Wirtschaft
anders denken.

Warenkörbe und die Tücken des Durchschnitts

Ein Gespräch mit Christoph-Martin Mai über den Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamts und die Inflation. Aus OXI 6/21.

18.10.2021
Foto: Statistisches Bundesamt
Christoph-Martin Mai ist Diplom-Volkswirt und leitet seit März 2020 das Referat Verbraucherpreise beim Statistischen Bundesamt, wo er zuvor im Referat Erwerbstätigkeit beschäftigt war.

»Der Verbraucherpreisindex (VPI) für Deutschland misst die durchschnittliche Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte für Konsumzwecke kaufen. Darunter fallen zum Beispiel Nahrungsmittel, Bekleidung und Kraftfahrzeuge ebenso wie Mieten, Reinigungsdienstleistungen oder Reparaturen«, so steht es auf der Website des Statistischen Bundesamts. Wie machen Sie das?

Wir unterscheiden zwischen einer zentralen und einer dezentralen Erhebung. Die zentrale findet in der Regel im Statistischen Bundesamt statt, wobei vor allem Preise aus dem Internet ausgewertet werden. Das machen wir zunehmend automatisiert, per »Web Scraping«. Da bekommen wir dann auch mit, wenn beispielsweise eine Pauschalreise zu verschiedenen Uhrzeiten unterschiedlich teuer ist. Geplant ist zudem, Scannerdaten aus den Kassensystemen der Geschäfte künftig für die Preiserhebung zu nutzen.

Daneben gibt es eine dezentrale Preiserhebung, die in den 14 statistischen Landesämtern durchgeführt wird – keine 16, weil Berlin/Brandenburg und Hamburg/Schleswig-Holstein jeweils gemeinsame Ämter haben. Diese Preisbeobachter gehen tatsächlich oftmals vor Ort in Geschäfte.Für eine bestimmte Güterart, wie Milch, werden Preise in allen Geschäftstypen erhoben, die für dieses Produkt marktrelevant sind. Das identische Produkt hat ja beim Discounter oft einen anderen Preis als in Supermärkten, und das müssen wir berücksichtigen. Genauso gehen wir auch bei der Auswahl und der Gewichtung der Güter, deren Preise wir erfassen, von einer Durchschnittskonsumentin und einem Durchschnittskonsumenten aus. Dafür liefern uns beispielsweise die Konsumstatistik in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und die Haushaltsbudgeterhebungen einen Überblick, wie stark sich bestimmte Güter – der Pauschalreiseurlaub, die Versicherung, das Auto – in den Gesamtausgaben niederschlagen. Entsprechend müssen diese Güter auch in unsere Berechnungsgrundlage eingehen.

Das bedeutet, die Preisentwicklung für Produkte, die selten nachgefragt werden, also veganes Hundefutter, fließt nicht in die Inflationsberechnung ein, richtig?

Ja, eher exotische Produkte wie veganes Hundefutter oder Kaviar werden aufgrund ihrer geringen Bedeutung nicht berücksichtigt. Andere Produkte, wie Autos oder Waschmaschinen, werden zwar selten angeschafft, aber dennoch berücksichtigt, weil sie relativ teuer sind und dadurch einen nennenswerten Anteil haben im Durchschnittsbudget. Wir veröffentlichen allerdings über 1.000 Teilindizes, die einzelne Aspekte berücksichtigen, zum Beispiel, wie sieht die Entwicklung nur für die Energie aus, für Nahrung, Kleidung etc. Auf unserer Homepage lässt sich damit auch eine relativ individuelle Inflation berechnen. Aktuell – für den Berichtsmonat April 21 – gibt es eine Inflationsrate von 2,0 Prozent gegenüber dem Vorjahr, dabei ist aber Sprit deutlich teuer geworden – weil er im Jahr zuvor besonders günstig war und seit Januar 2021 gilt die CO2-Steuer. So kann ich mir anhand meiner eigenen Konsumausgaben selbst ausrechnen, inwieweit dieser Durchschnitt auf mich mehr oder weniger zutrifft. Wenn jemand kein Auto fährt, können dort die Spritpreise rausgerechnet werden.

