum denn sonst? Das sind die entscheidenden Fragen.

Nennen Sie ein Beispiel, wo Techniken nicht eingesetzt worden sind?

Es gibt verstreut auf der Welt viele schlecht bezahlte Arbeitsplätze in der Textilindustrie. Dies ist eine Branche, die historisch zuerst hoch automatisiert war. Trotzdem werden Textilien überwiegend in Billiglohnländern und wenig automatisiert produziert. Das zeigt, es gibt diesen engen Zusammenhang gar nicht, dass jede Automatisierungstechnik zwangsläufig flächendeckend eingesetzt wird. Denn jede Automatisierung hat wiederum für jede Unternehmensorganisation beträchtliche Folgen: Da gibt es Widerstände und Bedenken von Technikern beispielsweise, das Unternehmen braucht genügend qualifiziertes Personal, es muss Weiterbildung organisieren, neue Abläufe einführen, eventuell die Zusammenarbeit mit den Zulieferern neu organisieren und so weiter. Das will also gut überlegt sein. Der Aufwand ist meist hoch und es ist nicht garantiert, dass das reibungslos und ohne Probleme laufen wird. Oft führen Unternehmen eine neue Technik ein, lassen die Organisation jedoch weitgehend beim Alten, so dass die neue Technik nur begrenzt wirkt.

Gibt es denn Untersuchungen, von denen Sie sagen, die sind fundiert?

Ich glaube, dass es heute niemanden gibt, der auch nur halbwegs seriös sagen kann, so sehen die quantitativen Folgen dieser technischen Neuerungen aus. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat zusammen mit dem BIBB und der GWS eine Folgenabschätzung gemacht. Die stellen drei Szenarien gegenüber. Im besten Fall gehen die davon aus, dass die deutsche Industrie im weiteren Sinne, also einschließlich industrienaher Dienstleistungen, in Summe etwa 60 000 Arbeitsplätze verlieren wird. Das würde sich sehr im Rahmen halten, vor allem vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung. Mit Szenarien arbeiten, das ist seriös, so hat man wenigstens grobe Anhaltspunkte. Aber alles andere ist unseriös. Letztlich aber kann niemand in die Glaskugel sehen, es gehen zu viele Variablen in die Entwicklung ein – technische Optionen sind nur eine davon.

Stimmt die These: Bei den anstehenden Rationalisierungen werden eher die einfachen Arbeitsplätze abgebaut, die anspruchsvollen nicht oder weniger?

Das Schlüsselwort lautet Standardisierung. Die Arbeitsschritte, die in Teilen oder in Gänze bereits standardisiert sind, die können am problemlosesten von einer Maschine, einem Roboter oder einem Algorithmus übernommen werden. Und diese Standardisierung wird systematisch vorangetrieben, gerade von den weltweit agierenden Konzernen. Jeder Konzern versucht, seine Produktionsabläufe so zu vereinheitlichen und zu vereinfachen, dass sie in Indien funktionieren wie hier in Deutschland. Nun ist aber die entscheidende Frage: Was ist eine einfache Arbeit? Wir haben noch ein Bild, dass vor allem Arbeiten an der Maschine und in der Produktion einfach seien. Und die Arbeit in der Verwaltung und die des Angestellten sei eher anspruchsvoll. Angestellte werden auch recht schnell den kreativen Wissensarbeitern zugeordnet. Nach diesen Kriterien werden die Arbeiten und Arbeitsplätze in den Beschäftigtenstatistiken immer noch erfasst. Dieses Bild stimmt aber schon lange nicht mehr. Denn seit Jahren zeigt es sich, dass vor allem im Angestelltenbereich viele Arbeiten standardisiert werden. Die können jetzt auch leichter technisch ersetzt werden. Im Produktionsbereich, in dem es letzten Endes um das Stoffliche geht, da muss am Ende doch noch ein erfahrener kompetenter Mensch an die Maschine ran, um den letzten entscheidenden Handgriff zu tun oder um etwas Wichtiges zu überwachen. Ich gehe davon aus, dass in den Kernbereichen industrieller High-Tech-Produktion, wo komplexe Produkte hergestellt werden und wir heute schon einen hohen Automatisierungsgrad haben, nur noch wenige Arbeitsplätze abgebaut werden. Denn dort wurde bereits in den vergangenen Jahren fast alles durchautomatisiert. Es kann sogar sein, dass dort Arbeitsplätze inhaltlich aufgewertet werden. Wenn es Neuerungen in der Vernetzung und Verarbeitung von Daten gibt, dann brauchen die Unternehmen dort Techniker, Informatiker und Mathematiker. Diese brauchen aber gleichzeitig produktionstechnologisches Know-how. Letztlich wird künftig jeder Job eine digitale Komponente haben. In den Verwaltungen, in den Angestelltenbereichen und an den Rändern der Produktionssphäre dagegen, also beispielsweise in der Logistik, wird es starke Rationalisierungen geben in den kommenden Jahren.

