Inflation oder Deflation?
Es wird oft behauptet, die expansive Geldpolitik der Zentralbanken großer Länder müsse früher oder später zu einer Inflation oder sogar zur Hyperinflation führen. Anmerkungen zum Stand der geldpolitischen Debatte.
Sowohl aus ordoliberaler, wie monetaristischer Sicht wird behauptet, dass die unkonventionell genannte expansive Geldpolitik der Zentralbanken großer Länder früher oder später zu einer Inflation oder sogar zur Hyperinflation führen müsse. In der Regel ist das ein Standardargument aus dem Repertoire der neoklassischen oder ordoliberalen Dogmatik. Aber auch aus marxistischer Sicht wird so argumentiert (Schuhler 2020). Diese Sichtweisen werden aktuell durch die groß angelegten Konjunkturprogramme einer Reihe von Ländern und der Europäischen Union zusätzlich gestützt. Die Vorstellung, auf denen diese Inflationsangst basiert, ist einfach. Sowohl die expansive Geldpolitik der Zentralbanken, wie die groß dimensionierten Ausgabenprogramme der Regierung fluten die Märkte mit zusätzlichem Geld. Damit übersteige die zahlungsfähige Nachfrage das Angebot an Gütern und Dienstleistungen und führe dadurch zu enormen Preissteigerungen.
Der Beitrag von Michael Wendl als PDF mit Fußnoten.
Ökonomietheoretisch stützen sich diese Spekulationen auf die sog. Quantitätstheorie des Geldes. Nach dieser bestimmt die Größe der Geldmenge bei gegebener Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes die Preise der angebotenen Güter und Dienstleistungen. Eine steigende Geldmenge führt aus dieser Sicht zu steigenden Preisen und nicht zu steigenden Mengen. In diesem Zusammenhang wird unterstellt, dass Geld neutral ist, also keine Effekte auf die realwirtschaftlichen Kreisläufe hat, sondern nur die Preise erhöht. Auch wird angenommen, dass Geld exogen entsteht, also durch die Zentralbanken in den realwirtschaftlichen Kreislauf quasi von außen eingegeben wird. Wenn die Zentralbanken mehr Geld schöpfen, als im realwirtschaftlichen Kreislauf Güter und Dienstleistungen produziert werden, dann verpufft die Erhöhung der Geldmenge nur in einem Anstieg des Preisniveaus.
Keynes hat diesem Zusammenhang von zahlungsfähiger Nachfrage und Angebot von der Seite der Nachfrage her interpretiert und geht davon aus, dass sich die zahlungsfähige Nachfrage ein entsprechendes Angebot schafft, weil im Zustand von Unterbeschäftigung und der Unterauslastung von Produktionskapazitäten die erforderlichen Ressourcen für eine Ausweitung der Produktion vorhanden sind. Er liest diese Quantitätsgleichung nicht von links nach rechts, von der Geldmenge zu den Preisen, sondern umgekehrt von links nach rechts, von der zahlungsfähigen Nachfrage zu den Preisen. Nur bei Vollbeschäftigung, über den Produktivitätszuwachs steigenden Löhnen und dazu relativ stagnierender Produktion kann die Nachfrage das Angebot übersteigen und zu Inflation führen. Das war im Rahmen der Ölpreiskrise 1973-74 der Fall.
In orthodox marxistische Analysen wird angenommen, dass das umlaufende Geld nicht durch einen realwirtschaftlichen Gegenwert gedeckt ist. So sagt Schuhler, dass „das Missverhältnis von zugeschossener Geldmenge und zusätzlichen Produkt (…) die klassische Inflationsursache“ ist.
Das ist irritierend, weil Marx selbst davon ausgegangen war, dass Geld endogen und nicht neutral ist. Marx zeigt auch, dass die Akkumulation des Kapitals mit der Produktion des Mehrwerts permanent Geld, das als Kredit ausgereicht wird, schöpft. Auch die Quantitätstheorie des Geldes in der Fassung von Ricardo hat er scharf kritisiert (MEW 13; 144-153, Wendl 2019).
