Wirtschaft
anders denken.

Wieso Europa so nicht funktionieren kann

Der renommierte Wissenschaftler Wolfgang Streeck über das faktische Fehlen der Opposition, die Gefahr eines harten Euro, die Wichtigkeit des Nationalstaates, eine verlogene Flüchtlingspolitik und die »Denunzierung als Sozialnationalist«.

28.05.2016
Foto: Wikipedia
Wolfgang Streeck ist einer der profiliertesten Sozialforscher Deutschlands. Von 1995 bis 2014 war er Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Mit seinem Bestseller »Die gekaufte Zeit« (2013) hat sich der inzwischen emeritierte Wissenschaftler in einer breiteren Öffentlichkeit einen Namen gemacht. Streeck kritisiert den Euro von links und setzt auf die Kraft der Nationalstaaten, um Demokratie und Sozialstaat unter anderem gegen die Macht der Finanzmärkte zu verteidigen. Er trat aus der SPD aus, der er sehr lange angehörte, weil diese den inzwischen dem rechtspopulistischen Lager zuzurechnenden Thilo Sarrazin – Bestseller: »Deutschland schafft sich ab« (2010) – nicht ausgeschlossen hat.

In Ihrem furiosen Essay »Merkels neue Kleider« beklagen Sie eine geistige Engführung zu mehreren bedeutenden Themen in Deutschland, unter anderem in der Frage der Flüchtlingspolitik, aber auch in Fragen der Wirtschafts- und Europapolitik. Gab es Reaktionen und wenn ja, welche?

Streeck: In meinem Aufsatz geht es um die von innenpolitischen Motiven getriebene extreme Flatterhaftigkeit der deutschen Politik, die, in Verbindung mit einer nahezu vollständigen Abwesenheit oppositionellen Nachfragens, die Beziehungen Deutschlands zu seinen europäischen Nachbarn zerrüttet. Des Weiteren geht es um die erstaunlich weit verbreitete Überzeugung in Deutschland, dass alle Europäer die deutschen Grundüberzeugungen über »Europa« teilen, insbesondere über die Vorteile einer harten Währung und die Verzichtbarkeit nationaler Souveränität. Ich halte dies für gefährlich – vor allem auch für »Europa« – und habe das deutlich gesagt. Die Reaktionen, die bei mir angekommen sind, waren weit überwiegend enthusiastisch. Es gab vereinzelt, etwa in der Wochenzeitung Die Zeit, die Klischee-Reaktion, die ich in meinem Aufsatz als Teil der Krankheit der deutschen Öffentlichkeit beschrieben habe: nämlich jemanden, der so etwas sagt, als Vorschubleister für die AfD beziehungsweise als Sozialnationalist zu denunzieren.

Die Leerstellen der politischen Diskurskultur

Worin besteht diese von Ihnen konstatierte Engführung?

Die Denunziation ist ihr wichtigstes Instrument. Sie soll davor schützen, auf kritische Fragen antworten zu müssen. Man glaubt, so nicht nur den eigenen Seelenfrieden beziehungsweise die eigenen Koalitionsaussichten zu verteidigen, sondern auch den demokratischen Konsens. Aber zumindest was diesen angeht, erreicht man das Gegenteil. Wer Fragen, die den meisten Leuten als Ausbund des gesunden Menschenverstands erscheinen, aus dem Verfassungsbogen ausbürgert, darf sich nicht wundern, wenn von außerhalb dieses Bogens erfolgversprechend versucht wird, sie dort einzubürgern. Ich halte die Position von »offenen Grenzen ohne Obergrenze« für eine, vorsichtig gesagt, nicht sachgerechte Idee. Dass ich deshalb als jemand dargestellt werde, der niemandem hilft und niemandem helfen will, das habe ich in meiner Naivität erstmal gar nicht glauben können. Die Regierung der »Übergroßen Koalition« hat sich an der Kürzung der UNHCR-Mittel für die Flüchtlingslager im Mittleren Osten beteiligt, ohne dafür jemals ernsthaft zur Rede gestellt zu werden. Vielleicht hat sie ihre Gründe gehabt; wir wissen es nicht. Und vielleicht hat sie auch Gründe dafür gehabt, warum sie nicht gleich anschließend pro Tag zehn Flugzeuge in die Türkei und nach Jordanien geschickt hat, um die, die es am nötigsten haben – etwa Familien, die ihren kleinen Kindern den See- und Fußweg nach Budapest nicht zumuten wollen – nach Deutschland zu holen und dort zu versorgen. Auch danach hat sie niemand gefragt.