So werden vor allem auch in den öffentlichen Verwaltungen Arbeitsplätze abgebaut werden?

Die Debatte, was wird in zehn Jahren sein, die ist fruchtlos. Entscheidend ist das heute: Wie und wo setzen wir diese Techniken ein? Mit welchen Zielen? Wie wollen wir also die Arbeit der Zukunft gestalten. Das können wir doch entscheiden, also die Gesellschaft und die Politik.

Arbeiten im Takt und in Tag- und Nachtschichten sind Relikte aus 100 Jahren Industriegeschichte.

Ein Beispiel.

Nehmen wir den sozialen Bereich: Heute gehen Ärzte und Pflegepersonal beinahe in die Knie wegen ihrer umfassenden Dokumentationspflichten. Alle jammern sehr berechtigt, sie hätten zu wenig Zeit für die Patienten. Dann nutzen wir doch die neuen digitalen Techniken, um Pfleger und Ärzte von diesen Dokumentationsarbeiten zu entlasten. Pflegekräfte könnten mit Hilfe von Apps ihre Krankenakten digital pflegen. Und Roboter können im Krankenhaus- und Pflegebereich schwere körperliche Arbeiten übernehmen. Für die Ärzte könnte es digitale Assistenzsysteme geben. Die Frage ist: nutzen wir die Technik um dem Pflegepersonal mehr Freiraum für gute Pflege zu geben? Oder nutzen wir die Technik um im Gesundheits- und Sozialbereich noch mehr Kosten zu sparen? Beides ließe sich sogar verbinden, wenn man Technik und Arbeit mit den Beschäftigten – in dem Fall also den Pflegekräften und Ärzten – gestaltet. Und solche Beispiele gibt es zuhauf.

Welche noch?

Viele Unternehmen, in denen ich bin, klagen, wie können wir die guten Facharbeiter in der Produktion halten. Denn diese Produktionen und Produkte werden immer komplexer, also brauchen wir dort dringend die guten und erfahrenen Leute. Die guten Leute haben aber keine Lust mehr auf Arbeiten im engen Taktsystem und im Dreischichtsystem, die wollen da möglichst schnell raus. Wenn das so ist, warum nehmen die Unternehmen dann nicht diese neuen Techniken, um die Produktionsarbeitsplätze attraktiver zu machen. Die neuen Techniken erlauben, diese Arbeitsplätze mit deutlich weniger Taktbindung und weniger Schichtarbeit zu organisieren, also in Gänze humaner und damit attraktiver zu machen. Arbeiten im Takt und in Tag- und Nachtschichten sind Relikte aus 100 Jahren Industriegeschichte. Schade, dass Unternehmen diese neuen Instrumente immer nur in eine Richtung einsetzen, anstatt anspruchsvollere Arbeit zu schaffen und damit auch zukünftig innovationsfähige Arbeits- und Produktionssysteme.

Radikal kürzere Arbeitszeiten sind kein Thema

Noch ein Beispiel?

Stichwort Ökologie. Es wird ja immer damit geworben, Industrie 4.0 ermögliche die massenhafte Einzelanfertigung. Also: Der Kunde erhält ein Auto mit den von ihm gewählten Spezialitäten, quasi ein Unikat, und das weitgehend zu den Preisen aus der Massenproduktion. Diese spannende Idee könnte man ökologisch ausbuchstabieren: Es wird nur das Produkt hergestellt, das nachgefragt wird. Erst wenn ein Kunde sagt, ich will dieses Auto oder jenen Kühlschrank, erst dann wird der auch gebaut. Industrie 4.0 bedeutet Produktion on demand. Kein einziges Produkt wird mehr auf Halde produziert. Ökologisch wäre dies sehr vernünftig.

