Der Influencer-Körper als Projekt und Bühne
Auf den oligopolistischen Netzplattformen lebt der Traum vom Aufstieg durch Anstrengung weiter. Influencer fungieren dort als Werbekörper. Aus OXI 5/21.
Also, ich habe jetzt runde Implantate, 360 Gramm, mit einer hohen Projektion« – solche Sätze hörte man früher vor allem im Privatfernsehen, wo Stars wie Daniela Katzenberger (seltener auch Männer wie Harald Glöckler) durch exzessive Schönheitsoperationen Berühmtheit erlangten. Doch diese Promis erschienen Zuschauern vor allem als wandelnde Skurrilitäten – und wohl kaum als Vorbilder –, während moderne Influencer wie die eingangs zitierte Bianca »Bibi« Claßen (5,9 Millionen YouTube-Abonnenten, 7,7 Millionen Insta-Follower) durch ihre scheinbare Nähe zum Publikum mehr oder minder direkt zur Nachahmung einladen. Millionen junger Menschen verfolgten im April, wie die 28-Jährige von ihrer Brustvergrößerung und ihrer »Nasenkorrektur« (Kosten: ca. 15.000 Euro) berichtete, immer wieder wurde sie in Kommentaren für ihre »Offenheit« und »Ehrlichkeit«, kurzum: ihre »Authentizität« gelobt.
Die Betreiberin von »Bibis Beauty Palace« ist in den vergangenen zehn Jahren zur deutschen Influencer-Ikone schlechthin aufgestiegen, seit dem Teenageralter ist sie in den sozialen Medien aktiv und stellt permanent ihr Ich, ihren Körper und vor allem Werbeprodukte aus. Wie niemand sonst steht sie im deutschsprachigen Raum für das vielleicht letzte Aufstiegsversprechen des »Postwachstumskapitalismus« (Oliver Nachtwey). Denn auch wenn Donald Trump den American Dream 2015 für tot erklärte, und auch wenn die verzweifelten Versuche von Technokraten und Zentralbankern, ökonomisches Wachstum zu stimulieren, in westlichen Staaten seit Jahrzehnten scheitern: Auf den oligopolistischen Netzplattformen lebt der Traum vom Aufstieg durch Anstrengung weiter, dort haben es bis dahin unbekannte Jugendliche geschafft, zur Marke zu werden, ihren Alltag mit all seinen Banalitäten zu teilen und mit Werbung auszustaffieren.
Kaum ein Beruf ist unter jungen Menschen so angesagt wie der des Influencers, und wenige Tätigkeiten sind derart stark auf Körperlichkeit zugeschnitten. Dies liegt einerseits daran, dass es sich bei den erfolgreichsten sozialen Netzwerken um Video- und Fotoportale handelt. Instagram-Storys, YouTube-Videos, TikTok-Clips: Wer erfolgreich sein will, muss sich als visuell reizvoll inszenieren, geklickt wird vor allem, wer sich tradierten Schönheitsnormen anpasst. Keineswegs geht es dabei bloß darum, stets richtig zu posieren und die passenden Filter auszuwählen; nein, auch die physische Selbstoptimierung der Influencer ist immer wieder Thema. Dies trifft nicht nur auf Fitness-Influencer wie Sascha Huber oder Pamela Reif zu, die täglich ihren Sportsgeist ausstellen und Follower zu neuen Höchstleistungen motivieren wollen, auch Reise- und Lifestyle-Influencer zeigen sich immer wieder auf der Yogamatte und im Fitnessstudio.
Doch die Visualität der Netzwerke ist nicht der einzige Grund, weshalb Körperlichkeit in der Influencer-Sphäre derart bedeutsam ist. Ein großer Teil der von ihnen beworbenen Produkte besteht nämlich aus körpernahen Gebrauchsgegenständen: Shampoo, Kleidung, Superfood oder Nagellack sind typische Waren, deren Verkauf die Netzstars sicherstellen sollen. Bereits vor dem Frühstück können in Storys Lip Maximizer und Schminke beworben werden, das Mittagessen eignet sich zur Anpreisung einer Gewürzmischung, und beim abendlichen Sport kann ein Fitness-Tracker präsentiert werden. Der »Content« der reichweitenstarken Influencer dreht sich fast ausschließlich um die Erfüllung körperlicher Grundbedürfnisse und Konsumorgien à la »Kann ich in 5 Minuten 300 Euro bei DM ausgeben?«. Die Influencer sind nicht bloße Werbefiguren, wie wir sie einst kannten, sie sind Werbekörper.
