Wirtschaft
anders denken.

Lokomotive statt Autounfall

18.06.2021
Einkaufswagen stehen in einer Reihe. Sie können zur Inflation-Berechnung dienenFoto: Michael Gaida auf PixabayBerechet wird die Inflation mithilfe von Warenkörben

Monetaristische Ansätze können Inflation nicht hinreichend erklären. Wichtig ist die Produktions-, nicht die Zirkulationsphäre. Aus OXI 6/21.

Kaum eine wirtschaftliche Krise vergeht, ohne dass eindringlich vor der nächsten großen Inflation gewarnt wird. Doch selbst in Zeiten stabilen Wirtschaftswachstums und ökonomischer Prosperität scheint die finanzielle Apokalypse nicht weit. Die liebste Nemesis linker Ökonom:innen, Hans-Werner Sinn, verglich im österreichischen »Standard« zuletzt die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank mit Blick auf die Coronakrise mit einem drohenden Autounfall, da die Preishüter:innen in Frankfurt am Main durch ihre Politik die Bremse des Fahrzeugs »Wirtschaft« kaputt gemacht hätten. Neben kreativen Vergleichen verwetten besonders kühne Volkwirt:innen gar ihr Diplom: So beispielsweise Thilo Sarrazin, der 2012 eine starke Inflation in den nächsten zehn Jahren vorhersagte. Bisher ist sie nicht eingetreten.

Inflation bedeutet Teuerung

Oft rührt die Angst vor Inflation aus der deutschen Geschichte mit der Hyperinflation in den 1920er Jahren. Zudem folgt besonders für das Kapital Negatives: Die nominalen Zinsen steigen, es wird teurer, sich Geld für Investitionen zu leihen. Mit den eingangs beschriebenen, eigentümlichen Anekdoten ist das ansteigende Preisniveau jedoch nicht ökonomisch erklärt. Dafür ist zunächst eine Definition nötig: Inflation sei eine anhaltende Erhöhung des Preisniveaus von Gütern und Dienstleistungen, schreibt Wikipedia. In Deutschland misst das Statistische Bundesamt die Inflation, indem es bei eigens zusammengestellten und immer wieder aktualisierten Warenbündeln die Preise vergleicht (siehe Interview).

Bei der Inflation handelt es sich also um eine Teuerung. Mit der gleichen Menge an Geld lässt sich nach einiger Zeit nicht mehr so viel kaufen wie zuvor. Daraus leitet sich auch die Angst der Konsument:innen vor ihr ab: Wenn Individuen befürchten müssen, dass sie mit der Zeit ärmer werden, kaufen sie sich Güter und Dienstleistungen lieber früher als später. Gesamtwirtschaftlich ist dies allerdings ein Argument für eine seichte Preissteigerung, das auch Zentralbanken nutzen. Moderate Inflation führt zu einer Steigerung der aktuellen Nachfrage und stützt somit das Wirtschaftswachstum. Zumal Studien mehrfach festgestellt haben, dass die Preissteigerung von Individuen deutlich höher wahrgenommen wird, als sie real eintritt.

Dass andauernd Wirtschaftswissenschaftler:innen, finanzielle Big Player und Möchtegern-Investor:innen wegen schleichender Geldentwertung bibbern, ist ein Sieg des sogenannten Monetarismus, der das Problem der Inflation in den Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Theorie rückt und einen niedrigen Wert als absolute Kennzahl für eine gute Geldpolitik setzt. Doch die Ursachen der Inflation kann er nicht hinreichend erklären. Dazu braucht es alternative Theorien.

In der langen Frist folgt nur Inflation

Wirft man einen Blick auf die historische Abfolge der monetären Ideen im 20. Jahrhundert, stellt Keynes die Inflation hintenan. Ihm wird die These »Money doesn’t matter« (Geld spielt keine Rolle) zugeschrieben. Tatsächlich stellt die Inflation für Keynes keine zentrale Größe dar, die grassierende Arbeitslosigkeit seiner Zeit steht nachvollziehbar im Fokus. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit sinkt nach ihm mit steigender Inflation. Über sie kann die Arbeitslosigkeit vermindert werden. Und das war Keynes’ zentrales Ziel.

Mit dem Argument der historischen Gegebenheiten lässt sich jedoch auch der Schwerpunkt der Monetarist:innen begründen: Der von Keynes postulierte Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Geldentwertung schien nicht mehr aufzugehen. In der sogenannten Stagflation der 1970er Jahre, geprägt von hoher Arbeitslosigkeit und monetärer Entwertung, machten die konservativen Ökonom:innen um Milton Friedman die Zentralbanken und ihre Geldpolitik als Grund des Übels aus. Die Geldmenge wird zu einer zentralen Einflussgröße des wirtschaftlichen Lebens.