Planen die Unternehmen das?

Die meisten Automobilbauer sagen, das können wir heute schon machen. Aber wir machen es nicht oder nicht nur.

Warum nicht?

Weil das Denken und Handeln vorherrscht, wir müssen die vorhandenen Anlagen auslasten. Dann produzieren wir lieber `auf Halde`, und tun anschließend alles, um mit weiteren Rabatt- und Marketing`schlachten` die Überproduktion an den Mann und an die Frau zu bringen. Die Industrie könnte weltweit, aufgrund der bereits gegebenen Digitalisierung und Vernetzung, so produzieren, dass es nie mehr zu einer Überproduktion kommen müsste. Technisch könnte Industrie 4.0 ein ökologischeres Produzieren deutlich erleichtern. Aber das würde ein prinzipielles Umdenken erfordern, auch im Hinblick auf die in den Unternehmen als relevant erachteten Kennzahlen. So lange die Anlagenverfügbarkeit wichtiger als andere Ziele ist, wird sich da nichts ändern.

Mit all den Robotern und den Rationalisierungen müsste es doch erhebliche Produktivitätszuwächse geben und damit ein Potenzial, um die Arbeitszeiten radikal zu verringern.

Rein rechnerisch auf jeden Fall. Da gibt es auch Berechnungen, unter anderem von Gerhard Bosch vom Institut für Arbeit und Qualifikation. Interessant ist jedoch, dass genau diese Debatte nicht hochkommt. Das finde ich spannend. Warum ist das so? Es geht in eine ganz andere Richtung: Arbeit wird so gestaltet und umgestaltet, dass sie sich nicht mehr wie entfremdete Lohnarbeit anfühlt, obwohl sie es unverändert ist. Die Beschäftigten sollen sich so wohl fühlen, dass sie gerne länger im Unternehmen oder an ihrem Arbeitsplatz verbringen. In vielen Bereichen scheint dies ja auch so zu sein. Wir haben, erzwungen oder freiwillig oder in einer Mischung von beidem, eine unglaubliche Intensivierung der Arbeit. Die Positivdarstellung von Arbeit ist ja der Hipster, der mit dem Mac unter dem Arm sein Café in der Sonne ansteuert.

Aber das ist eine kleine Schicht. Die Krankenschwester und der Industriearbeiter sehen das anders.

Richtig. Aber die Beispiele zeigen, wir reden wieder intensiver über Arbeit und deren Gestaltung, nicht über kürzere Arbeitszeiten. Und wir reden nur über bestimmte Arbeiten, eben nicht über die Busfahrerin, den Produktionsarbeiter, den Sachbearbeiter und die Altenpflegerin. Wir reden meist über die Extreme: entweder den Kreativen, der nur noch arbeiten will, oder über die Crowdworker, die unter extrem unsicheren und schlechten Bedingungen schuften. Über die große Mitte der Beschäftigten mit einer normalen Arbeit reden wir am wenigsten.

Aber die Beispiele zeigen, wir reden wieder intensiver über Arbeit und deren Gestaltung, nicht über kürzere Arbeitszeiten.

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Was halten Sie von diesem Beispiel: Die neuen Techniken werden nicht eingesetzt, um das Auto zu einem autonom fahrenden Computer weiterzuentwickeln, sondern um endlich hochvernetzte öffentliche Verkehrssysteme zu entwickeln, vor allem für Metropolen und Ballungsräume.

Die Autobauer arbeiten alle an neuen Mobilitätskonzepten. Und die passen anscheinend besser zu den Bedürfnissen unserer individualisierten Gesellschaft als kollektive Verkehrssysteme. Deren Überlegung mit car sharing-Modellen gehen vom Auto aus und wollen die individuellen Mobilitätsbedürfnisse besser als bisher steuern. Ein Auto wird von mehr Menschen genutzt, die selbst keines mehr kaufen. Da passiert sehr viel und für solche Modelle gibt es nachweisbar eine hohe Nachfrage. Das wird offensichtlich eher angenommen als neue groß angelegte kollektive Mobilitätssysteme. Dabei könnte man mit intelligenter IT natürlich auch den öffentlichen Nahverkehr anders denken und das Kollektive mit dem Individuellen anders zusammen bringen. Darüber wird aber kaum nachgedacht.

… , ob Mensch, Maschine oder Algorithmus, das wird alles auf einer Ebene gesehen.