Sie schreiben, und dieser folgende Satz gehört mit zum Kern Ihrer Ausführungen: »Hinter alldem steht ein politisches System von opaker (undurchlässiger, die Red.) Geschlossenheit, zusammengehalten durch eine Unzahl von Sprech-, Denk- und Frageverboten, verteidigt von ›allen demokratischen Kräften‹ und zu sich selbst gekommen in einem zehnjährigen Reifungsprozess als ›System Merkel‹.« Sie, Herr Streeck, als einer der klügsten Denker in diesem Land, zeichnen das Bild einer sich freiwillig gleichschaltenden formal-demokratischen Gesellschaft, wie es Verschwörungstheoretiker nicht besser könnten. Deshalb die Frage: Wenn dies wirklich so ist, warum ist es dann so? An der Kanzlerin allein kann es ja nicht liegen.

Wenn eins in meinem Artikel klar gemacht werden sollte, dann dass es an »der Kanzlerin« allein nicht liegen kann. Sie, beziehungsweise ihr Apparat, macht sich die Pathologien einer politischen Diskurskultur zunutze, die sie nicht geschaffen hat und auch nicht hätte schaffen können. Über diese Diskurskultur müsste des längeren und im Einzelnen gesprochen werden, dazu ist hier kein Platz. Nur so viel: In ihr geht es um Personen statt um Apparate, Ideen statt Interessen, um Gefühle statt Kalküle, beziehungsweise immer nur um das erste unter Ausschluss des zweiten. Wer von den Apparaten und Maschinen, den Interessen und Machtansprüchen und den Kalkülen und Berechnungen spricht, die hinter den Personen, Gefühlen und Ideen stehen und sich ihrer bedienen, verdirbt die Weihestimmung. Man hat aber in der Demokratie vor allem auch deshalb eine Opposition, damit sie genau das tut und mit kritischen Nachfragen die Themen und Motive offenlegt, die hinter und unter dem offiziellen Weihrauch verborgen bleiben sollen.

Man hat in der Demokratie vor allem deshalb eine Opposition, damit sie mit kritischen Nachfragen die Themen und Motive offenlegt, die hinter dem offiziellen Weihrauch verborgen bleiben sollen.

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Dies ist auch eine primäre Aufgabe unabhängiger Intellektueller. Die sollen sich eben nicht als Messdiener an irgendwelchen politischen Hochämtern beteiligen. Freizulegen gibt es immer etwas. Nicht jede Vermutung muss stimmen, und manchmal gerät die Sprache ruppig und verletzend. Das zu korrigieren ist die Aufgabe demokratischer Öffentlichkeit: das kollektive Sortieren von richtig und falsch. Dazu gibt es die Freiheit der Rede und der Presse mitsamt dem von der Verfassung geschützten Recht, innerhalb weiter Grenzen auch über die Stränge zu schlagen. So, und nur so, werden gefährliche kollektive Sentimentalisierungsschleifen gebrochen und wird pathologisches, nur noch auf Selbstbestätigung gerichtetes Lernen überwunden. Wenn jeder, der sich öffentlich äußert, als erstes darauf bedacht sein muss, sich gegenüber selbsternannten Verwaltern der »Lehren der Geschichte« keine Blöße zu geben, dann wird es mit Demokratie und Öffentlichkeit nichts. Und niemand merkt, dass genau das auch eine »Lehre der Geschichte« ist.