Zurück zu den Erhebungsmethoden: Warum arbeiten Sie immer noch mit Preisbeobachtern, die tatsächlich in die Geschäfte gehen? Als Amt könnten Sie den Händlern doch abverlangen, Ihnen jeden Tag eine Preisliste zu schicken, also die Daten zu übermitteln.

Wir, das gilt für das gesamte Statistische Bundesamt und die Landesämter, versuchen all unsere Erhebungen so belastungsarm durchzuführen wie möglich, in diesem Fall für die Geschäfte. Außerdem gibt es auch in Supermärkten Aktionen, Sonderangebote, regionale Unterschiede, so dass auch deren im Internet angegebene Preise nicht immer identisch sind mit den tatsächlichen im Laden. Und noch werden nicht alle Preise digital erfasst, wir berücksichtigen ja auch Märkte oder Hofläden.

Auch Flohmärkte?

Der Handel, den wir nicht erfassen, ist der Verkauf von privat zu privat, dazu zählen Flohmärkte und die entsprechenden Internetportale. Für unsere Erhebungen muss es mit wenigen Ausnahmen, wie im Bereich Miete, immer ein Unternehmen geben.

Und wie wird mensch Preisbeobachter:in?

Das sind teilweise Nebenberufler:innen, dann häufig Renter:innen, angestellt in den Statistischen Landesämtern. Dazu ist keine besonders ausführliche Ausbildung nötig, Sie müssen aber mit einem Tablet umgehen können, denn die Zeiten, da die Preise auf Zetteln notiert wurden, sind vorbei. Außerdem sollte man nicht schüchtern sein, als Preisbeobachter:in muss man auch mal nachfragen. Wenn, wie am Anfang der Pandemie, das Toilettenpapier vergriffen ist, muss man zum Beispiel rausfinden, ob es dauerhaft nicht verfügbar ist, dann darf es nämlich nicht in die Erhebung einfließen.

Grundlage für die Preisbemessung ist ein Warenkorb – was ist da drin, wer entscheidet das und wie oft werden Dinge ausgetauscht?

Insgesamt sind in diesem Warenkorb 650 Güterarten, was nicht mit Produkten zu verwechseln ist. »Neuer Pkw« wäre eine Güterart, das spezielle E-Auto einer bestimmten Autofirma, ein Produkt. Oder bei der Güterart »Zitrusfrüchte« wäre dann die Zitrone ein Produkt. Diese 650 Güterarten sind die relevantesten im Sinne der Verbrauchsstatistik – die Zusammenstellung dieser Güter wird bei uns alle fünf Jahre überprüft, das nächste Mal 2023. Das tun wir so relativ selten, damit ein reiner Zeitvergleich möglich ist. Damit also beispielsweise für Wertsicherungsklauseln in Verträgen festgestellt werden kann, wie sich der Preis innerhalb von fünf Jahren verändert hat – erst mal unabhängig von der Zusammensetzung des Warenkorbs. Beim europäischen »Harmonisierten Verbraucherpreisindex« (HVPI), den wir immer gleichzeitig mit dem VPI ausweisen, ist das anders. Da überprüfen wir die Wägung, also die Bedeutung der Güterbereiche im Verbrauch, einmal im Jahr. Jetzt bildet der HVPI das Konsumverhalten von 2020 ab, Pauschalreisen haben deutlich an Bedeutung verloren, dafür ist die von Nahrungsmitteln und alkoholfreien Getränken gestiegen. Das alles hat mit der Wägung zu tun, also dem quantitativen Anteil, den die jeweiligen Güter im Warenkorb haben. Qualitativ, also was die Art der Produkte angeht, können wir den Warenkorb laufend aktualisieren: Wenn etwas Neues dazukommt, was tatsächlich eine Bedeutung hat, wie FFP2-Masken oder Desinfektionsmittel, dann können wir das im Laufe eines Jahres regelmäßig anpassen. Man kann also sagen, der Inhalt des Warenkorbs ist relativ aktuell, nur die Wägung der Güter ändert sich eben nicht ständig, weil das die Vergleichbarkeit im Zeitverlauf verhindern würde.