Die Technik ist da, sie bietet neue Lösungen. Aber es werden Projekte nicht oder nur halbherzig angeschoben. Oder es werden die falschen Projekte bevorzugt.

Wir müssen jetzt entscheiden, für was wir die Techniken einsetzen wollen. Politik und Gesellschaft können und müssen das entscheiden. Das ist doch eine tolle Situation: Wir brauchen nur zugreifen. Mein Eindruck ist, dass die Unternehmen bereits vieles prägen und sich Politik und Gesellschaft nicht entschlossen genug sich zu Wort melden beziehungsweise zu wenig diskutiert wird, was jenseits von Effizienzsteigerung oder neuen Geschäftsmodellen für die gesamte Gesellschaft wichtig ist.

Industrie 4.0 ist seit zwei, drei Jahren ein großes Thema. Konzerne, Unternehmensverbände, Beratungsunternehmen, auch die Politik mischen aktiv mit. Erkennen Sie, wer diese Debatte mit welchem Ziel führt?

Ich habe mal die Studien und wichtigen Veröffentlichungen genauer nach Gemeinsamkeiten angeschaut. Es scheint mir offensichtlich zu sein, dass vor allem das World Economic Forum und die großen weltweit tätigen Beratungsunternehmen mit der Digitalisierung eine Vision verbinden und diese auch ganz offen kommunizieren: Sie wollen die Wirtschaft dieser Welt und damit die Welt selbst wie einen einzigen Konzern managen. Alles soll vernetzt werden, möglichst viele Produktionsstätten sollen so standardisiert werden, so dass sie in Italien, Brasilien und Indien und Deutschland weitgehend gleich funktionieren. Geredet wird dabei von einer digital workforce. Damit sind Arbeitskapazitäten gemeint, die sich je nach Bedarf quasi unterschiedslos zusammensetzen aus Algorithmen, Robotik und echten Menschen.

Sie wollen die Wirtschaft dieser Welt und damit die Welt selbst wie einen einzigen Konzern managen.

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Ist das Größenwahn?

…. also zwischen diesen Dreien gibt es dann fließende Übergänge?

Genau, ob Mensch, Maschine oder Algorithmus, das wird alles auf einer Ebene gesehen. Ziel ist es, dass jede workforce, die irgendwo auf der Welt gerade gebraucht wird, auch zur Verfügung gestellt werden kann. Workforce on demand. Alles auf Abruf, nach Bedarf und in den verschiedensten Zusammensetzungen. Und wenn die Arbeit getan ist, dann hat diese workforce ihre Schuldigkeit getan. Sie wird aufgelöst, für den nächsten Einsatz neu zusammengesetzt. Das ist die eine Seite der Vision. Und die andere Seite: Es gibt eine ausgearbeitete Roadmap, also einen Fahrplan, was die Politik zu tun hat, um diesen Zustand zu erreichen. Da gibt es eine technisch-sachliche Ebene dieses Fahrplans: also man braucht weltweit eine entsprechende Infrastruktur, beispielsweise überall leistungsfähige Netze, um die Digitalisierung und Robotik auch weltweit einsetzen und durchsetzen zu können. Der Politik wird die Aufgabe zugeschrieben, diese Infrastruktur zu schaffen. Und die zweite Ebene: Die Politik soll dafür sorgen, dass die Arbeitsmärkte weiter dereguliert, Schutzvorschriften und Regeln abgebaut werden.

Alles sehr schlüssig, denn wie sonst sollen die workforces nach Bedarf überall eingesetzt werden können.

Genau. Der Politik wird übrigens auch noch die Aufgabe zugeteilt, sie solle eine große Erzählung erfinden und verkörpern und den Menschen verkünden, machen wir uns auf in die gelobte Digitalisierungswelt. Ich karikiere jetzt nur ganz leicht.

Ist das Größenwahn oder wird das von machtpolitisch relevanten Leuten betrieben?

Es gibt zwei Ebenen. Weltweit aktive Konzerne arbeiten seit Jahren in diese Richtung. Sie standardisieren und vereinheitlichen ihre Arbeits- und Produktionsprozesse weltweit auf Teufel komm` raus. Das klappt zwar alles nicht bruchlos und ohne Konflikte, aber das wird strategisch betrieben. Und diese weltweit agierenden Beratungskonzerne, die meinen das mit dieser Vision schon ernst. Es ist doch sehr bemerkenswert, dass heute große Visionen, egal wie ich sie bewerte, von den Unternehmensberatungsfirmen kommen und nicht von linken Parteien und Gewerkschaften oder anderen gesellschaftlichen Kräften.