Eckpunkte einer aufklärerischen Flüchtlingspolitik

Sie kritisieren die herrschende Flüchtlingspolitik und beklagen, dass Kritiker schnell in die rechte Ecke gestellt würden. Wie beschreiben Sie aus Ihrer Sicht Eckpunkte einer aufklärerischen und zugleich realistischen und europagemäßen aktuellen Flüchtlingspolitik?

Am wichtigsten wäre, wirtschaftliche Interessen und humanitäre Pflichten auseinander zu halten. Ich beginne mit den humanitären Pflichten. Die von mir oben beschriebene Luftbrücke für die Schwächsten und Bedürftigsten wäre nur der Anfang. Der nächste Schritt wäre der Aufbau von Hospitälern, Schulen, Kleinunternehmen in den Flüchtlingslagern der Region. Ein Projekt, das nur von vielen reichen Ländern gemeinsam gemeistert werden könnte. Dann käme das Austrocknen der Schlepperindustrie, mit deren Hilfe ohnehin nur die Mittelschichten der betroffenen Gesellschaften nach Europa kommen; alle anderen können sich die Reise nicht leisten. Als nächstes müssten die demokratischen Staaten ihre stillschweigende Kollaboration mit Gewaltherrschern aller Art beenden. Die versuchen bekanntlich, ihre verarmende Überschussbevölkerung als Flüchtlinge loszuwerden, um auf diese Weise leichteres Spiel zu haben. Es wäre zudem eine humanitäre Pflicht, die sinnlosen Bombenkampagnen aktiv zu verurteilen, mit denen unsere Verbündeten aus irgendwelchen frivolen Gründen die staatlichen Strukturen im Nahen Osten und anderswo zerschlagen. Nicht selten ist das mit der Erwartung verbunden, dass die davon ausgelösten Flüchtlingswellen von »Europa«, in Gestalt von Deutschland, absorbiert werden – was im Ergebnis auch auf Beihilfe hinausläuft.

Wie beschreiben Sie in diesem Zusammenhang die deutschen Wirtschaftsinteressen?

Die ergeben sich aus dem Umstand, dass wir in Deutschland, wie Meinhard Miegel es formuliert hat, in einem »unfruchtbaren Biotop« leben – jedenfalls in einem, das nicht die Kinderzahlen hervorbringt, die man zu brauchen glaubt, um die absehbare Nachfrage am Arbeitsmarkt in Zukunft zu befriedigen und die zur Finanzierung des Umlagesystems der Rentenversicherung erforderlichen Beiträge zusammenzubekommen. Man kann dazu stehen, wie man will – sicher ist aber, die Bundesregierung und die sie beratenden Ökonomen gehen davon aus, dass wir in den nächsten 20 Jahren pro Jahr rund 500.000 Einwanderer »brauchen«. Dass dabei durchaus auch finstere Hoffnungen auf Lohndrückerei und Unterminierung des Mindestlohns mitspielen, muss man wohl nicht extra betonen. Ziel ist, die Arbeitskräfte dahin kommen zu lassen, wo die Arbeitsplätze sind (oder angeblich sein werden), anstatt dass die Arbeitsplätze dahin gehen sollen, wo die Arbeitskräfte sind, was bekanntlich früher einmal das leitende Prinzip innerstaatlicher Regionalpolitik war. Einwanderung in dieser Größenordnung und mit dem Risiko einer ganz anderen Arbeitsmarktlage in zehn Jahren mag geboten sein oder auch nicht – jedenfalls hat sie mit humanitärer Pflichterfüllung überhaupt nichts zu tun. Begründet werden müsste sie politisch, nicht als Rechtspflicht und moralische Bewährungsprobe, von der man wissen kann, dass ein Gutteil der Bevölkerung sie nicht bestehen kann, weil sie ihre eigenen Interessen in Gefahr sehen wird. Vermeiden ließe sich dies nur durch eine offene und kontroverse Diskussion des wirtschaftlichen Für und Wider von Masseneinwanderung. Übrigens mag das vampiristische Absaugen von qualifizierten Arbeitskräften aus anderen Regionen ein deutsches Interesse sein – ein gesamt- oder allgemeineuropäisches ist es aber sicher nicht. Länder mit hoher Arbeitslosigkeit und sogenannten »Strukturproblemen« brauchen alles andere als das, und Länder mit hohen Geburtenraten, wie Polen, brauchen es sowieso nicht. Wer solche Länder dann ausgerechnet von Deutschland aus als Heimstatt fremdenfeindlicher Nationalisten und Rassisten beschimpft, vielleicht um die Hinnahme verstärkter Einwanderung im eigenen Land als nationale Pflicht erscheinen zu lassen, darf sich nicht wundern, wenn andere in einem »Europa« dieser Art nicht mehr mitspielen wollen.