Reiche Haushalte geben ihr Geld für andere Güter aus als arme Haushalte, Städter anders als Landbewohnerinnen. Müsste man nicht verschiedene Inflationsraten berechnen – wenigstens für Arme und für Reiche?

Grundsätzlich versuchen wir eben den statistischen Durchschnittshaushalt zu konstruieren und uns an ihm zu orientieren. Da fließen Daten von allen ein, Armen wie Reichen, Single-Haushalten und Großfamilien. Aber im fertigen Verbraucherpreisindex unterscheiden wir dann nicht mehr nach Haushaltstypen. Wenn dies politisch gewünscht würde, müssten wir für jeden einzelnen Haushaltstyp – ob reich oder arm – typische Warenkörbe bilden, was schwierig zu ermitteln wäre. Dies gehört aber aktuell nicht zu unserem gesetzlichen Auftrag, und dafür werden wir auch nicht bezahlt. Dies könnte sich aber zum Beispiel nach Wahlen ändern. Für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) machen wir das in gewisser Weise heute schon, denn der Hartz-IV-Satz wird dort auch auf Grundlage eines vom Ministerium vorgegebenen Warenkorbs von uns speziell berechnet. Also, das Ministerium gibt den Inhalt des Warenkorbs vor, und wir liefern die Preisentwicklungen dazu, damit die Sozialleistungen entsprechend angepasst werden können. Wie realistisch der Inhalt des Warenkorbs für die Beziehenden von Hartz IV ist, beurteilen wir nicht.

Eine zukünftige Ministerin könnte also entscheiden, dass in diesen Warenkorb für Arme mehr Bio-Lebensmittel und langlebige Produkte gehören, und auf dieser Grundlage könnten wir durchaus zu anderen Hartz-IV-Sätzen kommen … aber zurück zur Preisberechnung: Haben nach Ihren Erkenntnissen reiche oder arme Haushalte höhere Inflationsraten?

Die Wägung wäre voraussichtlich für einen ärmeren Haushalt ja eine andere als für einen reicheren: Der Anteil der Miete, sofern nicht vom Staat übernommen, dürfte gemessen an den Konsumausgaben für ärmere deutlich höher sein, bei einigen bis zu 50 Prozent oder mehr ausmachen. Daher ist für dessen Inflation die Entwicklung der Mietkosten entscheidend, da bleibt der Preisfaktor typischerweise über viele Monate gleich und steigt dann in unregelmäßigen Abständen an. Das gilt aber besonders für Neuvermietungen – wer es schafft, 25 Jahre in der gleichen Wohnung zu leben, hat bei der Miete oftmals keine große Veränderung mehr. Deshalb würde ich nicht per se sagen, dass ärmere Haushalte immer eine höhere Inflationsrate haben. Wenn aber natürlich, wie in den Zeiten der Pandemie, Grundnahrungsmittel teurer werden, dann trifft das sicherlich wegen der höheren Wägung ärmere Menschen stärker als reichere.

Kaum eine Zahl des Statistischen Bundesamtes dürfte in Deutschland häufiger angezweifelt werden als die Inflationsrate. Denn die liegt seit Jahren sehr niedrig. Der Normalmensch dagegen ist sich sicher: Alles wird ständig viel teurer! Woran liegt diese Differenz zwischen Fakt und Gefühl?

Neben der Tatsache, dass im echten Leben fast niemand dem statistischen Durchschnitt entspricht, hat das meiner Meinung nach vor allem psychologische Gründe: Dort, wo ich durchs konkrete Bezahlen, bar oder auch mit Karte, Geld direkt aus den Händen gebe, empfinde i ch Preise stärker als dort, wo ich Abo-Zahlungen habe. Also Bier-, Brot- oder Spritpreise haben mehr Einfluss auf die gefühlte Inflation als Versicherungen, Strom, Kredite. Zudem empfinden wir steigende Preise psychologisch wohl etwas stärker als sinkende. Die Verbraucher:innen sehen die Preisentwicklungen außerdem meist in einem langfristigen Zeitraum, die Inflation weist die Entwicklung zum Vorjahr aus.