Dabei reproduzieren sie – allen Diskussionen um Body Positivity zum Trotz – Schönheitsideale, die schon lange als repressiv erkannt worden sind. Die feministische Psychoanalytikerin Laura Mulvey analysierte in den 1970er Jahren den »male gaze«, also den männlichen Blick auf Frauen, der durch das Unterhaltungskino, die Porno- und Werbeindustrie perpetuiert wird. Aber während sich zu Mulveys Zeiten Schauspielerinnen auf Geheiß von Regisseuren und Studiobossen vor der Kamera räkelten, um einem männlichen Publikum zu gefallen, unterwerfen sich die Influencerinnen dieser Ästhetik heute freiwillig, sie haben sie internalisiert. Da sie nicht mehr ökonomisch abhängig sind – viele Influencerinnen verfügen über ein deutlich höheres Einkommen als ihre männlichen Partner –, spüren sie die Gewalt dieser Schönheitsideale kaum noch, im Gegenteil: Sie profitieren davon, den male gaze zu bestätigen und erkaufen sich ihre Emanzipation auf Kosten Millionen junger Frauen, für die sich der beständige Schönheitswahn wohl kaum befreiend anfühlen wird.
Aber auch Männer unterliegen heute strengeren Bewertungen als je zuvor, wenngleich Laura Mulvey einst schrieb: »Entsprechend den Prinzipien der herrschenden Ideologie und den sie fundierenden psychischen Strukturen kann der Mann nicht zum Sexualobjekt gemacht werden.« In den sozialen Netzwerken wird Tag für Tag sichtbar, dass diese Ansicht überholt ist, auch wenn die Sexualisierung des männlichen Körpers unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann: Einerseits gibt es Influencer wie Sami Slimani oder Riccardo Simonetti, die für eine moderne, sanfte Männlichkeit stehen (Lockenwickler und Schminke sind für sie keine Schande), andererseits ist auf YouTube und Instagram ein radikalisiertes, fast schon archaisch anmutendes Mackertum zu erkennen. Dubiose Fitness- und Finanzcoaches, wie Karl Ess, machen ihren Followern täglich klar, dass diese sich zu behaupten haben, wenn sie dem »Hamsterrad« der Erwerbsarbeit entkommen wollen. Für die Schwachen, so lautet die Botschaft der Coaches, gibt es in dieser Welt keine Gnade – und wer nicht besteht, wer sich weder Körperpanzer noch dickes Portemonnaie zulegt, ist selbst schuld. Die Verpanzerung komplettiert jene Luxusmode, mit der sich prahlen lässt wie mit dicken Muskeln – das heißt, je größer das Logo, desto besser. Vor allem Marken wie Louis Vuitton, Hermès und Gucci erfreuen sich großer Beliebtheit. Auch der Hype um limitierte, auffallend klobige Sneaker ist stark auf das Influencer-Marketing zurückzuführen.
Die Modewelt wurde bislang am heftigsten durch die Netzwelt verändert. In den 1990er Jahren gaben noch die Top-Models den Ton an, allen voran: Claudia Schiffer, Kate Moss, Naomi Campbell, Marcus Schenkenberg und Mark Vanderloo. Models waren spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur lebende Schaufensterpuppen, sie sollten plötzlich über »Personality« verfügen. Besonders Karl Lagerfeld verwandelte Models in Superstars. Der Modeschöpfer arbeitete dafür mit diversen Gatekeepern aus der Branche zusammen, so etwa mit »Vogue«-Chefredakteurin Anna Wintour oder mit Carine Roitfeld, die bis 2011 die französische »Vogue« leitete und danach ihr eigenes Magazin gründete. Roitfeld galt 2019 auch Lagerfelds letzter öffentlicher Auftritt, als er ihr wenige Wochen vor seinem Tod in einem Instagram-Video zu einer Million Followern gratulierte. Inzwischen sind es 800.000 mehr. Die alte Welt war in der neuen angekommen. Lagerfeld, der Papier liebte und täglich kiloweise Druckerzeugnisse kaufte, hatte erkannt, dass die Modewelt sich radikal gewandelt hatte. Wichtiger als eine Printanzeige ist nun die Präsenz in den sozialen Medien. Dorthin mitgezogen sind zwar auch die Gatekeeper und Promi-Models von einst, doch immer häufiger sind nicht mehr sie, sondern die Influencer die Trendsetter, die dank ihrer enormen Reichweiten den Modemarkt beeinflussen.
Die Kleider und Accessoires, die Netzstars in ihren Posts und Storys tragen, werden von Millionen Followern nachgekauft. Warben die Influencer zunächst hauptsächlich für günstige Mode, die sich die meisten Teenager leisten können, ist das Influencer-Marketing mittlerweile auch für Haute-Couture-Labels wichtig. Zumal die Luxusmarken erst seit kurzer Zeit in Online-Shops vertreten sind, nicht zuletzt, da die kaufkräftige Kundschaft nicht mehr aus Frauen besteht, die in erster Linie Gattinnen sind. Häufig handelt es sich jetzt wie bei den Männern um Workaholics, die für endlose Stadtbummel schlichtweg keine Zeit haben. Die Pandemie hat die digitale Entwicklung noch beschleunigt: Während die Geschäfte während der Lockdowns geschlossen waren, boomte beispielsweise das Portal »Mytheresa«. Der Onlinehändler für hochpreisige Mode konnte in der zweiten Jahreshälfte von 2020 seinen Umsatz um 30 Prozent auf rund 285 Millionen Euro steigern. Die Influencer können auf goldene Jahre hoffen. Wie bei den Top-Models steht auch bei ihnen die Persönlichkeit im Vordergrund, was jedoch vor allem meint, dass sie ihr Privatleben und ihren Alltag öffentlich zur Schau stellen, während Claudia Schiffer und Naomi Campbell noch die öffentliche von der privaten Sphäre trennten, was Ersterer besser, Letzterer schlechter gelang.