Geldschöpfung im zweistufigen Bankensystem
Die Annahmen, dass es zwangsläufig zu einer Inflation, manche sprechen sogar von Hyperinflation, kommen muss, sind durch eine nicht zutreffende Sicht auf die Verfahren der Kredit- und Geldschöpfung durch das zweistufige Bankensystem gekennzeichnet. Die Geschäftsbanken schöpfen Giral- oder Buchgeld, wenn sie Kredite vergeben. Die Geldschöpfung folgt daher der Nachfrage nach Krediten. Dabei sind die Banken auf Einlagen (der Sparer) nicht angewiesen, weil sie durch die Kreditvergabe diese Einlagen selbst schaffen. Sie haben Konten bei ihrer Zentralbank, auf die sie die vorgeschriebenen Mindestreserven der vergebenen Kredite deponieren. Auf diesen Konten beginnt der zweite Kreislauf des geschöpften Geldes: Der Kreislauf des Zentralbankgelds. Über diese Konten wickeln die Geschäftsbanken ihre Transaktionen mit der Zentralbank und mit den anderen Geschäftsbanken ab. Wenn sich die Geschäftsbanken von der Zentralbank Zentralbankgeld leihen, so überweist die Zentralbank dieses Geld auf die Konten der Geschäftsbanken bei der Zentralbank. Der dafür zu zahlende Zins ist der Hauptrefinanzierungszinssatz. Daneben gibt es noch andere Möglichkeiten (Fazilitäten), mit denen sich die Geschäftsbanken Zentralbankgeld bei der Notenbank beschaffen können. Wenn die Zentralbank Anleihen auf den sog. Sekundärmärkten kauft, überweist sie den Geschäftsbanken, denen sie diese Anleihen abkauft, den Kaufpreis auf die Konten der Geschäftsbanken bei der Zentralbank. Dieses Zentralbankgeld, auch als Geldbasis oder M 0 bezeichnet gerät zunächst nicht in den realwirtschaftlichen Kreislauf. Es dient als Reserve der Geschäftsbanken bei der Zentralbank. Ob die Geschäftsbanken per Kredit die Realwirtschaft mit Geld versorgen, hängt von der Nachfrage nach Krediten aus den nicht-finanziellen Unternehmen und den Privathaushalten ab. Wenn trotz eines niedrigen Zinsniveaus die Nachfrage nach Krediten schwach bleibt, kommen die Reserven der Geschäftsbanken nur dann in den realwirtschaftlichen Kreislauf, wenn der Staat sich von den Banken Geld leiht um öffentliche Investitionen zu finanzieren. Auch eine expansive Geldpolitik hat nur begrenzte Effekte auf die Konjunkturentwicklung, wenn eine restriktive Fiskalpolitik die Kreditnachfrage bremst. Die öffentliche Kreditaufnahme löst diese Bremse.