Doch wie erklären sich die Monetarist:innen die Entwertung des Geldes? Der Analyse des makroökonomischen Angebot-Nachfrage-Modells folgend hat für sie die Erhöhung der Geldmenge nur kurzfristige Effekte auf reale wirtschaftliche Kennziffern: Das Inlandsprodukt und die Beschäftigung steigen nur vorübergehend. Langfristig nimmt jedoch die Inflation zu. Wenn mehr Geld im Umlauf ist, sinkt der Wert der einzelnen Banknote. Oder ökonomisch gesprochen: Bei größerem Angebot sinkt der Preis. Die Geldmenge ist daher das Maß aller Dinge. Die Steigerung dieser führe zwangsläufig zur Inflation. Daraus folgt eine politische Mahnung an die Zentralbanken: Diese sollten möglichst unabhängig von der Politik sein, dürften also beispielsweise kein Geld drucken, um politische Projekte zu unterstützen und Investitionen zu ermöglichen. Ihre Aufgabe sei allein die Wahrung der Preisstabilität – wie auch immer diese definiert sein soll.

Realwirtschaftliche Entwicklungen sind wichtiger

»Geld ist die notwendige, aber keineswegs die hinreichende Bedingung«, erwidert darauf der Keynesianer Heiner Flassbeck. Mehr Geld führt nach dem ehemaligen Chef-Volkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung nicht zwangsläufig zu höherer Inflation. Neben der Geldmenge spielen noch zwei weitere Faktoren eine Rolle: Es müssen zudem eine hohe Nachfrage auf dem Gütermarkt und stark steigende Kosten für die Unternehmen vorhanden sein. Erst dann kommt es zur Geldentwertung. Allerdings versuchen Staaten in Europa – allen voran die Bundesrepublik –, wirtschaftliche Probleme mit Vorliebe über eine Senkung der Löhne zu lösen. Das senke die Kosten von Unternehmen und führe folglich eher zur Deflation beziehungsweise zur Eindämmung der Inflation, so Flassbeck.

Die Aussagen von Flassbeck basieren auf einem alternativen Erklärungsansatz, der die Inflation über das sogenannte Lohnstückkostenwachstum herleitet. Darin hängt die Entwicklung der Löhne mit der Inflationsrate zusammen. Steigen die Gehälter stärker als die Arbeitsproduktivität, kommt es zur Inflation, da Unternehmen höhere Kosten auf die Preise umlegen.

Auf dieser Basis argumentiert auch die post-keynesianische Theorie. Nach dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Hyman Minsky ist nicht das Geldangebot für die Inflation verantwortlich, sondern die realwirtschaftlichen Entwicklungen. Es ist die Nachfrage nach Geld, welches von Geschäftsbanken ausgegeben wird, die zur Expansion der Zahlungsmittel und letztlich zur Inflation beiträgt, beschrieb den Prozess zuletzt der Wirtschaftshistoriker Yakov Feygin auf dem Blog »Phenomenal World«. Deflationäre Geldpolitik, wie der Monetarismus sie propagiert, führe im Endeffekt dazu, dass das Lohnwachstum unter die Arbeitsproduktivität falle. Das Monetäre gewinnt über den Produktionsfaktor Arbeit und verschiebt somit Gewinne von den Arbeiter:innen zum Kapital. Die überschüssige Arbeitsproduktivität wird nicht per Lohn an die gesellschaftlich Produktiven weitergegeben, sondern von den Kapitalist:innen als weiterer Profit eingestrichen. Eine strikt gegen Inflation gerichtete Geldpolitik ist Klassenkampf von oben gegen die Lohnabhängigen.

Wer die Lasten der geldpolitischen Entwicklungen tragen muss, entscheidet sich nicht in der Zirkulations-, sondern in der Produktionssphäre. Werden die Preise erhöht, ohne dass die Löhne steigen, und steigt so der Profit auf der Angebotsseite, oder führen Lohnsteigerungen der Arbeiter:innen über die Arbeitsproduktivität zu einer moderaten Geldentwertung? Das sind die relevanten Fragestellungen, die Interessen der breiten Masse betreffen. Allein der Blick auf einen bestimmten Wert für die Inflation gibt darüber keine Auskunft.

Ein Rückgriff auf Marx schadet nicht: Nach ihm sind Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte. Der Klassenkonflikt entscheidet sich in der Produktionssphäre. Für die Arbeiter:innen ist diese Eisenbahn mitsamt Kampf um die realen Löhne entscheidender als einen monetären Autounfall, wie ihn Hans-Werner Sinn imaginiert, zu verhindern.

Geschrieben von:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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