Mehr Europa – eine Illusion?

Jürgen Habermas sieht eine Lösung der europäischen Krise in einem Mehr an Europa. Sie halten das für illusionär. Was sind Ihre Gegenargumente?

Vereinfacht gesagt: Niemand außer den Deutschen beziehungsweise der – schrumpfenden – Habermas-Gemeinde in Deutschland will das wirklich. (Übrigens, apropos »Mehr an Europa«: Europa ist ein (Halb-) Kontinent mit einer, nach meiner Rechnung, ziemlich genau zweitausendjährigen Geschichte. Von diesem Europa kann jedenfalls ich gar nicht genug bekommen. Diejenigen, die heute nach »mehr Europa« verlangen, meinen aber etwas anderes: nämlich mehr Macht für die Brüsseler Schulz-und-Juncker-Konstruktion eines nicht-demokratischen Nicht-Staats ohne demos, oder populus, oder Volk, wie Sie wollen. Da muss ich doch bitten, die beiden nicht gleichzusetzen.) Zunächst einmal gilt: jedes Land stellt sich unter »mehr Europa« etwas anderes vor, je nach nationalen Erfahrungen und Interessen, und kann das auch, weil jede Diskussion über das Endziel der europäischen Integration unter deren Betreibern peinlichst vermieden wird – wohlweislich, weil andernfalls der Laden sofort auseinanderfliegen würde. (Das ist übrigens der Grund, warum die hochinteressante britische Diskussion über In oder Out bei uns durch die Bank lächerlich gemacht wird: man will sich den dabei behandelten Fragen nicht stellen, weil man auf sie keine Antwort hat.) So sind beispielsweise die kleinen Länder Mitglied in der EU, weil sie darin den sichersten Weg sehen, um ihre nationale Unabhängigkeit zu erhalten: die Dänen gegenüber Deutschland, die Balten gegenüber Russland, die Iren gegenüber Großbritannien und so weiter. Die Engländer sind wiederum in der EU, um deren Zusammenwachsen zu einem einheitlichen Gebilde zu unterbinden, entsprechend ihrer jahrhundertealten Politik der Verhinderung eines »Continental unifier«; die Franzosen, um über die Einbindung Deutschlands in die französische Politik diese auf Europa insgesamt erstrecken zu können; die Deutschen ursprünglich, um durch Überführung ihrer historisch belasteten Identität in eine vorgestellte »europäische« wieder Eintritt in den Kreis der zivilisierten Nationen zu erhalten, und heute, um ihre ethnozentrisch-idiosynkratischen Selbstverständlichkeiten (»Stabilitätskultur«, »Willkommenskultur«, Abschaffung der Nationen) als europäische ausleben und durchsetzen zu können (was aber eine Illusion ist). Wohin das führen soll, weiß kein Mensch.

Die europäischen Staaten haben in den letzten Jahre gelernt, dass weniger nationale Souveränität für alle mehr supranationale Souveränität für Deutschland bedeutet.