Die Käufe von Staatsanleihen
Mit diesen Reserven werden auf dem sog. Primärmarkt die Staatsanleihen durch einen Kreis ausgewählter (großer) Geschäftsbanken, der sog. Bietergruppe gekauft. Anders als angenommen wird, begibt der Staat seine Anleihen nicht auf den Finanzmärkten direkt, sondern auf diesen Primärmarkt. Die Banken der Bietergruppe bezahlen diese Anleihen mit Zentralbankgeld, dass sie als Reserven auf ihren Konten bei der Zentralbank halten. Insofern werden die Staaten über diesen Umweg über die Bietergruppe der Geschäftsbanken durch ihre Zentralbank finanziert. Das ist in der Europäischen Währungsunion zulässig, weil hier nur der unmittelbare Erwerb der Staatsanleihen durch die Zentralbanken verboten ist. Der mittelbare Kauf von Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten ist der EZB erlaubt. Dass trotzdem in diesem Zusammenhang von den Kritikern dieser Kaufprogramme von einer verbotenen monetären Staatsfinanzierung gesprochen wird, zeigt eine gewollte oder tatsächliche Unkenntnis der entsprechenden Normen im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Die Kritik an der unkonventionellen Geldpolitik der EZB (und anderer großer Zentralbanken) ist darauf zurückzuführen, dass 1992 beabsichtigt war, dass die Geldpolitik der EZB dem Muster der Geldpolitik der Deutschen Bundesbank zu folgen hatte. Die Geldpolitik der Bundesbank wurde als erste große Zentralbank ab 1973 durch den Monetarismus geprägt. Diese versuchte Preisstabilität dadurch herzustellen, dass die Geldmenge durch die Beachtung bestimmter Regeln gesteuert wurde. Es sollte der geschätzte Anstieg des Produktionspotentials und die erwünschte Rate der Inflation als Ausgangspunkte genommen werden und ihre Kombination sollte dann den Zuwachs der Geldmenge bestimmen. In der Theorie war das etwas komplizierter, weil dieser Zusammenhang mathematisch modelliert wurde (Taylor-Regel).
Angebot, Nachfrage und Inflation
Der Staat verwendet dieses Geld für Investitionen und Käufe. Dadurch kommt Geld in den realwirtschaftlichen Kreislauf und stärkt die aggregierte Nachfrage, also die Summe von privater und öffentlicher Nachfrage. Dadurch wird zunächst das Produktionspotenzial, Kapital und Arbeitskräfte (die Produktionsfaktoren) ausgelastet, in der Folge wächst das Produktionspotential. Eine Inflation kann nur erzeugt werden, wenn die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen das Angebot übersteigt und die Produktion nicht elastisch genug reagiert um die so gestiegene Nachfrage zu absorbieren. Geld entsteht daher endogen durch die Nachfrage nach Krediten. Nur wenn mehr Kredite nachgefragt werden, erhöht sich die Geldmenge. Dann wird mehr investiert und konsumiert. Damit erhöht sich aber auch das Produktionspotential.
Die Reserven auf den Konten der Geschäftsbanken kommen nur in den realwirtschaftlichen Kreislauf, wenn von Unternehmen, Staat und Privathaushalten Kredite nachgefragt werden. Ist das nicht der Fall, bleibt die Geldbasis auf den Konten der Geschäftsbanken bei der EZB. Unternehmen und Privathaushalte sind Nettosparer (was bei Unternehmen anormal, aber aktuell eine Folge von zu geringen Investitionen und von aus Unsicherheit resultierender Liquiditätspräferenz ist), so dass die Nachfrage nach Krediten relativ gering ist. Ändern würde sich dies nur, wenn die Zentralbank direkt monetäre Transfers an das Publikum vergibt, ohne dass diese Kredite und damit Geld nachfragen. Eine solche Geldschöpfung wäre dann exogen, weil ihr keine interne ökonomische Nachfrage nach über Kreditvergabe geschaffenes Geld vorausgeht. Theoretisch ist das denkbar, z.B. wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen direkt über Zentralbankgeld und nicht durch Umverteilung im bestehenden Verteilungssystem finanziert würde. Dadurch würde unmittelbar die konsumtive Nachfrage steigen, während die Produktion von Gütern und Dienstleistungen in der kurzen Frist nicht entsprechend steigen kann. Diese Möglichkeit ist nur theoretisch denkbar. Aus der expansiven Geldpolitik der EZB ergeben sich daher keine Inflationsrisiken. Ob sich die Konjunkturprogramme der Bundesregierung oder der Europäischen Währungsunion zu mehr Inflation führen können, hängt davon ab, ob die zusätzlichen Ausgaben, Investitionen und monetäre Transfers stärker die Angebotsseite oder die Nachfrageseite unterstützen. Erste Untersuchungen des Ifo-Instituts zeigen, dass in erster Linie die Angebotsseite der Gesamtwirtschaft gestärkt wird, weil die konsumtiv wirkenden Impulse relativ schwach sind. So werden die Unternehmen sehr viel stärker entlastet bzw. stärker subventioniert, als die Privathaushalte (Wollmershäuser u.a. 2020). Eine aktuelle Studie im Auftrag der Böckler-Stiftung hat gezeigt, dass im Juni 2020 26 % der Bevölkerung von Einkommenskürzungen durch die Corona-Pandemie betroffen waren und dass diese Verluste sich auf den Bereich der niedrigen Einkommen konzentriert haben.