Für die Influencer gibt es diesen Konflikt erst gar nicht. Kein Paparazzo muss mehr auf der Lauer liegen, um private Einblicke zu erhaschen, auf Instagram, YouTube und TikTok präsentieren sich die neuen Werbekörper permanent von ihrer privaten Seite. Gezeigt wird, mit welchen Produkten der Körper rasiert, geduscht und gecremt wird, durchsetzt sind diese freiwilligen Blicke durchs Schlüsselloch mit Links zu Online-Shops und Rabatt-Codes. Der Körper wird ausgestellt als ein ständig zu optimierendes Projekt, das heißt auch: als grenzenloser Markt, der nie gesättigt sein kann, weil schon morgen die Pflege wieder von vorn anfängt, neue Produkte getestet und empfohlen werden wollen. Setzt die Industrie bei Smartphones oder Küchengeräten gern auf geplante Obsoleszenz, ist das bei Produkten für den Körper gar nicht nötig, da er von selbst altert und zugleich der Jugendwahn im Influencer-Marketing stetig krassere Züge annimmt. Immer mehr junge Influencer, männliche wie weibliche, setzen bereits in jungen Jahren auf Botox. Die kapitalistische Landnahme weitet sich nicht erst seit der Erfindung des Internets immer stärker auf den Körper aus, doch bei den Influencern ist er der primäre Content. Er wird nicht nur auf der Bühne ausgestellt, vielmehr ist er nun die Bühne, auf der täglich etwas Neues veranstaltet wird – von Mode und Kosmetik über Fitness bis hin zur Schönheitschirurgie.
Zudem ist Sexyness das wichtigste Kriterium in einem visuellen Medium wie Instagram, wenngleich die Plattform insofern äußerst prüde ist, als beispielsweise barbusige Frauen nicht gezeigt werden dürfen. Dennoch ist der sogenannte »Porn Chic«, den die erwähnte Roitfeld maßgeblich einführte, dominant. Bereits in den 2000er Jahren setzten viele Designer auf die dem Porno entlehnte Ästhetik, so zeigte Tom Ford 2003 für eine Werbeanzeige das zum Gucci-Logo zurechtgestutzte Schamhaar eines weiblichen Models.
Das wäre auf Instagram undenkbar, auch wenn immer mehr Influencer Sextoys bewerben und wortreich von ihren Erfahrungen mit diesen berichten. Sex schreibt man dann jedoch häufig mit €, damit der verklemmte Algorithmus einen nicht schlechter rankt. Die Nachfrage nach tieferen Einblicken ist trotzdem hoch und wird nun zunehmend durch eine andere Plattform befriedigt: Auf »OnlyFans« zeigen Influencer – aber auch Pornosternchen, Webcam-Girls und -Boys – gegen eine Abogebühr alles, was auf Instagram verboten ist. Der Umsatz des Portals betrug 2020 bereits zwei Milliarden Dollar, Tendenz steigend. Seit Beginn der Pandemie hat OnlyFans 60 Millionen Nutzer hinzugewonnen.
Unabhängig von Werbekooperationen können sich Influencer dort direkt von ihrem Publikum finanzieren lassen. Sie bewerben nur noch ein Produkt: sich selbst. Die deutsche Erotik-Influencerin Bonny Lang erzählte kürzlich im »OMR«-Podcast, dass sie mit OnlyFans bis zu 50.000 Euro monatlich verdiene. Gewiss, auch hier verlieren alte Gatekeeper, wie etwa Porno-Produzenten und -Regisseure, ihre Macht, doch von einer Demokratisierung zu sprechen, wäre euphemistisch.
Um Abonnenten auf OnlyFans zu gewinnen, muss man zunächst einmal auf Plattformen wie TikTok, YouTube und Instagram Berühmtheit erlangen. Dort aber entscheidet das Publikum nur bedingt, was es wirklich sehen will. Die neuen Gatekeeper sind die Algorithmen, die wie die alten Torwächter bezirzt werden wollen, auch wenn niemand so genau weiß, worauf es eigentlich ankommt. Der Algorithmus ist eine große Blackbox, was dazu führt, dass die Influencer vor allem das machen, was bei den Kollegen schon erfolgreich war – in Form von gewissen Posen, Challenges und Hashtags. Und die Follower tun es ihnen nach und passen ihre Körper denen der Influencer an. Dieses Projekt der Angleichung manifestiert in erster Linie werbetaugliche Körper- und Geschlechternormen, grundiert von der neoliberalen Ideologie, dass jeder es schaffen kann (dem Algorithmus zu gefallen).
Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben das Buch »Influencer: Die Ideologie der Werbekörper« (Suhrkamp-Verlag 2021) geschrieben und produzieren gemeinsam den Podcast »Wohlstand für alle«.
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