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Rhetorisch wird seit kurzem allgemein beteuert, dass das Ziel nicht ein »europäischer Superstaat« sein soll; selbst Habermas will ihn nicht, verlangt allerdings von »Europa« trotzdem, dass es »demokratisch« sein und überdies den Kapitalismus domestizieren soll. Wie? Schulterzucken. Wenn aber kein »Superstaat« kommen soll, muss man dann nicht die Nationalstaaten behalten und, siehe TTIP etc., sogar stärken? Schulterzucken. Wie kann man gegen den Superstaat sein und zugleich gegen die Nationalstaaten? Ich behaupte, das läuft im Ergebnis auf ein neoliberales Programm zur Trennung von Kapitalismus und Demokratie hinaus, beziehungsweise zur Freistellung des ersteren von letzterer. (Unter bestimmten Annahmen kann man sowas anscheinend sogar als »links« ausgeben.) Wenn das das »Mehr an Europa« ist, dann vielen Dank. Kann es mehr Mehr geben? Das sehe ich nicht, zumal alle europäischen Staaten aus den Erfahrungen der letzten Jahre mit dem Euro und der Flüchtlingskrise gelernt haben, dass weniger nationale Souveränität für alle mehr supranationale Souveränität für Deutschland bedeuten würde.

Auswege aus der Euro-Krise

Sie sehen in der Euro-Währung ein Problem, keine Lösung. Warum? Und was wollen Sie?

Die Sache ist eigentlich ganz einfach: Die Mittelmeerländer können, solange sie im Euro sind, wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig kommen. Das wird Europa politisch spalten, wenn sich nicht bald Grundlegendes ändert. Wegen ihrer Wirtschafts- und Sozialstruktur – also wegen ihrer politischen Ökonomie – brauchen die Länder im Mittelmeerraum eine weiche Währung. Der Euro aber ist eine harte Währung. Die passt zu einer hochindustrialisierten Exportwirtschaft wie der deutschen. Die modernisierungsorientierten Eliten der Mittelmeerländer, einschließlich Frankreichs, wollten den Euro so wie er ist, weil sie hofften, mit ihm ihre Gesellschaften, die sie als rückständig definieren, umkrempeln und nach neoliberalem Vorbild modernisieren zu können. Das ist – wahrscheinlich – gescheitert. Heute wollen sie eher den Euro aufweichen als ihre Gesellschaften neoliberal »härten«; auch das geht aber nicht, da sind die Deutschen und ihre Verbündeten im Weg, die auf ihre »Stabilitätskultur« nicht verzichten können, weil ihre – relative und ohnehin schwindende – Prosperität von dieser abhängt. Hilfsweise sollen es Schuldenerlasse, »Marshall-Pläne«, Junckersche »Investitionsprogramme« (schon vergessen? zu Recht!) richten – aber im Vergleich zu den Existenzproblemen von innen her inflationärer Volkswirtschaften unter einem harten Geldregime sind das alles Peanuts. Die politischen Folgen sind fatal: was immer an internen Umverteilungsprogrammen beschlossen werden wird, auch heimlich über die EZB oder den ESF, wird für die Empfängerländer zu wenig sein und für die Steuerzahler der Geberländer zu viel – und was immer den Geberländern von den Empfängerländern an Kontrolle über die Verwendung ihrer Zuwendungen zugestanden werden wird, wird für die Empfänger zu viel und für die Geber zu wenig sein. Siehe Griechenland – wo die Rettungsmilliarden ja ohnehin nicht an die Griechen gehen, sondern an die Banken, die ihnen bedenkenlos Kredite verkauft haben.

Sie schreiben in Ihrem Essay, der Euro sauge den anderen EU-Staaten »im Interesse der deutschen Handelsbilanz das ökonomische Blut aus«. Wie sehr schadet die deutsche Wirtschaftsstrategie Europa, die ja nicht nur eine hohe Exportquote, sondern dezidiert möglichst hohe Exportüberschüsse erzielen will?