Über die Frage, ob Inflation entsteht, entscheidet die Nachfrage einmal nach Krediten, zum anderen nach Gütern und Dienstleistungen, die im Index der Verbraucherpreise erfasst werden. Eine über das Angebot an Gütern und Dienstleistungen hinausgehende konsumtive Nachfrage ist nur möglich, wenn die nominalen Löhne deutlich stärker steigen, als die nominale Arbeitsproduktivität. Das galt nur für den Zeitraum von 1970 – 74. Danach ist es nur kurzfristig und in geringem Umfang dazu gekommen, dass die nominalen Löhne stärker gestiegen sind, als der Zuwachs der nominalen Arbeitsproduktivität. Umgekehrt: Die Löhne steigen im langfristigen Durchschnitt langsamer als die (niedrige) Produktivität. Dazu kommt, dass in einer Phase der säkularen Stagnation und hoher Nettofinanzierungsüberschüsse bei Privathaushalten und Unternehmen die Nachfrage nach Krediten niedrig bleiben wird. Damit kommt den Staaten die wichtigste Rolle bei der Nachfrage nach Krediten zu. Die Staaten müssen sich verschulden, um für Wachstumsimpulse zu sorgen. Angesichts der begrenzten Effekte der Geldpolitik auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, weil Unternehmenssektor und Privathaushalte Nettosparer sind, müssen sich nach den Grundsätzen der Saldenökonomie die beiden anderen Sektoren, Staat und Ausland entsprechend verschulden. Der Sektor Ausland macht das seit vielen Jahren in hohem Ausmaß, so dass es notwendig ist, dass sich der Sektor Staat deutlich stärker verschulden muss. Das wäre auch ohne Corona-Krise der Fall gewesen (Weizsäcker, Krämer 2019). Insofern gehen von der aktuellen zusätzlichen Staatsverschuldung keine inflationären Impulse aus. Durch die Verteilungswirkungen der Krise, die niedrige Einkommen stärker absenken werden als hohe Einkommen ist für die nächsten Jahre stärker von dem Risiko einer Deflation, also von Inflationsrisiken auszugehen (siehe Bofinger 2020).