Und wie realistisch ist das?

Diese Visionen unterschätzen systematisch die technischen und organisatorischen Schwierigkeiten und die politischen Widerstände, die solche Umwälzungen ja vielleicht auch mit sich bringen. Da werden sich einige auch blutige Nasen holen. Vieles, was da geplant und gedacht wird, ist auch ökonomisch nicht sinnvoll. Vieles wird viel länger dauern. Die Vision wird in Reinform nie Wirklichkeit werden. Entscheidend ist meines Erachtens etwas anderes: Die haben eine Vision, die eine Richtung vorgibt. Sie gibt Orientierung und ist Leitlinie für das praktische Handeln vieler einflussreicher Organisationen. Damit wird sie heute wirksam, auch wenn sie sich morgen nicht in Gänze verwirklicht.

Weder Technikeuphorie noch dumpfe Ängste helfen weiter.

Die vielen IT-Ingenieure und Software-Spezialisten in den Unternehmen – wie ticken die denn? Interessiert die beispielsweise die gesellschaftlichen Folgen dessen, was sie entwickeln oder umsetzen?

Es gab und gibt immer schon Netzwerke kritischer Fachleute. Das Internet war von Beginn an immer auch der Raum, in dem IT-Fachleute über gesellschaftliche und technische Risiken und Chancen gesprochen haben. Aber diese Diskussionen sind eher die Minderheit und erreichen den normalen Software-Ingenieur in der Regel nicht. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu wissen, dass auch die Entwicklung von Software bereits seit Jahren extrem arbeitsteilig organisiert ist. Das heißt, diese Fachleute überblicken ihre Arbeit, aber nicht immer auch das gesamte Projekt oder Produkt, an dem sie gerade arbeiten. Die sind oft auch nur ein Glied in einer langen Kette. In den siebziger oder achtziger Jahren wurde an den Universitäten und in der IT-Ausbildung noch öfter gefragt, welche Folgen hat beispielsweise die Informatik für die Gesellschaft. Das gibt es kaum mehr. Dabei müsste das stärker denn je bearbeitet werden. Denken Sie an die unbeantwortete Frage der Datensicherheit oder der informationellen Selbstbestimmung. Mit dem Internet der Dinge oder Big Data kommen viele neue Herausforderungen auf uns zu. Die Gesellschaft wird angreifbarer. Da ist vieles ungelöst. Das betrifft uns alle und unser aller Leben in Zukunft extrem prägen. Das sind keine Themen, über die einzelne Unternehmen für sich entscheiden sollten. Das geht uns alle an – da müssen wir auch alle mitreden können.

Was muss die Politik tun?

Wo sollen wir da anfangen? An den Hochschulen müsste in den Technik- und Informatik-Lehrplänen das Thema der Technikfolgenabschätzung eine prominente Rolle spielen. Damit die Fachleute immer mitdenken, welche Folgen das alles für die Gesellschaft hat. Die Gesellschaft selbst, also NGOs, Parteien, Verbände, Sozialpartner – wir alle müssten uns stärker einmischen. Und in den Unternehmen muss garantiert sein, dass Beschäftigte und ihre Betriebsräte beim Einsatz dieser Techniken mitentscheiden können. Das sollte ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Demokratie fängt schließlich bei der eigenen Betroffenheit an. Aber wir reden an vielen Stellen in unserer Gesellschaft über 4.0 und die Digitalisierung, aber viel#wwe werden nicht mitgenommen. Und wer Kritik oder Bedenken äußert, wird schnell als Innovationsbremse diskreditiert. Das ist keine gute Entwicklung. Wenn wir vor so großen Veränderungen stehen, wie viele meinen, dann brauchen wir einen offenen gesellschaftlichen Diskurs – weder Technikeuphorie noch dumpfe Ängste helfen weiter. Weiter hilft nur ein informierter Austausch, der verschiedene Positionen zulässt. Wir müssen als Gesellschaft die Zukunft so gestalten, dass technische Innovationen mit sozialen Innovationen verbunden werden, die dann allen und nicht nur wenigen nutzen werden.

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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