Wirtschaft
anders denken.

Heimat – ein Bericht

16.06.2021
Ein leeres, heruntergekommenes Schwimmbad. Ein Symbol für schlechte Infrastruktur auf dem LandFoto: pixel868 auf PixabaySymbol schlechter Infrastruktur: Immer mehr Schwimmbäder schließen

Der Heimatbericht des Innenministeriums zeigt Probleme auf, bleibt bei Maßnahmen aber vage. Doch gute Infrastruktur wäre wichtiger denn je.

Der erste Heimatbericht des Bundesinnenministeriums ist da. Er soll die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland dokumentieren. Das macht er auch, und zwar mithilfe vieler bunter Karten, in denen die Landkreise anhand verschiedener Indikatoren irgendwo zwischen »unterdurchschnittlich« und »überdurchschnittlich« eingeordnet werden. So schön, so gut. Aber das Papier hat auch noch einen anderen Zweck – es schreit förmlich: Schaut mal, was wir schon alles gemacht haben, um die Ungleichwertigkeit zwischen Stadt und Land zu beseitigen. Es darf keine abgehängten Regionen geben. Und gibt es doch welche, sind wir nicht schuld daran, denn »Deutschland ist seit jeher ein vielfältiges Land.«

Das stimmt nicht. Die Verwerfungen zwischen Stadt und Land sind das Ergebnis politischer Entscheidungen der letzten drei Jahrzehnte. Die imageschädigende Bilanz, die der Heimatbericht auslässt: Bessere Kulturangebote, Bildungschancen und Jobs zogen in den letzten Jahren immer mehr junge Menschen in die Stadt. Auch, wenn sich dieser Trend etwas stabilisiert hat, und ländliche Räume sich während der Corona-Pandemie wieder neuer Attraktivität erfreuten – den Trend der Ausdünnung wird das kaum aufhalten: Die Siedlungsdichte in ländlichen Regionen ging zwischen 2000 und 2018 um 15 Prozent zurück. Und die neuen Bundesländer, mit Abstand am schwächsten bevölkert, haben mit 26 Prozent auch noch die höchste Quote an Einwohner:innen, die älter sind als 65 Jahre (Bundesdurchschnitt 21,9 Prozent).

Die Infrastruktur wird heruntergefahren

Die Folgen von Alterung und gleichzeitiger Bevölkerungsabnahme sind bekannt: Der Konsum geht zurück, Läden schließen und Infrastruktur wird heruntergefahren. Die Anzahl der Lebensmittelgeschäfte in Deutschland etwa nahm von 1990 bis 2010 um mehr als die Hälfte ab; zulasten kleiner Läden in dünn besiedelten Gebieten. Schon heute gibt es in Orten mit weniger als 5000 Einwohnern oft keine fußläufige Nahversorgung mehr, weil Märkte zunehmend nur noch in regionalen Zentren zu finden sind. Das hat bei weitem nicht nur Konsequenzen für den Einkauf – mit dem Einzelhandel fällt in Regionen, in denen es ohnehin wenige öffentliche Einrichtungen gibt, auch ein weiterer Ort der Begegnung weg.

Betonung auf weiterer, weil auch Treffpunkte wie Schwimmbäder im Niedergang sind: Die Anzahl der Freibäder sank zwischen 2000 und 2019 um mehr als 17 Prozent, bei den Naturbädern machte in der gleichen Zeit sogar die Hälfte dicht. Horst Seehofer kündigte im vergangenen Jahr zwar einen »Goldenen Plan« gegen das Schwimmbadsterben an, seitdem wurde aber nur jedem dritten Antrag auf Fördermittel zur Sanierung stattgegeben. In Sachsen-Anhalt waren sogar nur drei von 18 Bewerbungen erfolgreich. Dabei ist eine gute Infrastruktur während der Pandemie wichtiger denn je; denn Familien, die sich keinen Urlaub leisten können, sind auf die Freizeitangebote in ihrer Umgebung angewiesen. Die Corona-Krise könnte die Geldnot von Kommunen jetzt aber noch verschärfen – und damit den Rückbau der öffentlichen Angebote.