Bei einigem bleibt der Preis gleich, aber die Qualität verbessert sich. Das Bundesamt berechnet dies als Preissenkung, da Konsument:innen für das gleiche Geld mehr bekommen. Bei welchen Gütern und wie misst man diese Änderungen?

Für eine solche Bewertung kommt nur ein sehr geringer Prozentsatz des Warenkorbs überhaupt in Frage, etwa 6 Prozent. Wir schauen uns vor allem Dinge an, bei denen sich Qualitätsänderungen messen lassen, also in der Regel technische Produkte. Sicher gibt es auch beim Brot Qualitätsunterschiede, aber die sind nicht eindeutig genug und zu subjektiv, um sie bei unserer Statistik zu berücksichtigen. Ein Auto, das für den gleichen Preis wie zuvor nun mit Parksensoren ausgestattet ist, oder ein Kühlschrank mit höherer Energieeffizienz, das sind objektive Verbesserungen, die preislich berücksichtigt werden müssen. Allerdings geht es längst nicht immer um Preissenkung: Bei rund einem Drittel der Produkte von jenen 6 Prozent des Warenkorbs, bei denen wir Qualitätsveränderungen berücksichtigen, gab es für die Verbraucher:innen effektiv eine Preissteigerung, weil wir eine Qualitätsminderung festgestellt haben.

Was würde passieren, wenn das Bundesamt einfach mal Pause macht und keine Inflation misst? Bricht dann die Wirtschaft zusammen oder der Euro?

Die Frage freut mich sehr, vielleicht wäre das ja mal einen Versuch wert, einfach mal Pause zu machen … Also, ich bin überzeugt, wenn wir mal ein paar Wochen länger als sonst nichts veröffentlichen würden, fällt das erst mal nur einigen Analysten, der Presse und den Zentralbanken auf. Aber Personen, die mit Unterhaltszahlungen zu tun haben oder mit Betriebsrenten, die an die Inflationsrate gebunden sind, mit Mietzahlungen, Wertsicherungsklauseln, all diejenigen werden doch ziemlich schnell ein Interesse an diesen Daten bekommen. Erst recht in einer Zeit der Unsicherheit, wie in der Pandemie. Auch die Entscheidungsträger der Politik brauchen verlässliche Daten, die aktuellen Finanzhilfen lassen sich auch nicht unabhängig davon kalkulieren, ob wir eine Inflation oder Deflation haben. Die Europäischen Zentralbanken benötigen die Inflationsrate, um überhaupt Geldpolitik zu machen und natürlich spielt es auch auf den Aktienmärkten immer eine Rolle, im Währungsvergleich mit den USA, Asien und anderen.

Abschließend die Gretchenfrage: Was ist denn nun gefährlicher für die Verbraucher:innen, Deflation oder Inflation?

Mit Inflation, sogar Hyperinflation, kennt man sich in Deutschland aus Zeiten der Weltkriege aus und ist deshalb dafür sehr sensibel. Aber auch während der Ölpreiskrise in den 1970er Jahren gab es hohe Inflationsraten. Wenn in einer Hyperinflation Geld buchstäblich nichts mehr wert ist, stehen natürlich alle, die keine Grundstücke oder andere Wertgegenstände haben, vor dem Nichts. Das wäre schon eine große Katastrophe, was man ja auch in anderen Staaten sehen kann. Andererseits gilt als Optimum eben nicht die Null-Inflation, sondern eine Rate von 2 Prozent. Die EZB begründet das damit, dass Deflation, also rückläufige Preise, kurzfristig für die Konsument:innen zwar schön ist, häufig aber das Hinauszögern von Kaufentscheidungen zur Folge hat, weil auf noch weiter fallende Preise gehofft wird. Das Gleiche gilt dann auch für Investitionen, die verzögert werden, weshalb viele Volkswirt:innen die Deflation für gefährlicher halten.

Die aktuellen Inflationsraten und mehr Informationen zum Thema finden sich auf der Website des Statistischen Bundesamtes.

Das Interview führte:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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