Das geldtheoretische Defizit des traditionellen Marxismus
Dass in den traditionellen marxistisch inspirierten Analysen ähnlich wie aus der monetaristischen oder ordoliberalen Sicht eine expansive Geldpolitik mit der Gefahr einer Inflation verknüpft wird, hat seinen Grund einmal in der Vernachlässigung der Rolle von Geld und Kredit durch die meisten Marxisten, weil sie Kapitalismus als Güterwirtschaft und nicht als Geldwirtschaft verstehen, aber auch in der Ambivalenz der Aussagen von Marx selbst in Fragen Geld- und Kredittheorie. Marx hatte das Geld zunächst (im 3. Kapitel von Band 1 des Kapital) als Warengeld analysiert. Das bedeutete, dass das Geld um den Austausch von Waren zu vermitteln, selbst als Ware, also die Geldware verstanden wurde. Die Funktionen des Gelds als Kredit wurden erst später in (in den Bänden 2 und 3) entwickelt. Marx hielt aber daran fest, dass das Geld als Warengeld anders als der Kredit, einen inneren Wert haben müsse, den er in einer relativen und durch Kurswechsel vermittelten Zusammenhang zu Gold oder Silber gesehen hatte. Daraus zog er den Schluss, dass es in ökonomischen Krisen zum „plötzlichen Umschlag des Kreditsystems in das Monetarsystem“ (MEW 25; 552) kommen muss und meint mit letzterem ein durch die Anbindung des Gelds an Gold gedecktes Warengeld. In dieser Sicht ist Geld grundsätzlich Material, anders gesagt es hat einen materiellen Wert, den es als Zeichen ausdrückt. Aus dieser Sicht waren Kreditschöpfung und Kreditvergabe grundsätzlich, wenn auch in vermittelten Formen an wirklichen materiellen Reichtum gebunden. Mit Knut Wicksell (Geldzins und Güterpreis 1898) und Joseph Schumpeter (Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung 1911) verbunden ist eine neue Sicht auf die Geldschöpfung der Banken. Die Geschäftsbanken schöpfen Giralgeld, ohne dafür auf die Einlagen der Sparer angewiesen zu sein. Sie sind daher keine Intermediäre. Geld ist ein Nichts, dass knappgehalten werden muss, damit es nicht zur Inflation kommt (Riese 2013). Die Schöpfung von Zentralbankgeld durch die EZB ändert an diesen knapp Halten nichts, solange dieses Zentralbankgeld nur über den Kreditkanal und damit über die endogen verursachte Kreditnachfrage in den wirtschaftlichen Kreislauf kommt. Anders ist es, wenn Zentralbankgeld außerhalb des Kreditkanals in den wirtschaftlichen Kreislauf fließt, wie das mit dem Begriff „Helikoptergeld“ ausgedrückt wird. Das trifft sich mit der kritischen Feststellung von Marx, dass wenn eine Bank, hier die Bank von England, bei einer Krise des kapitalistischen Reproduktionsprozesses, die zu Überproduktion geführt hat, das Geld gibt, um die entwerteten Waren zu ihren alten Nominalwerten zu kaufen (MEW 25; 507), das zu einer Inflation führen würde.
Marx war noch davon ausgegangen, dass obwohl Banken Kredit und Kapital kreieren, indem sie Bankgeld (heute Giralgeld) schaffen, Banken grundsätzlich Intermediäre sind („Bankiers als Mittelspersonen“ MEW 25; 522). Er äußert sich in dieser Frage nicht eindeutig, weil er der Geldschöpfung der Banken zwar erkennt, aber in Distanz zu ihr bleibt, weil er noch der Sicht von einer Golddeckung des Geldes verhaftet bleibt.
Die theoretischen Wurzeln der unkonventionellen Geldpolitik
Dieser These von der Geldschöpfung, die sich selbst ihre Einlagen schafft, wurde in den 1920-er Jahren relativ breit und kontroverse diskutiert, auch Keynes (Vom Gelde 1931) hatte sich dieser Sicht angeschlossen. Keynes führte den Begriff des Fiat-Money ein und stützte sich dabei auf den Ökonomen G.F. Knapp (Staatliche Theorie des Geldes 1904), der das Geld als Geschöpf der staatlichen Rechtsordnung verstand. Diese Debatten markieren einen Bruch mit der Theorie des Warengeldes und führte zu einer neuen Sicht auf die Geldschöpfung durch Kreditvergabe. In der Weltwirtschaftskrise 1929-32 konnten die großen Zentralbanken nicht mehr an der Golddeckung des Geldes, diesem „barbarischen Relikt“, wie Keynes es nannte, festhalten, auch wenn nach Bretton Woods 1944 die USA eine formale Verpflichtung zur Einlösung von US-$ in Gold eingegangen waren. Dieses diente in erster Linie der Befestigung der Rolle des US-$ als internationaler Leitwährung oder Weltgeld und wurde 1971 auch widerrufen, weil eine Einlöseverpflichtung angesichts der weltweiten Dollarbestände nicht mehr ansatzweise gegeben war. Nach dem Zerfall der Weltwährungsarchitektur von Bretton Woods kommt es zum Aufstieg einer neunen Geldtheorie und Geldpolitik, die wissenschaftliche „Konterrevolution“ Monetarismus. Dieser setzt sich zuerst 1973 in Westdeutschland durch, sowohl im Sachverständigenrat, wie in der Bundesbank. Hier wurde vom Konzept der Orientierung der Geldpolitik an der Liquidität einer Wirtschaftsgesellschaft auf die Steuerung und Begrenzung der Geldmenge (hier der Geldbasis M0) übergegangen. Diese Steuerung orientierte sich an zwei Größen, dem geschätzten Wachstum des Produktionspotentials und der gewünschten niedrigen Inflationsrate von unter 2 %.