Es handelt sich nicht um eine »Strategie«. Die jährlichen Überschüsse sind ein rechnerischer Saldo zwischen dem, was Deutsche ins Ausland verkaufen, und dem, was sie im Ausland einkaufen, und zwar zum jeweiligen Wechselkurs. (Sie werden sofort größer oder kleiner, wenn die Währung, in der sie bewertet werden, ab- oder aufgewertet wird.) Sie sitzen auch nicht in irgendeinem Staatshaushalt oder im Keller der Bundesbank, griffbereit für solidarische internationale Umverteilung; das Spiel, das hier gespielt wird, heißt Kapitalismus, nicht staatliches Außenhandelsmonopol plus Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dass Deutschland »Exportweltmeister« ist, liegt daran, dass es gemessen an seiner Größe überindustrialisiert und seine Währung, der Euro, unterbewertet ist (und zwar wegen der anderen Struktur und geringeren »Wettbewerbsfähigkeit« der übrigen, ebenfalls mit dem Euro arbeitenden Länder und, neuerdings, auch wegen der Geldpolitik der EZB).

Was müsste Deutschland anders machen?

Der industrielle Sektor, der in sehr hohem Maße exportorientiert ist, ist in Deutschland immer noch der wichtigste und vor allem der beste Arbeitgeber. Ohne Exporte entfielen etwa 70 Prozent der Arbeitsplätze in der deutschen Autoindustrie. Dies macht die Gewerkschaften zu begeisterten Anhängern dessen, was Sie »die deutsche Wirtschaftsstrategie« nennen. Hinzu kommt, dass industrielle Arbeitsplätze, anders als die Mehrheit der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, leicht zu verlagern sind. Die deutschen Arbeitgeber können jede Schwächung ihrer »Wettbewerbsfähigkeit«, genauer gesagt: ihrer Profitfähigkeit, jederzeit ausgleichen, indem sie Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Schon die bloße Drohung reicht, um Belegschaften und Betriebsräte, wenn sie zu hohe Löhne fordern, »zur Vernunft zu bringen«. Deshalb ist die Forderung mancher Linker, einschließlich mancher Gewerkschafter und Politiker im europäischen Ausland, die deutschen Gewerkschaften sollten im Namen der »europäischen Idee« beziehungsweise der internationalen Solidarität die Löhne ihrer Mitglieder so stark erhöhen, dass die deutsche Industrie Exportmärkte einbüßt, völlig absurd. Stattdessen müsste das Wechselkursregime geändert werden, das in der EWU (Europäischen Währungsunion, red.) auf einen verschärften Goldstandard hinausläuft. Sobald die deutsche Währung (und die Währungen der Mitgliedsländer der EWU) wieder einigermaßen realistisch bewertet werden können – und das geht nur durch Aufspaltung des Euro und dauerhaft anpassbare Wechselkurse – löst sich das Problem der deutschen Exportüberschüsse von selbst.

Die Mittelmeerländer können, solange sie im Euro sind, wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig kommen.

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Natürlich wäre das nicht das Ende aller Probleme. Schließlich leben wir in der Niedergangsphase des Hochkapitalismus – mit säkularer Stagnation, steigender Ungleichheit und explodierender Verschuldung überall, nicht nur in Europa oder im Euroland. Aber die europäischen Länder, die heute als ökonomisch schwächer gelten, hätten dann immerhin ein wichtiges Instrument mehr in der Hand, um sich ökonomisch selbst zu verteidigen: Sie hätten wieder ihre eigene Währung, sie wären monetär wieder souverän. Und wären nicht mehr auf deutsche Interessenverzichte oder gar deutsche Barmherzigkeit angewiesen, die es in der wirklichen Welt nicht geben kann, jedenfalls nicht annähernd im erforderlichen Ausmaß.

Europa ohne Alternativen?

An welche europäische Idee glauben Sie?

Von Glauben halte ich nicht viel, stattdessen hoffe ich manchmal das eine oder andere, wenn auch möglichst durch Realismus diszipliniert. Was Europa angeht, so hoffe ich, dass die von der deutschen Politik wesentlich verschuldete, in vielen europäischen Ländern verbreitete Vorstellung, dass der Klassenkampf heute zwischen den europäischen Völkern und Deutschland ausgetragen werden muss, und nicht mehr zwischen Lohn- und Profitabhängigen, bald auf dem Misthaufen der europäischen Albtraumgeschichte landet.