Ausgleich schaffen kann ein günstiger, flächendeckender Öffentlicher Verkehr, der auch abgelegene Regionen an Infrastruktur anbindet. Der Trend geht derzeit aber in eine andere Richtung: Zwischen 2000 und 2019 wurden 336 Bahnhöfe in Deutschland stillgelegt, fast immer betroffen waren Stationen im Osten und in dünn besiedelten Gegenden. Seit 1994, als die Reichsbahn der DDR in der Deutschen Bahn aufging, schrumpfte das DB-Schienennetz um mehr als 25 Prozent. Wohl auch deswegen hatten in den Flächenländern Mecklenburg-Vorpommern, Bayern und Niedersachsen 2018 knapp 21 Prozent der Bevölkerung keinen direkten Zugang zu Bus und Bahn. Wer zu jung ist oder zu alt oder einfach kein Geld für ein Auto hat, ist aufgeschmissen.

Schuldenschnitt für Kommunen könnte helfen

Dass der Bund die Grundlagen zur »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse« schaffen soll, steht im Grundgesetz – das verfassungsmäßige Ziel wird aber auf die lange Bank geschoben. Das zeigt sich noch an weiteren Beispielen: Noch immer mangelt es in ländlichen Regionen an Hausärzten, in einigen hessischen Gemeinden lag der Versorgungsgrad 2018 lediglich bei gut 60 Prozent. In Sachsen-Anhalt, wo es ähnliche Probleme gibt, wurde im Wahlkampf häufig ein Ausbau der Telemedizin angepriesen. Wie das mit der Smartphone-Nachhilfe für »Nonliner« und Ältere funktionieren soll, darüber wurde weit weniger diskutiert. Zumal ein Online-Arztbesuch ja auch flächendeckendes, schnelles Internet erfordert – womit wir bei der nächsten Großbaustelle sind.

Zwar hat die Bundesregierung seit 2015 elf Milliarden Euro für den Breitbandausbau zur Verfügung gestellt. Mit Stand Januar 2021 sind von den Mitteln aber nur 570 Millionen Euro bei entsprechenden Projekten angekommen, weil die Vergabe zu ineffizient ist. Unbürokratische Hilfe brauchen auch verschuldete Kommunen: Ein radikaler Schuldenschnitt nach Corona könnte einen weiteren Abbau öffentlicher Einrichtungen stoppen. Das würde auch dem Öffentlichen Verkehr zugutekommen: »Geht Kommunen das Geld aus, bleiben nur Angebotsreduzierungen oder Erhöhungen der Ticketpreise«, warnten in einem Brandbrief im Mai die Betriebs- und Personalräte 140 deutscher Verkehrsunternehmen.

Langfristig wird ein Schuldenschnitt aber nicht genügen – eine ökologische Mobilitätswende, die gleichzeitig den Anschluss ländlicher Regionen sichert, kann nur dann gelingen, wenn Bus und Bahn über die Grenzen von Städten und Landkreisen hinaus gedacht werden, wenn flächendeckende Verbindungen und hohe Kapazitäten geschaffen werden. Um bis 2030 die Zahl der ÖPNV-Nutzer zu verdoppeln, so ein Bündnis unter Schirmherrschaft von ver.di, müssen »jährlich für die Infrastruktur 5 Milliarden Euro und für zusätzliche Fahrzeuge 2 Milliarden Euro« angesetzt werden. Dazu brauche es bis 2030 insgesamt weitere 10 Milliarden für Modernisierung und Barrierefreiheit. Die Deutsche Bahn hat sich indes schon dazu entschieden, einige geschlossene Bahnhöfe zu reaktivieren. Auch das muss aber viel schneller gehen.

Der Heimatbericht macht eins richtig: Er zeigt Probleme auf, wenn auch beschönigend. Was konkrete Maßnahmen angeht, bleibt er leider vage: Minister Seehofer verweist im Vorwort auf den Abschlussbericht der Regierungskommission »Unser Plan für Deutschland – Gleichwertige Lebensverhältnisse überall«. In dem Papier von 2019 wurde auch auf eine Lösung des Problems mit den Altschulden gedrängt. Gekommen ist seitdem nichts. In dem Bericht wird zudem anerkannt, dass die »Schuldenbremse« einem Stadt-Land-Ausgleich irgendwie schon im Weg steht. Aber sie sei nun mal nötig, weil sie schließlich im Grundgesetz steht. Vor diesem Hintergrund lesen sich Seehofers »moderne Heimatpolitik« und seine »neuen Perspektiven« für ländliche Regionen wie eine Verhöhnung. Besonders, weil das Innenministerium ja nicht erst seit gestern von der Union geführt wird – sondern (mit einer Unterbrechung) seit 30 Jahren.

Geschrieben von:

Victor Meuche

Praktikant bei OXI

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