Mit dem Monetarismus verschwand auch das vorher vorhandene Wissen über die Geld- und Kreditschöpfung. In den 1920-er und frühen 1930-er Jahren hatte der damalige deutsche Marxismus diese Geld- und Kredittheorie abgelehnt, weil er nach wie vor auf die Golddeckung des Geldes fixiert war, nach 1973 hatte sich der „neue“ Marxismus, der sich aus der außerparlamentarischen Opposition entwickelt hatte, in erster Linie auf die Mehrwert- und Profittheorie des Marxismus (es ging um Ausbeutung) konzentriert, und nicht auf die Geld- und Kredittheorie von Marx. Auch die damals dominante marxistischen Krisentheorien, eine auf den Typus der Überproduktion und Unterkonsumtionskrise, die andere auf den Typus einer Überakkumulationskrise (tendenzieller Fall der Profitrate) bezogen, waren realwirtschaftlich bestimmt und hatten monetäre Fragen weitgehend ausgeblendet.
Der Monetarismus musste bei der versuchten Steuerung der Geldmenge scheitern, weil er wegen seines unzureichenden Verständnisses der Giralgeldschöpfung durch die Geschäftsbanken und der tatsächlichen Nachfrage nach Liquidität, eine zu enge Vorstellung von Geldmenge hatte und die tatsächliche Entwicklung der Liquidität einer Gesellschaft nicht prognostizieren konnte. Das Instrument der Leitzinsen allein erwies als nicht ausreichte, um die Entwicklung der Liquidität zu steuern. Das zeigte die gro0e Finanzmarktkrise 2007-09, weil hier die Immobilien- und Wertpapierblasen (Derivate) in erster Linie die Folge der Geldschöpfung des Geschäftsbankensektors und anderer Finanzmarktakteure waren und die US-Fed diese Prozesse nur mit der Bereitstellung von Zentralbankgeld begleiten und nicht steuern konnte. Schon vorher kam es zu einer schrittweisen Abkehr von der regelgebundenen Geldmengensteuerung bei den großen Zentralbanken und zum Übergang zu einer diskretionären, also fallbezogenen Geldpolitik. Das gilt auch für die EZB, obwohl diese geldpolitische auf das alte Modell der Geldpolitik der Deutschen Bundesbank verpflichtet wurde. Bereits in den frühen 2000-er Jahren wurde ein erster Übergang eingeleitet. Die Geldpolitik der EZB orientierte sich nicht mehr nur an der Inflationsbekämpfung durch Steuerung der Geldmenge, der sog. ersten Säule, sondern berücksichtigte darüber hinaus eine breite Palette von ökonomischen Indikatoren, wie die Löhne, Wechselkurse, Aktien- und Anleihekurse und die Zinsstrukturkurve Heine, Herr 2008; 63). Ihre Strategie war daher hybrid. Sie versuchte einerseits eine regelgebundene Geldpolitik mit der Geldmengensteuerung, andererseits eine diskretionäre Geldpolitik zur Krisenintervention. Diese beiden Säulen basierten auf unterschiedlichen Modellen von Geldpolitik, die miteinander im Widerspruch stehen. Insofern war es konsequent, dass in der Finanzmarktkrise 2008/09 diskretionär mit einer expansiven Geldpolitik reagiert wurde. In der Eurokrise 2011/12 musste sich die EZB von diesem hybriden Modell verabschieden und zu einem erweiterten geldpolitischen Konzept übergehen. Dazu gehören die Käufe von Anleihen, insbesondere von Staatsanleihen auf den sekundären Märkten. Diese Käufe sollen verhindern, dass die Kurse von Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten sinken und sich dadurch ihre Renditen erhöhen und damit auch die Zinsen für neue Staatsanleihen erhöhen. Staatsanleihen werden in der Regel durch das Begeben neuer Staatsanleihen (revolvierende Staatsanleihen) getilgt. Mit diesen Interventionen auf den Sekundärmärkten hält die EZB die höher verschuldeten Staaten fiskalpolitisch handlungsfähig. Dieses Ziel kann noch einfacher mit dem Begeben von Eurobonds erreicht werden, was aber gegenwärtig politisch nicht durchsetzbar ist.