Seit Sie nicht mehr an den Euro und die herrschende europäische Idee ohne Wenn und Aber glauben, fühlen Sie sich seither ausgegrenzt?

Nicht in Italien, Frankreich, Dänemark, Holland, England, im Gegenteil. Auch weil in diesen Ländern die Engführung der öffentlichen Diskussion aufgrund moralisch aufdringlicher politischer Tabus weniger ausgeprägt ist als im Vaterland des »herrschaftsfreien Diskurses«. Was Deutschland angeht, so nervt es tatsächlich, wenn man sich bei der morgendlichen Zeitungslektüre unvermutet unter anderem als »nationaler Sozialist« an den Pranger gestellt findet, von Leuten, die so ahnungslos wie bösartig sind. Ansonsten, auch wenn es etwas anspruchsvoll klingt: Wer Hitze nicht vertragen kann, soll sich aus der Küche machen, so eine amerikanische Redensart. Und wer sich, zumal als Nicht-Politiker, an der öffentlichen Diskussion beteiligt, sollte dies nicht tun, um Freunde zu gewinnen, sondern muss im Gegenteil, wenn es nicht anders geht, bereit sein, Freunde zu verlieren.

Sie haben einflussreiche Personen beraten, auch der frühere IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber gehörte dazu. Vor allem haben Sie zu Beginn der Ära von Kanzler Gerhard Schröder an bedeutender Stelle im Kanzleramt mitgearbeitet, den Arbeitsmarkt umzubauen. Ihnen wird heute hinter vorgehaltener Hand auch vorgeworfen, Sie wollten mit Ihrer jetzigen Altersradikalität das wieder gut machen, was Sie früher in der Nähe der Einflussreichen mitgemacht haben.

Ich möchte Ihre Aussagen darüber, mit wem ich wann über was an welcher »bedeutenden Stelle« gesprochen habe, weder bestätigen noch dementieren. Ich war mein Leben lang und bin noch heute ein Anhänger starker Gewerkschaften. Deren gegenwärtige Schwäche übersetzt sich für mich in eine gefährliche Schwäche der Demokratie. Wenn jemand in den Gewerkschaften sich dafür interessiert, was meiner Meinung nach realistischerweise dagegen getan werden kann, stehe ich zur Verfügung – im schlimmsten Fall, um meine Ratlosigkeit zu erklären. Auch habe ich einen guten Teil meiner wissenschaftlichen Arbeit damit verbracht, über Möglichkeiten einer sozialdemokratischen Lösung oder doch Bearbeitung der Klassenkonflikte in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften nachzudenken. Dazu gehörte auch »angewandte« Forschung, etwa über Lohn- und Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik und berufliche Bildung, für die mich zu schämen ich nicht den geringsten Grund sehe. Auch an der britischen Diskussion über den »Dritten Weg« war ich beteiligt, in der Einschätzung, dass das vielleicht die letzte Möglichkeit sein könnte, die Sozialdemokratie regierungsfähig zu halten. Anfang der 2000er Jahre zeigte sich jedoch, dass das ein Irrtum war und die Liberalisierungstendenzen des finanzialisierten Kapitalismus zu eigensinnig waren, als dass man als Sozialdemokratie auf ihnen hätte reiten können. Insbesondere die Finanzkrise hat mir dann endgültig die Augen dafür geöffnet, dass eine »radikalere« Perspektive vonnöten ist, also eine, die auf die kapitalistischen Wurzeln geht. Heute denke ich, dass die sozialdemokratische Wette, auf die ich lange gesetzt habe, verloren ist. Mit »Alter«, wie Sie zu vermuten scheinen, hat das nichts zu tun, wohl aber mit erlebter Zeit und erfahrener Geschichte. Davon abgesehen wollen Sie mir bitte glauben, dass ich persönlich noch immer ganz gut drauf bin.

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