In Deutschland ist das geldpolitische Denken noch so stark von ordoliberalen und monetaristischen Dogmen geprägt, dass solche Erkenntnisse ganz überwiegend nicht wahrgenommen bzw. ihre Effekte skandalisiert („Fantasiegeld“, „Hyperinflation“) werden. Es kommt hinzu, dass mit der Senkung der Zinsen auf Staatsanleihen der haushaltspolitische Konsolidierungsdruck für höher verschuldete Staaten verringert und dadurch die Disziplinierung und Steuerung der Fiskalpolitik durch die Finanzmärkte erheblich abgeschwächt wird.
Bereits Keynes hatte Käufe von Wertpapieren durch die Zentralbank vorgeschlagen, um bei wirtschaftlichen „Stockungen“ den „längerfristigen Marktzins auf den Grenzpunkt herabzudrücken.“ (Keynes 1931; 597). In der Allgemeinen Theorie hat er sich zurückhaltender geäußert, weil er meinte, dass in der Situation eines hohen Liquiditätsüberschusses auch eine Senkung der Zinssätze die angemessene Höhe der Investitionen nicht anregen kann. Hier plädiert er dafür, dass der Staat „eine immer wachsende Verantwortung für die unmittelbare Organisation der Investitionen übernehmen wird.“ (Keynes 2009; 139). Das ist nach 2009 nicht nur nicht geschehen, sondern im Gegenteil hat die deutsche Bundesregierung mit dem Fiskalpakt geradezu eine Fesselung der staatlichen Handlungsmöglichkeiten beschlossen. In diese Lücke hinein musste die EZB mit der Ankündigung, einer unbeschränkten Handlungsfähigkeit der Bank zu reagieren, wenn auf den Finanzmärkten gegen einzelne Euroländer spekuliert wird. Im theoretischen Modell ist der Kauf von Staatsanleihen den Überlegungen von Keynes, sowohl in „Vom Gelde“, wie in der „Allgemeinen Theorie“ sehr ähnlich. Die Käufe von Anleihen halten die Zinsen für Staatsanleihen niedrig bzw. sogar leicht im Minusbereich und schaffen damit die Voraussetzungen, dass die Euroländer sich durch Staatsanleihen refinanzieren können. Dass wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass die Fiskalpolitik eine positive Rolle für die Konjunktur spielen kann. Die Staats- und Unternehmensanleihen kauft die Zentralbank von den Geschäftsbanken und überweist die Preise dieser Anleihen auf die Konten dieser Geschäftsbanken bei der nationalen Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken. In Verbindung mit negativen Einlagezinsen und der Senkung des Hauptrefinanzierungssatzes auf null soll die Kreditvergabe der Geschäftsbanken unterstützt werden. Da die Geschäftsbanken die Kredite nur bei Nachfrage nach Krediten aus dem Unternehmenssektor und den Privathaushalten vergeben und diese Nachfrage schwach bleibt, weil beide Sektoren Nettofinanzierungsüberschüsse angespart haben, kommt dieses Zentralbankgeld auf dem Weg über die Kredite der Geschäftsbanken nur zu einem geringen Teil in der Realwirtschaft an. Die unzureichende Nachfrage nach Krediten hat eine unzureichende Nachfrage nach Geldkapital insgesamt zur Folge, was die Zinsen für Geldkapital langfristig niedrig hält. Es wird zu dauerhaft zu viel gespart, was über die eher temporär wirkende Liquiditätspräferenz, die Keynes analysiert hatte, hinausgeht. Bleiben die Zinsen langfristig nahe Null oder sinken sie unter null, so wird dadurch eine Entwicklung eingeleitet, die Keynes als „sanften Tod des Rentiers“ bezeichnet hatte.
Diese ökonomische Konstellation ist Ausdruck einer in den letzten 40 Jahren deutlich gestiegenen Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen. Das führt auch dazu, dass die geringen Kosten für Kredite dazu motivieren, Geldkapital auf den Immobilien- und Vermögensmärkten anzulegen und dadurch dort Preisblasen aufzubauen. Ob diese Geldpolitik die monetäre Ungleichheit weiter verstärkt hat, ist nicht eindeutig feststellbar (Feldkirche, Poyntner, Schubert 2018). Durch höhere Kurse und Preise auf diesen Märkten steigen die Einkommen aus Vermögen nominal, setzen sich aber zugleich dem Risiko aus, dass diese Assets in der Krise entwertet, also auf ihre fundamentalen Werte zurückgeführt werden. Grundsätzlich werden durch niedrige Zinsen Schuldner entlastet und die Gläubiger belastet, was einen gesamtwirtschaftlich positiv wirkende Umverteilungseffekt darstellt. Zugleich sind durch die expansive Geldpolitik positive Beschäftigungseffekte angestoßen worden, auch wenn diese in der Währungsunion sehr unterschiedlich verlaufen sind. Der wichtigste Effekt der Staatsanleihenkäufe besteht darin, dass die EZB als Lender of last Resort handelt und damit die Staaten zahlungsfähig hält. Das hat positive Folgen für die Finanzierung monetärer Transfers wie Renten und Arbeitslosenunterstützung und die Finanzierung öffentlicher Investitionen. Die Geldpolitik schafft die Voraussetzungen für die Fiskalpolitik.
Literatur
- Peter Bofinger, Im Sinkflug, in: IPG-Journal vom 22.06.2020
- Markus Feldkirchen, Philipp Poyntner, Helene Schuberth, Verteilungswirkungen unkonventioneller Geldpolitik im Euroraum, in: Harald Hagemann, Jürgen Kromphardt, Markus Marterbauer, (Hg.), Keynes, Geld und Finanzen, Marburg 2018
- John M. Keynes, Vom Gelde, Berlin 1983 (1931)
- John M. Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 2006 (1936)
- Hajo Riese, Geld – das letzte Rätsel der Nationalökonomie, in: Bernhard Emunds, Wolf-Gero Reichert, (Hg.), Den Geldschleier lüften, Marburg 2013
- Conrad Schuhler, Weltwirtschaft auf Intensivstation, in: Marxistische Blätter, Sonderheft Juli 2020
- Michael Wendl, Geldtheorie und monetäre Werttheorie von Marx im Unterschied zu Keynes, in: Harald Hagemann, Jürgen Kromphardt, Bedia Sahin (Hg.), Arbeit und Beschäftigung, Keynes und Marx, Marburg 2019
- Timo Wollmershäuser u.a., ifo-Konjunkturprognose Sommer 2020, in: Ifo-Schnelldienst, Sonderausgabe Juli 2020
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